Schwarz Violett (Teil 2)

Josef Zorn
121 min readJan 14, 2021

(Unveröffentlichter Roman von Josef Zorn, 2012)

lektoriert von Esther Brandl

Kapitel — Flucht Zwei

Man stelle sich ein Geschäft vor mit einladenden Schaufenstern, bunter Dekoration und alles in allem bezaubernd ausgeleuchtet. Man steht vor den Schiebetüren, die sogleich mit einem Zurren Einlass schenken sollten, doch muss auf einem gigantischen Schild lesen: „Geschlossen“ Man beugt sich zur Seite um ins Innere des Geschäfts zu kucken und was ist zu sehen? Heiteres Treiben, das Geschäft ist gesteckt voll. Käufer und Verkäufer umtanzen sich gegenseitig und alles suhlt sich im glitzernden Konsum. Wunderschön. Dennoch steht man selbst vor verschlossenen Türen. Was tun? Einfach hinnehmen was einem unverschämt enthalten wird oder verschafft man sich gewaltsam Eintritt?

Solches und vielleicht Dümmeres geht einem durch den Kopf. Metaphern, die meine Zustände angemessen beschreiben könnten, doch scheitere ich an vergleichbaren Situationen. Niemand hat jemals etwas annähernd Ähnliches erlebt wie ich. Meine zweite Packung Erdnüsse, obwohl die erste mir schon den Mund ausgetrocknet hat und die Nahtstellen meiner Lippen ätzend einsalzt. Ich kann es nicht leiden wie die Leute mich jetzt ansehen. Das mir seit kurzer Zeit entgegengeschissene Mitleid ist sehr verletzend. Sicherlich ohne Intention, aber ich wende mich jedes Mal von den traurig schnurrenden Augen ab. Das Warten auf den Moment in dem sich das Flugzeug in Bewegung setzt und endlich abhebt stimmt mich nachdenklich und leicht gereizt. Die alte Welt ist nur mehr vierzehn Stunden entfernt. Die Menschen, auf die ich hier getroffen bin werde ich niemals vergessen, niemals. Meine Hand zittert leicht. Das alles ist passiert. Die unergründlichen Wege der Absurdität haben mich entgegen aller Vermutungen auf diesen Flugzeugsitz geführt. Don Jorge, um genau zu sein. Nun ist meine Mutter nicht mehr die einzige, die mir das Leben geschenkt hat. Wenn auch Don Jorge mich nicht in stundenlanger Pein durch eine Körperöffnung pressen musste und seine Rolle des Erretters unbeabsichtigt kam.

Ich erwachte aus einer weiteren komatösen Ohnmacht und das Zimmer der Verdammnis stand zu meiner Überraschung noch auf dessen vier Wänden. Ich musste erst Schleim und Blut husten und meine Augen auswischen, bevor ich meiner ununterbrochenen Existenz gewahr wurde. Nur das Lämpchen am zerbrochenen Waschbecken war tatsächlich ausgebrannt. Doch ich konnte verschwommen sehen. Irgendwo musste also Licht einfallen. Bevor ich mir über die Quelle im Klaren wurde roch ich den Urin an mir. Mein kynophober Fieberwahn schien derart überzeugend gewesen zu sein. Diese Todesnähe hatte im höchsten Moment der Wahnvorstellung, die des begraben Werdens, so schrecklich diese auch gewesen sein musste, ein Gefühl von Erlösung injiziert. Daher wohl auch der kleine Unfall. Den Hundebiss in die Kehle konnte ich dann auch in der Logik des Irrsinns rückverfolgen. An der heißen, vereiterten Blutsoße die mir langsam aus den Zahnfleisch- und Kieferwunden in den Rachen geronnen war, wäre ich beinahe erstickt und es waren meine eigenen Hände gewesen, die mich im Überlebensreflex würgten. Die linke Gesichtshälfte zog Fäden, blutiges Erbrochenes hin zum stinkenden Betonboden neben mir.

Dann sah ich ihn im Türstock stehen oder besser gesagt schneckengleich vorwärts schlurfen. Silhouetten eines alten Mannes, klein und gebückt, hinter ihm der Weg in die Freiheit. Eine offene Tür. Doch ich fühlte mich wie vor dem geschlossenen Geschäft, in dem sich die exklusiven Leute tummeln. Ich war außerstande mir selber klarzumachen, dass ich nun gehen könnte, als ob immer noch ein inneres Verbot für mich bestünde. Er fragte wer da sei, und vieles, dass ich nicht verstand. Allzu verwirrt reagierte er nicht auf den besudelten nackten Europäer, der inmitten eines Zimmers voller kaputter Einrichtung und Hundescheiße lag. Er tapste an der Wand entlang als ob er einen Lichtschalter suchen würde, doch bewegte sich langsam auf die Stelle zu, an der das Waschbecken befestigt gewesen war und noch leises gurgeln und der abgerissenen Leitungen zu hören war. Er schien alles abzutasten, die verbogenen Rohre und den Wasserschaden am Boden. Jener hatte sich schon zu einem beachtlichen Fleck ausgeweitet. Leise fluchte er vor sich hin in der dunklen Ecke, nicht allzu glücklich über die Scherben und den Wasserstau am Betonboden. Als Zeichen meiner Bereitschaft gerettet zu werde, warf ich meine Pistolenattrappe zur Seite und versuchte mich aufzusetzen. Mit einer unerwarteten Panik fuhr er herum und begann irgendwas zu schreien. In der hektischen Rückwärtsbewegung fiel er beinahe über die zertrümmerten Keramikteile der Waschmuschel. Ich konnte nur ein Röcheln hervorbringen, welches vielleicht entfernt nach „por favor“ klang. Der Herr blieb beunruhigt. Etwas leiser und besorgt beschwichtigend tat er einige Schritte auf mich zu. Ein weiterer meiner Hustenanfälle folgte und meine vertrockneten Lungen spuckten Blut. „Que tal?“ Gute Frage. Obwohl ich mich genau im Lichtkegel der offenen Türe befand schien er mich immer noch nicht ganz ausgemacht zu haben. Erst als er meine ausgestreckte Hand erfasste, beugte sich sein Kopf zu mir hinunter. Erneute Nachfrage meiner Befindlichkeit konnte ich nur mit Schnaufen und Stöhnen beantworten. Dieser kleine Mann half mir sofort auf die Beine und das mit einer nicht erahnten Kraft. Vor Dankbarkeit wurde ich noch schwächer und wollte weinen, doch da hatte er mich schon auf seine Schulter gestemmt, stets seine Fragen und etwaigen Verwunderungen murmelnd. Don Jorge stellte sich mir auf die Schulter klopfend vor. Den Namen Hannes zu formulieren war nur teils möglich, da die Aussprache des S-Lauts ohne meine Vorderzähne stark beeinträchtigt war. So verließ ich hinkend doch noch mein Kurzzeitgefängnis und fühlte auch, dass ich etwas darin zurückließ. Zu jenem Zeitpunkt sprudelte ein derart potenter Endorphin-Cocktail des Überlebens durch mein System, dass ich furchtbar high war. So erwartete ich halb unbewusst, jede Sekunde aus einem Traum hochzuschrecken. Draußen dachte ich taub vor Freude an nichts mehr und erfüllt von instinktiver Euphorie, wie es ein freigelassenes Tier wohl fühlen muss, erhielt dieses Konzept von Freiheit ganz neuen Sinn. Mich hatte der Gedanke wie die andere Seite der Tür wohl aussehen mag beinahe in den Wahnsinn getrieben. Da war er nun der Korridor, der schäbig verbaute graue Gang eines Ghettowohnblocks. Mit schummrigen Blicken sah ich mich verzaubert um wie ein Kleinkind in einer wundervoll blinkenden Videospielhalle Gottes. Jede Bruchstelle an der Decke und jeder aufgerissene Estrich an dem Don Jorge und ich andächtig vorbeizogen empfing mich liebevoll zurück. Ich hatte die Welt schon arg vermisst. Ich musste einen letzten Blick zurück in den elendigen Raum des Wahnsinns werfen. Im letzten Moment sah ich noch aus dem Augenwinkel Dinetti genau an der Stelle stehen an der ich kurz davor noch halbtot gelegen hatte. Er trug eine Postmannmütze unter der wirres rotgelocktes Haar hervorquoll und in einen dichten Vollbart mündete. Sein massiver, runder Schädel wurde von einem Lächeln dominiert, und er winkte mir zum Abschied zu. Soweit ich mich erinnere, war meine Antwort auf Dinettis schief gelegten Kopf und seine bettelnden Augen ein stummes Wegdrehen und ein schwacher Versuch meinen fiebrigen Schritt zu beschleunigen. Geschiedene Leute, wie man so schön sagt.

Man will etwas so sehr, vergeht daran, etwas so Banales wie das Verlassen eines Ortes. Dann gibt man auf. Man lässt es geschehen, will nur noch, dass es endet. Meine morbiden, mit dem Leben abschließenden Gedanken hallen noch immer schreiend im Kopf. Und dann plötzlich, genau wenn man sich dem Nichts übergeben will, wird man gerettet. Das verdaut man nicht so schnell. Das wird tatsächlich nie verarbeitet werden. Jetzt höre ich die Turbinen des Flugzeugs aufheulen. Die Nervosität, die dieses Geräusch üblicherweise bei mir auslöst, bleibt aus. Ob sich so Meditation anfühlt? Alles ist klarer, fokussiert, nicht unbedingt schöner, doch sinnvoller. Alle Zusammenhänge dieses Universums und die meiner kleinen Funkenexistenz darin tanzen offengelegt vor mir wie die Schnüre von Marionetten. Ich könnte durch die Türen bis ins Cockpit blicken wenn ich wollte. Dass meine Rettung vor der Eventualität zu sterben zu einer Art von neu gewonnener Lebensfreude geführt hätte, könnte ich keineswegs behaupten. Kein Verlangen meinen Sitznachbarn hier um den Hals zu fallen oder die Stewardess mit meinem übermenschlichen Grinsen zu erschrecken. Um ehrlich zu sein kommen die alt bekannten Gefühle der Ablehnung gegenüber Menschen oder einer bestimmten Sorte von Menschen wieder zum Vorschein.

Der Mann heißt Jotar Kern. Auf diese Bekanntmachung hin konnte er nicht anders als einen monosynapthischen sprich unwillkürlich-reflexartigen Scherz anzufügen.

„Ich bin wohl der Kern der Sache.“

Weil er das brav gemacht hat, bekommt er einen erhobenen Daumen von mir und ein verzweifeltes Halsrecken in Richtung der dicken Flugbegleitung. Es mag wohl offensichtlich geworden sein, dass ich mich nun so schnell wie möglich betrinken muss. Jotars Humor ist nämlich als solcher nicht erkennbar. Es ist getarnte Folter. Er kichernd ständig und scheint sich auf primitive Wortwitze, sowie bizarre banale Nichtigkeiten spezialisiert zu haben. Diese werden breitgetreten, bis jeder hier an meiner Stelle einen Absturz herbeibeten würde. Gut, im Prinzip ist Banales nicht als negativ zu werten, das Lustigste dieser Welt ist nun mal banal, doch beweist dieser traurige Mann in keinster Weise komödiantisches Geschick, und es gibt doch wahrhaftig nichts Traurigeres als klägliche Versuche jemanden zum Lachen zu bringen. Der unwissend armselige Jotar ist dennoch seines Könnens überzeugt und verdient deshalb mein Mitleid nicht. Sein Erscheinungsbild passt zunächst einmal nicht zu seinem anmaßenden Gebärden, die ich Großteils mithilfe meines Flugmagazins zu verdecken also in weiterer Folge zu ignorieren versuche. Doch dieser große rheinische Blonde mit den gebleichten Zähnen und der Armani-Krawatte schießt mir weiter unangenehm ins Blickfeld wie ein aufblendender Wagen auf der Autobahn. Höchstwahrscheinlich in einer höheren Position in seiner Firma, und gewöhnt an höfliches Gelächter, sprich Arschkriechen. Ob ich wegen meines Zustands gezwungene Nettigkeit in ihm hervorrufe? Will der spaßende Jotar vielleicht einen neuen Freund machen oder ist sehe ich gerade sein Grund-Setting im Umgang mit Wildfremden? Der erste, lang erwartete Gin Tonic ist da. Danke, mein Engel.

Auf den Treppen konnte meinen Blick nicht abwenden von Don Jorge. In meiner posttraumatischen Euphorie faszinierte mich jene in seinem Gesicht vergrabene, nichtexistente Sehkraft. Ob Handschuhe für einen Blinden sinngemäß das gleiche bedeuten mögen wie für unsereins Oropax. Durch einen leeren Türstock kamen wir in einen kleinen Raum, den er abtatete und mir auf einem mit weiß Gott was gefüllten Sackbezug Platz zum Niederlegen schuf. Um allzu viel unterschied sich Don Jorges Einzimmerwohnung nicht von meinem verdammten Hundegrab. Das kleine Fenster machte aber den großen Unterschied. Ich konnte deutlich die Straßengeräusche und Menschengewühl hören, eine normalerweise unangenehme Nebensächlichkeit, die mich noch nie so glücklich gestimmt hatte wie zu jenem Zeitpunkt. Rigipsplatten unterteilten Jorges kleines Reich der Armut in winzige Bienenwaben, wo Wegwerfmenschen wie er ihre kurzen Leben fristen. Gelbe Tapeten und Wasserflecken, die ich wohl verursacht hatte, stimmten mich schüchtern und etwas reuig. Die komplette Einrichtung bestand aus einer elektrischen Kochplatte und zwei Plastiktüten, eine für Kleidung und die andere für Lebensmittel oder dergleichen. Dieser arme Mann hatte nicht einmal annähernd einen Existenzstandard und überschrieb mir trotzdem gestisch seinen gesamten Lebensraum. Sein Bett war einfach eine uralte Turnmatte, erhöht und eben mit jener eigenartig kieseligen Leinensackdecke überzogen. Jenes Ruhebett opferte er mir als erstes. Auch murmelte er durchgehend beruhigende Floskeln, die in ihrer Essenz so offensichtlich wohlwollend waren, dass ich keine genaue Übersetzung benötigte. Während Don Jorge begann mich auf Verletzungen abzutasten starrte ich an die Wand mir gegenüber, wo ein kleines Kruzifix hing. Ein Mönchszelle oder wie das heißt, dachte ich bei mir und hielt den Atem an, als seine verdrehten und von der Anstrengung zitternden Finger mein Gesicht erreichten. Der Schmerz, den die Berührung meiner Wunde, entfachte neue Ängste und Gefühle der Bedrängnis. Meine Panik, nun dort anstatt einen Stock höher an Infektionen zu sterben, trieb mir Tränen in die Augen. Don Jorge entwich ein kleiner zurückschreckender Fluch durch seine dezimierten gelben Zähne. Auch in blinden Augen kann man Wut erkennen. Nicht ich sondern meine Verunstaltungen ärgerten ihn. Wer weiß, vielleicht kannte Jorge meine Entführer und hatte ähnliches nicht zum ersten Mal erlebt. Er wusch mich mit einem Alkohol getränkten Lappen und rieb meine brennende Haut mit einem Zweiten trocken. Die klaren Eindrücke wurden sporadisch und immer weniger vertrauenswürdig, da ich von Don Jorge an jenem ersten Tag mit einer Menge dubioser Tabletten gefüttert wurde. Bald spielten das Mönchszimmer und meine befriedete Traumwelt Fangen. Es mischten sich keine Alp- oder Fieberträume mehr hinzu. Die Sonne bewegte sich in Zeitraffer, wie ein Flugzeug in weiter Ferne von Osten nach Westen. Fraglich wo die Medikamente her waren oder wie Don Jorge zu ihnen gekommen war. Glücklicherweise dürften Antibiotika darunter gewesen sein, denn sie wirkten. In der Nacht konnte ich stehen und urinierte mit gewissem Stolz in einen Eimer im Stiegenhaus anstatt mich hoffnungslos selbst zu besudeln. Ich sah bei meiner Rückkehr, dass der winzige, gebückte und trotzdem stolze Don Jorge an meinem Fußende in seine Daunenjacke gewickelt schnarchte. Der Raum wurde durch Mondlicht erhellt. Dass ich weinte, merkte ich erst als die ersten Tränen an meine Oberschenkel schlugen. Da war ich nun zurück, unfähig meine Dankbarkeit zu kommunizieren oder irgendwie annähernd dem Anlass gerecht auszudrücken. Ein Retter ohne Furcht und Tadel lag wie ein Haustier in der Ecke. Ich atmete die Brisen der Freiheit ein, durch ein bullaugengroßes Fenster, in jenem Räumchen zu niedrig um gerade aufrecht zu stehen. Kein Spiegel und kein Dinetti. Bei dem Versuch Don Jorge in das Schlaflager zu heben, fuhr er krächzend aus seinem Schlaf. Ich konnte ihn hustend und blökend an meine Präsenz erinnern und er winkte mich ab. Der kühne Mönch, der Ritter aus besseren Zeiten, richtete sich die Jacke wieder auf den Schultern und schlief frech zurückmurrend am gleichen Platz weiter. Da wurde ich mir auch meiner Nacktheit bewusst. Scham. Schwarz Violett. Und so vergoss ein nackter Neugeborener im Licht des Mondes seinen ersten Tränen um eine verloren geglaubte Menschlichkeit.

Neben mir am Fensterplatz buckelt ein weißbärtiger Herr mit dicken Backen und rahmenloser Lesebrille. In Gedanken ist er still über einen Zeichenblock gebeugt. Er strahlt eine solche Behaglichkeit aus, dass ich Jotar komplett ausblende. Die Ausschläge auf der Haut des Weißen und seine teils ausgefallenen Haar lassen wohl auf eine Krankheit deuten. Sein Anblick macht mich umgehend traurig. Zur gleichen Zeit überschatten seine sympathisch ruhigen Züge jedes Mitleid oder dergleichen. Die tapsigen Griffe an seine Knöpfe. Die schief sitzende Brille. Als ob der Geist meines Großvaters neben mir sitzt. In der summenden Atmosphäre des schlafenden Flugzeugs betrachte ich seinen Kohlestift, wie er über das Papier hechtet. Seine Mühe ist so bestechend. Ich muss mich zurückhalten um ihn nicht plötzlich zu umarmen. Bei näherer Betrachtung erkenne ich mehr. Seine geschickte Strichführung und das Tiefe erzeugende Schraffieren lösen Bewunderung in mir aus. Ein Körper entsteht langsam in den Schatten der Kohlekreide. Ich trinke meinen dritten Gin Tonic aus und zerbeiße laut krachend die kleinen Eiswürfel. Mein Großvaterdoppelgänger dreht sich zu mir hin, hält ausdruckslos einfach inne. Meine Entschuldigung kommt so reflexartig, dass ich ein Stückchen Eiswürfel auf seine Zeichnung spucke. Ich schlage die Hand auf meine vernarbten Lippen. Es tut weh, aber die Situation ist ohnehin peinlich genug. Ich will dem Armen nicht noch meine Schmerzensschreie direkt ins Gesicht plärren. So bleibe ich mit meiner latent geißelnden, stets eingebrannten Umgangsform stumm. Ohne auch nur ein Wort, ein Zucken der Augenbrauen oder dergleichen reißt Opa die bespuckte Seite ab und legt sie mir in den Schoß. Ein kaum erkennbares Nicken, und schon ist er wieder am Werk. Die nächste nackte Frau seiner Fantasien. Eine hat er nun mit mir geteilt. Mein Aussehen hat wohl erneut Mitleid ausgelöst, mir Schimpfe erspart und doch lässt das Geschenk meinen Trotz ersticken. Leise schlucke ich die letzten Eisstückchen hinunter und starre der unbekannten Dame ins verronnene Gesicht. Genau dort ist meine Spucke gelandet, im Gesicht. Und nun blickt sie mich an, durch die wässrige Zensur, glücklich in ihrer Anonymität. Danke.

Am Morgen der ersten Nacht wunderte ich mich high von den anonymen Tabletten, wie wohl die visuellen Erinnerungen Don Jorges aussehen könnten. Es war die Nacht meiner erneuten Menschwerdung gewesen. Auch mir schien einer meiner Sinn genommen. Don Jorge war nicht immer blind gewesen. Man erkannte es an den Narben um die Augen. Ein Unfall, der eine verpatzte Operation zu Folge hatte? Don Jorge hatte sicher noch Bilder der Welt im Kopf gespeichert. Wie angesengte Polaroid Fotos, übertrieben verzerrt und zu verzogenen Fratzen der Vergangenheit zersetzt. So wie sich im Alter die eigenen Erinnerungen in einen Eintopf aus Wunsch und Manie verwaschen. Der Surrealismus des blinden Geistes zerreibt die Realität wie ein Küchenmörser.

Don Jorge und ich teilten eine Dose Bohnen und zitternd vor Freude wiederholte er einen Namen, was nach „Juan“ klang, doch ich konnte nicht ganz sicher sein. Unsere Ebene der Kommunikation machte Kleinigkeiten zu unüberwindlichen Hindernissen. Weder meinem Wunsch nach Kleidern, Toilette noch die Frage nach meinem Aufenthaltsort konnte ich vermitteln. Gelähmtes Maul und geblendete Augen. Tolle Kombination. Doch seiner Begeisterung nach war Don Jorge für eine Stunde weg gewesen und offensichtlich mit einem Plan zurückgekehrt. Denn nach dem letzten Bissen, warf er den Löffel in die Konserve und mir nach kurzem Kramen in den Hosentaschen einen winzigen, verblichenen Block voller Notizzettel hin. Es folgte ein rosa Kugelschreiber auf dem die Anime-Heldin Sailormoon seitlich abgebildet war. Etwas verwirrt hielt ich die beiden Objekte erst einmal still in den Händen. Nach einer Minute war mir immer noch nicht klar, warum Don Jorge lachte wie ein Wahnsinniger. Er wedelte mit den Armen, Zwiebel- und Bohnengeruch erfüllte das Zimmer und er deutete permanent auf seine bleichen Pupillen. Dann lachte er wieder. Das Ganze machte mir ernstlich Sorgen. Waren wir im Haus, das Verrückte macht.

Ein Kind zwischen vier oder fünf Jahren starrt mich über die Lehne hinweg an. Ich nehme die zwei Äugelein und das seidene blonde Haare vor mir erst nach einer Minute richtig wahr. Ich fühle meinen betrunkenen Kopf sich mit Blut füllen und ich erwidere lächelnd den Blick. Die Kleine observiert mich was mich überfordert. Obwohl, ich muss schließlich nichts bieten, mein Aussehen spricht für sich. Der vernarbte Freak ist spaßig. Kinder verstehen mich, entscheide ich. Ich hebe schlaff meine Hand zum Gruß. Die große Reaktion bleibt aus, nur ihr Nasenbohren wird weiter mit ruhiger Hingabe zelebriert. Kontakt ist aufgenommen. Grimassen. Ich lege meine Stirn in Falten, schiebe das zerhackte Kinn vor und kneife die Augen zusammen, so als ob ich furchtbar böse mit ihr wäre. Also wenn sie sich jetzt fürchtet oder versteckt, ist das Spiel uninteressant. Scheue Kinder sind mir zu langweilig. Doch sie reagiert erst stumm entsetzt, nur um umgehend die idente grimmige Miene aufzusetzen. Schlag ein, Kleine. Ihr vorderzahnloses Grinsen erinnert mich sofort wieder an meinen bolivianischen Retter.

Don Jorge kam laut tratschend ins Mönchszimmer. Er hatte jemanden mitgebracht. Zwei Jungs, noch keine zehn Jahre alt, doch ihr Sprech-Habitus, die XL-Hemden und die aufdringliche Gestik ließen sie wie eingelaufene Erwachsene aussehen. Er war nicht verrückt geworden, sondern hatte für uns Sinnes-Übersetzer organisiert. Einer von ihnen schien mit Don Jorge verwandt zu sein. Es war Juan. Kurze Stille brach aus als mich die Jungs erblickten. Was der Gringo wohl hier mache? Nach dem ersten Schrecken verhielten sie sich aber nicht sehr entschieden interessiert mir gegenüber. Juan übersetzte meine Zeichnungen und die simplen Wörter die ich auf den Block kritzelte. Ich hatte selten einen solch liebevollen Umgang gesehen, wie der von Don Jorge und seinem vermeintlichen Enkel. Seine alten Hände ruhten ständig auf Juans Kopf oder Schultern. Der Ton war ohne jegliche Strenge oder Autorität. Ich konnte nicht anders als gerührt zu lächeln, was sehr schmerzte und ohnehin ungesehen blieb, da ich mein halbes Gesicht aus Höflichkeit in ein Handtuch gewickelt hatte. Juans gleichaltrigem Freund im „Undertaker“ Unterhemd wurde langweilig und er ging wieder. Die Reaktion konnte ich irgendwie nachvollziehen. Juan erzählte einiges, und dabei berührte er ständig Jorges Gesicht. Auf eine einfache Art und Weise ersetzte es Juans mimischen Ausdruck. Ich überlegte mir bei jenem Anblick, wie sich ein blindes Leben wohl anfühle. Ich wünschte mir beinahe die Welt und die Menschen nicht sehen zu können, beziehungsweise nicht mehr sehen zu müssen. Vielleicht wäre ich dann nicht dermaßen oberflächlich. Es muss einem immer erst beschissen gehen, bevor man überhaupt beginnt zu erwägen, ein netter Mensch zu werden. Obwohl Jorge sah nicht aus, als ob es ihm jemals schlecht gegangen wäre.

Ich zeichnete einfach weiter, um mich nicht komplett mit Existenzfragen verrückt zu machen. Ich produzierte ein hübsches Telefon mit geringeltem Kabel und Wählscheibe. Juan hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Mir war entgangen, dass kein Mensch mehr solche Geräte besitzt, besonders nicht in einem bolivianischen Ghetto. Es ging mir mehr um die idiomatische Aussagekraft. Nicht unbedingt schlau. Die internationale Geste des ausgestreckten Daumens am Ohr und dem kleinen Finger am Mund funktionierte da schon besser. Juan nickte einfach und wiederholte ein nach „Telefon“ klingendes Wort. Sie hatten verstanden, doch waren offensichtlich nicht in der Lage mir ein solches Gerät zu besorgen. Als Nächstes versuchte ich mich an der Abbildung eines Polizeiautos mit blinkender Sirene und Stern an den Seitentüren. Fragende Blicke. Ich imitierte das Heulen einer Sirene und imitierte mir dem Block eine Polizeimütze. Als dies verstanden wurde schüttelten beide wild den Kopf. Aus dem einen oder anderen Grund war es keinesfalls zu erwägen die Exekutive einzuschalten. Nach kurzer Besprechung von Don Jorge und seinem Helfer, skizzierte mir der kleine Juan einen exzellenten Krankenwagen auf das Papier, mit dem Kreuz, Blaulicht und allem. Ich war beeindruckt und war einverstanden. Erst da verstand ich, dass ein abruptes Ende meines Aufenthalts bei Don Jorge bevorstand. Juan stemmte sich unter meinen Arm und schon brachen wir auf.

Am Weg die Straße hinunter kam Juans Wrestling Fan Freund wieder hinzu und nahm mich auch stützend an der Hand. Es folgte ein etwas älterer Junge, der nebenher ging und bei jedem Schritt achtete, dass meine Schultern nicht absackten. Sicherlich ein Bild für Götter, drei Ghettokinder, die einen vermummten, scheinbar betrunkenen Gringo über müllbedeckte Wege in ein Krankenhaus stemmen. Don Jorge blieb im torlosen Hausausgang stehen und wurde perspektivisch kleiner. Ein Glasvorbau ohne Glas umgab ihn. Das Gebäude, das mich zu einem hilflosen Stückchen Fleisch umformte, erhob sich über Jorge. Es war ein grauer, graffiti-gefleckter Betonklotz. Einer unter Tausende. Beim besten Willen würde ich jenes Haus nicht mehr wiederfinden können. Selbst wenn ich nicht von wirren Medikamenten beeinträchtigt wäre. Der aus meinem Leben verschwindende Jorge winkte fröhlich und schien etwas zu singen. Brennende Tränen liefen über mein Ex-Gesicht, während mich der dreckige Nachwuchs der dritten Welt wie Putti-Engel aus dem Land der Verdammten trugen, hin ins neue Vertraute.

Wir durchbrechen die untere Wolkenbank und meine Verträumtheit zerläuft wie das Sonnenlicht am Horizont. Es erinnert mich an den Flug nach Dublin vor zig Jahren. Irland stieg wie das mystische Avalon aus den dicken Nebelschwaden hervor. Ein Anblick, der in Dichtern eine Erektion aus tausend Sonetten losgetreten hätte. Jetzt sehe ich an meinem schlafenden Zeichner vorbei auf niederösterreichisches Braun. Felder, die frostig durch rheumatisch-klebrigen Dunst bis zu mir durchschimmern. Selbst der minimierte Anblick durch das winzige Flugzeugseitenfenster ist mir zu viel.

Österreich. Systematisch mittelmäßig von Grund auf, geplagt von jahrzehntelangem Penisneid und chronisch selbst bemitleidend. Meine Arbeit „Adäquate Lagerung von Baumaterialien in klimatisch instabilen Breitengraden am Beispiel von Aluminium“ hat mehr Substanz als dieses Land. Das Land der absolut langweiligsten Werte. Dies leugnend, laufen konservative Neuwagenbesitzer von Clubbing zu Clubbing und androgyne, emotional verkümmerte Jugendliche empfehlen einander günstige Handy-Tarifverträge. Das Land der Schuldlosen. Es hat mir das Leben gerettet. Die internationale Belanglosigkeit meiner Heimat hat mich befreit. Das ist jedenfalls für mich die einzige Erklärung. Meiner Herkunft steht diese Welt dermaßen unwissend gegenüber, dass es sich nicht einmal lohnt den Aufwand einer Lösegeldforderung zu erwägen. Vielleicht konnten die bolivianischen Menschendiebe mein liebes Land der Äcker auf den Karten nicht einmal finden. Österreich, der Anus Europas. Genau in der Mitte, der Hämorriden-Alpen, die ganze umliegende Scheiße gepresst zu einem Volk, der Sud aus baltischer Depression, spanischer Derbheit, französischer Arroganz, osteuropäischer Brutalität und italienischer Eingebildetheit. Ein transparenter Fäkal-Staat, der goldmelierten Barock vor sich herträgt. Und ich bin um nichts besser. Geschunden, egozentrisch und neidisch auf die Normalen. Und dabei durchsichtig, wie die neue alte Welt um mich herum. Mein Gesicht fühlt mich wie das verkrustete, zusammengeknüllte Taschentuch, das man nach Jahren wieder in seiner alten Jogginghose hervorholt.

Es war ein relativ kurzer Krankenhausaufenthalt in La Paz. Es war unglaublich, dass und wie mich meine Entführer über 300 Kilometer Luftlinie ins Ghetto der Hauptstadt von Bolivien transportiert haben. Vor allem war ich offenbar zweieinhalb Wochen in Gefangenschaft gewesen. Derartige Fakten zerrissen mir beinahe das Gehirn. Alle Geschehnisse rund um meine Entführung blieben mysteriös und Hoffnung auf eine befriedigende Auflösung wird es nie geben. Das Krankenhaus war wie erwähnt gründlich und effizient. Meine Behandlungen wurden sozusagen nebenher erledigt. Tatsächlich ignorierten die Krankenschwestern mich bei ihren Visiten oder winkten mich spöttisch ab. Es gab auch keinen Weg wie man sie hätte rufen können. Man konnte nur hoffen, dass sie auftauchen würden wenn der Kollege im nächsten Bett wieder reißende Anfälle bekam und beginnen seine Bettpfannenbedürfnisse richtig zu timen. Meine Probleme waren im Vergleich mit jedem hier prioritätslos. Mein gebrochener Schädel wurde trotzdem überdurchschnittlich gut behandelt und wir, die wenigen Patienten auf der Ambulanz, bekamen dabei ein unerwartet großes Zimmer. Das Problem war, dass sich die eine Hälfte des Raums im Umbau befand. Eine Baustelle, neben der unsere Betten dicht aneinander gedrängt waren und die den Schwestern kaum Platz zum Manövrieren bot. Jene mystischen Wesen, genannt Ärzte kamen mir nie zu Gesicht, nicht ein einziges Mal. Man musste einfach davon ausgehen, dass es sie gab, fest daran glauben, wie in einer Kindergeschichte. Eines Nachts erwachte ich mit leichten Schmerzen, doch blieb ich stumm. Eines dieser scheuen Fabelwesen hatte sich an mein Fußende verlaufen. Dort in den Schatten unterhielt es sich mit der Oberschwester Helena. Die schlauen Biester kamen also nur nachts zum Vorschein.

Drei große Flaschen Antibiotika intravenös. Das war mein Täglich Brot. Offenbar hatte ich mehrere äußerst schlimme bakterielle Brandherde, verstreut über meinen ausgezehrten Körper. Ohne Fieber aber mit übermäßig infiziertem Blut lag ich nun im weichen Bett. Ich heilte sehr schnell und war dann auch nach nur einer Woche und zwei Operationen wieder bereit zu Reisen. Die Narkosen werden mir jedoch immer im Gedächtnis bleiben. Genau wie das Erwachen mit einer Kieferstützprothese so groß wie ein Toilettensitz.

Es ist auch Ordnung krank und am Ende zu sein und so den ganzen Tag zu verschlafen. Nur wenn man mit Langeweile ringt, kann jener Zustand zu zu Verzweiflungstaten führen. Ich sah auf einmal Muster, wo keine waren. Jede Nacht gab ich mich dem lächerlich lauten Schnarchen meiner Zimmergenossen hin und kam nicht umhin eine dramaturgische Kadenz darin zu entdecken. Eingebildet oder nicht, in der Dunkelheit machten sich der vermeintliche Gallensteinpatient und der Señor mit der Darmentzündung den Rekord für Nokturne Lautstärke streitig. Schnarchen, welches so laut war, dass es den Schnarcher selbst eigentlich aufwecken hätte müssen. In den meisten Nächten behielt Galle die Oberhand und tatsächlich schien Darm sich nach diesen gellenden Überlegenheitsbeweisen auch zurückzuhalten und leise zur Seite röchelnd die Schlacht als entschieden zu belassen. Doch einmal trug es sich zu, dass sich vor meinen Ohren eine beeindruckende Underdog Story abspielte. Darm gab sich diesmal nicht so schnell geschlagen. Galle gab anfangs ein einleitendes Bärengrummeln von sich mit einem grausam krähenden Flugsaurierfinale, doch Darm antwortete klassisch mit seinem Rotzgurgeln. Jenes sank dann zu einem Baritonheulen in fünf bis sechs Intervallen ab. Mit einer perfekt getimten Pause schwoll in ihm dann ein tiefliegender Groll an, gleich einem Vulkan. Ich hielt mich an dem Stahlgestell des Bettes fest. Darms Mund öffnete sich langsam und mit einem Blähen der Nüstern formte sich das Stöhnen eines im Stemmen begriffenen Kugelstoßers. Im Ausatmen begriffen schallte sein hochfrequentes Krächzen wie ein überdimensionales Ventil durch die Hallen des ganzen Hauses. Ich schwöre, ich meine dabei sogar etwas Ähnliches vernommen zu haben, wie das rapide Klopfen eines Spechtes in den Nebenhöhlen. Jene Nacht war Darm der Sieg sicher.

Tagsüber sprach ich öfters mit meinen Eltern am Telefon und versicherte ihnen dass kein Grund zur Sorge bestünde. Ich hoffe das war glaubhaft. Auch die Behörden wurden informiert. Kurze Aussagen über Tathergang, den ich kurz hielt, einige diplomatische Unterlagen mussten unterzeichnet werden. Die wurden mir aber sogar ans Krankenhausbett gebracht also kein böses Blut. Überhaupt löste sich die ganze Geschichte in einer Wolke aus Schmerzmitteln und lachenden Krankenschwestern auf. Die Erinnerungen blieben zerfahren. So transformiert sich das Erlebnis des Fast-Sterbens in eine spannende Urlaubsgeschichte. Unglaublich.

Langsam fährt der Bus alle seine Stationen zwischen Bratislava und Wien ab. Es gab keinen direkten Flug nach Schwechat, warum auch immer. Ich rieche die Sonne, die etwas kühler scheint. Ich fühle mich langsam in meinen Sitz fließen und zum ersten Mal seit Wochen scheine ich auszuatmen. Es schmerzt. Wir halten bei einer T-Kreuzung, und ich beobachte zwei Straßenarbeiter beim Aufstellen eines Wegweisers. Erst will der eine das Schild schon an der Aufhängung fixieren, als der andere ihm eine gesalzene Kopfnuss gibt. Laute Worte und Gestikulieren implizieren, dass der eine Monteur den Richtungsweiser verkehrt herum anbringen wollte. Ein wilder Streit entfacht ob der Pfeil am Scheideweg im Niemandsland nach rechts oder nach links weisen soll. Ohne Schild wäre es wahrscheinlich besser. Die ungestörte Sicht auf den gelb leuchtenden Rapps bliebe erhalten. Egal, wir fahren weiter, Jungs. Ihr schafft das schon.

Kapitel — Suppe

Armins Wohnung wurde zur einzigen Zuflucht in Wien und jede Nacht ist Vollmond. Außer mir ist hier sonst niemand und ich kenne bald alle Kochshows dieser Welt. Menschlicher Kontakt nur über Privatfernsehen. Wieder eine echte an mich gerichtete Stimme zu hören, wäre wahrscheinlich eine gesunde Idee. Natürlich könnte ich die Firma anrufen, etwas quatschen und ihnen erklären was passiert ist, aber ich fürchte mich. Ich fürchte mich darüber zu sprechen und davor wieder arbeiten zu gehen. Tante Andi ist tot. Das erfuhr ich jedenfalls beim letzten Gespräch mit Vater. Das ist Tage oder Wochen her, wer weiß. Ihr Ableben macht mich jedenfalls noch heute traurig und gleichzeitig finde ich es unerhört, dass sie mit ihrem Tod von der Intensität meiner Geschichte ablenkt. So fühlt sich also eine Depression an. Da gibt es Leute, denen dann auch nicht mehr zu helfen ist, da sie aufgegeben haben. Mitten im Auge des Sturms sind sie schwerelos beinahe erleuchtet in der Reinheit ihrer Verzweiflung. Ruhig. Der andere depressiver Typus ist der leugnend Leidende, der sich ständig ablenkt, sich in der Sinnlosigkeit des Ganzen an Strohhalme klammert, sich ein Lächeln ins Gesicht schnitzt nur um nicht ganz in die Tiefe zu stürzen. Ich bin jenseits von beidem. Ein Mann, der sich letztlich nicht einmal mit seinem eigenen imaginären Freund verstanden hat. Irgendwie bin ich ja enttäuscht von Dinetti. Jetzt wo er weg ist, bin selber überzeugt nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Ich kaue an der Cornflakes-Schachtel und bewundere dabei die Wasserspeier des Nachbarhauses durch die verschmierten Atelierfenster. Unten tuckert die Ringstraße. Ich baue mir ein Traumschloss aus Zellophan und Zigarettenstummel. Genug Material ist vorhanden. Das letzte Mal habe ich in meinen frühen Zwanzigern so viel geraucht. Mindestens vier Packungen am Tag. Ich erwache um vier Uhr morgens aus meinem Mikroschlaf und wecke nun vermutlich täglich die Nachbarn mit meinen schwarzen Rotz, den ich lauthals ins Waschbecken würge. Danach die erste Zigarette beim Zähneputzen, zwei während ich die Immobilienanzeigen der Zeitung durchblättere, eine während der Kaffee runterläuft und noch einmal zwei zum verbrannten Toast und einer „Heute“ von letzter Woche. Ich gehe kaum aus dem Haus. Der einzige Anlass die wenigen Lebensmittel, die ich benötige, zu besorgen ist der, dass ich ohnehin im zwölf Stunden Takt zur Trafik aufbreche. Ganze Stangen will ich mir nicht kaufen. Das wäre eine zu hoffnungslose Wendung. Leider sind Zigarettenautomaten nie nahe genug, besonders wenn man sich im fünften Stock befindet. Bei einem kleinen Türken neben dem Zigarettenautomaten wird mir gelegentlich das Mittagessen serviert. Das besteht meist aus Mikrowellennudeln, belegten Broten oder anderer Fertigwaren. Innerhalb der letzten Wochen habe ich sieben Kilo abgenommen. Hoffentlich kommt Armin bald zurück, ansonsten löse ich mich bald in Luft auf. Ich wandere den ganzen Tag in seinem kalten Atelier und der kleinen Galerie herum und versuche eine Beschäftigung zu finden, neben der ich den Fernseher laufen lassen kann. Ich sortiere wahllos Pinsel und Öle, bringe dabei wahrscheinlich größtmögliche Unordnung in Armins Equipment. Diese geleimten Stücke Holz und Leinen sind im Moment spannender als ich. Ein Ende dieser traurigen Phase ist nicht absehbar. Der Blues. Ich male den Blues auf Papier. Gar nicht schlecht, vielleicht habe ich doch Talent. Mein Bart wuchert beständig, wild und ist jenseits von getrimmt. Warum ist das so? Ich fahre mir mit der fettigen Erkenntnis meiner Ungepflegtheit ins raschelnde Gesicht.

Armin bleibt sicher noch eine Woche in England. Keine zehn Minuten habe ich ihn gesprochen, nachdem ich vom Flughafen angekommen war. Nach einer entsetzten Reaktion auf mein mitgenommenes Ich und meine geraffte Entführungsgeschichte, drückte er mir um Verzeihung flehend und sichtlich zwiegespalten die Schlüssel seiner Wohnung in die Hand. Kopfschüttend entschuldigte er sich abermals, packte mich empathisch am Arm und sprang direkt in ein Taxi Richtung London oder so. Meine Eltern zu besuchen habe ich zwar versprochen, doch keine Ahnung wie ich mich in Bewegung setzen soll. Das Begräbnis von Tante Andi habe ich ja bereits übertaucht, doch der Gedanke ihr Grab zu besuchen versteinert mich. Einige offizielle Kleinigkeiten müssten auch noch erledigt werden. Ich sollte den österreichischen Ämtern und Kreditkartenfirmen nachjagen wegen Verlustmeldungen, Einforderung von diversen Reiseversicherungen und all der Anstrengung. Alejandro habe ich auch bis heute nicht aufgeklärt. Ob der mich immer noch erwartet. Frechheit eigentlich, dass der nicht auf mein Ausbleiben reagiert hat. Scheiß drauf, ich hätte auch keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, wären die Rollen getauscht gewesen. Gestern Nachmittag sprach ich sogar mit einem Menschen von der Kronenzeitung. Mir war nicht bewusst, dass die so etwas wie Journalisten haben, doch nach drei simplen, wenn auch sehr reißerisch formulierten Fragen zu meiner Entführung war der Spaß schon vorbei. Meinen fad intonierten Antworten nach zu urteilen, wird der Artikel wohl implizieren, dass mich die Entführer missbraucht und geistig verwirrt zurückgelassen haben. Mein Hausarzt wollte mich auch noch sehen und sicherstellen, dass ich keine meldepflichtigen Keime mitgebracht habe. Die fehlenden Vorderzähne sind eigentlich auch unpraktisch. Ob ich sie richten lassen sollten? Aber erst rufe ich alle Zustelldienste der Stadt durch. Man muss sich Zigaretten liefern lassen können, oder. Keinesfalls rufe ich Marleen an.

Einsamkeit macht einen nach genügend Zeit glauben, dass man ein genialer Denker sei. Unzählige Ideen und philosophische Ansätze entstehen in der Sicherheit der vier dunklen Wände, die nicht einmal ein Echo erlauben. Dunkelheit und Reflektion werden zu einer abschirmenden Fruchtblase und die Rätsel dieser Welt sind plötzlich sonnenklar. Ich sitze in wochenalten Unterhosen am kalten Balkon. Fischäugig fingere ich einen Obstgarten nach dem anderen leer und habe mich dabei im Kopf zum Übermenschen gekrönt. Doch dann kommen SIE, die Anderen. Leute, die nicht ich sind. Ich habe keine Ahnung hat wovon die alle sprechen. Traurig schlendert ein sozialer Tollpatsch nach Hause und verwünscht das Leben. Spätestens wenn man dann wieder einige Zeit alleine schniefend im Bett verbracht hat kommt der unausweichliche selbsterhaltende Gedankenblitz. Ich erkenne sie doch, meine eigenen Unzulänglichkeiten! Wer kann das noch von sich behaupten? Sie, meine sogenannten Freund und Bekannten verstehen mich nicht. Genau wie ich sie schon lange nicht mehr verstehe. Es sind doch nur abartig banale Einzeller und sie husten sich gegenseitig permanent den gleichen Müll ins Gewissen. Hauptsache ich werde akzeptiert! Ha, wirklich frei ist man ohne Akzeptanz. Nur weil ich mich in geistigen Ebenen aufhalte, die sie mit ihrem hippen Zynismus und ihrer TV-Psychologie nicht erreichen können, beißen sie mich unterschwellig aus ihren Kreis. Was für eine Erkenntnis! Also wenn das kein Zeichen von wahrer Intelligenz ist. Ich grinse in mein tränengetränktes Kopfkissen. Diese Scheuklappen der Egozentrik stören auch gar nicht beim einschlafen.

Es ist in den letzten Wochen so etwas wie eine paranoide Parallelwelt des Hasses um mich erwachsen. Ich habe keinen Einfluss mehr darauf, sondern bin damit gestraft, in meinem Elend glückliche Menschen beobachten und sie für ihre unbeschwerte Heiterkeit verachten zu müssen. Wie ich sie alle verurteile, nur weil sie mich nicht lieben. Gleichzeitig kann ich keinem Unbekannten auf der Straße ins Gesicht sehen ohne meine Abscheu und meine neue Ablehnung gegenüber der Menschheit zu kaschieren und wie ein Stück bitteres Asbest hinunterzuschlucken. Ich nehme an, dass sie mich hassen, erfinde Gründe warum sie mich hassen könnten und hasse sie dafür. Ich sinniere nicht über Träume wie sie es tun, über einen witzigen Alltag oder ein komplett fremdes Leben, das voller kleiner Wunder und liebenswerten Momenten sein könnte. Da ist diese Abteilung in meinem Kopf, die mir giftig souffliert, welche meiner Eigenschaften mich diesen Innerirdischen fremd und überlegen macht. Jeder ist ein Rivale im Punktesystem des persönlichen Lebenslaufs. Die Erbärmlichkeit des fetten Wurstverkäufers im Zielpunkt bietet meiner mega-egozentrischen Depression kurz etwas Einhalt. Gerade noch zufrieden auf meiner Privatinsel Apathie und plötzlich ärgere ich mich. Ärger über das Leben anderer, deren Entscheidungen, die mich nicht miteinschließen. Quengelnder Ärger übermannt mich. Die unbedachte Aussage eines Freundes, seiner Lebenseinstellung, sein Glück und seine anmaßende Leichtigkeit des Denkens. Alle stehen im direkten Vergleich mit mir. Und Empathie ist für mich non-existent. Armin und seine Entscheidungen machen mich manchmal derart wütend. Warum kann ich es nicht einfach haben, so wie er, so wie alle in meiner Vorstellung es einfach haben.

Seit kurzem scheint Armin jedoch so etwas wie amouröse Leiden durchzustehen. In unserem schwächelnder elektronischer Briefverkehr der letzten Wochen bin ich darauf stoßen. Er fragte pedantisch nach Anrufen oder Nachrichten für ihn. Irgendwann gestand er dann auch mit ungewohnt unsicheren Worten seine wilde Obsession mit einer Dame, unerreichbar für ihn aus verschiedenen Gründen. Die fluchtartige Reise nach London ist nicht nur Vorbereitungsarbeit für eine Gruppenausstellung in <Soho, sondern auch emotionales Exil. Ein Versuch Armins die Zurückgelassene durch seine Abwesenheit ähnlich verrückt zu machen, wie er es mittlerweile geworden ist. Vergebens, anderen Leuten Gefühle anzudrehen funktioniert nicht einmal in Theorie. Jedenfalls plagen meinen Freund nun schwere Zeiten. Die erste Reaktion auf sein verstecktes Unglück meinerseits war abstoßend, da dieses Wissen um seinen schlechten Zustand mich unglaublich befriedigte. Es ist wie ein innerer Ausgleich und lässt mich wieder erleichtert durchatmen. Das ist natürlich derartig verkommen von mir. Leider mach mich die Erkenntnis um meine moralische Unterentwicklung noch verzweifelter. So werden wohl unsere Senioren zu den griesgrämigen Unmenschen, die sie sind. Entsetzt über ihre Mitmenschen und darüber, dass sich die Welt auch ohne sie weiterdreht, zürnen sie nicht nur Gott und der Welt, sondern schließlich sich selbst. In diesem Netz aus allumfassender Ablehnung verpuppen sie sich in asoziale Einsamkeit. Aber nicht nur die Alten verbittern. Der Zynismus frisst uns alle langsam auf. Irgendwann kann jedem der feste Draht zur Realität entgleiten und man sieht im schönsten Gesicht nur noch die Mitesser.

Es ist schon unglaublich wie traurig ich bin. Und die lupenreine Klarheit dieses Gefühls, die Unverkennbarkeit dessen macht mich noch trauriger. Ich will auch niemanden mit meinen verdammten Problemen den Tag versauen. Das ist der Punkt. Wenn man über den Rand hinaus ist, ist es vorbei, dann gibt es kein Zurück mehr. Ich esse beinahe gar nichts mehr. Jesus hat in schwierigen Zeiten auch gefastet. Vielleicht sollte ich mich auch einfach ins Delirium hungern. Ein zweites körperliches Trauma um mein einsames, dumpfes Gehirn zu reanimieren. Ein Kaltstarten um zu sehen ob die Hardware vielleicht doch noch normal läuft, normal. Marleen war der letzte Versuch gewesen, mich als normalen Menschen zu beweisen. Ein Leben in Zweisamkeit, anerkannt als gesellschaftliche Norm. Wieso sollte ich diesen Wunsch nicht einfach aufgeben? Dazuzugehören. Ich fühle mich bei sozialen Konfrontationen meist überfordert und trage dann für Stunden das Gefühl mit mir rum, eine leicht geistig-behinderte Witzfigur zu sein. Wie sollen da Beziehungen mit Frauen auch nur ansatzweise funktionieren. Bei ersten Begegnungen bin ich unruhig und überdreht wie ein Autobatteriehäschen. Warum muss ich immer Leute unterhalten wollen, während mein Innerstes sich fremdschämt und kopfschüttelnd auf die Alkoholbetäubung wartet. Keiner will bei mir sein. Und deswegen bleibt die Welt allein. Obwohl…

Allein ist man nie allein. Man muss sich nur aus dem Fenster lehnen und laut schreien. Schon hast du vielleicht einen Leidensgenossen aus der Lethargie gerissen. Es gibt sie überall da draußen. Unzählige arme Seelen, die das Monopol der Vereinsamung für sich beanspruchen und vergessen, dass sich in den Wohnungen nebenan die gleichen Gesichter im gleichen Spiegelbild zum kotzen finden. Die Welt ist ein Buffet und langsam merken wir, dass zu viele Leute gekommen sind, und das bedeutet Panik. Man nimmt so viel man tragen kann, schlägt und überfrisst sich, während andere verhungern. Wobei ich zu denen gehöre, die nicht einmal eingeladen wurden.

„Frisch gekocht mit Andi und Alex, heute Zwiebelrostbraten vom Rind.“ Geil. Gebannt wie immer folge ich dem kulinarischen TV-Striptease und zersetze dabei genüsslich einen zwei Wochen alten Pombären auf der Zungenspitze, der eine meiner letzten Reserve darstellt. Früher liebte ich es zu kochen. Essen und Architektur, die essentiellen Pfeiler des kulturellen Menschen und die meines Lebens. Beides unterscheidet uns direkt vom Tier. Jetzt verschwimmen die Grenzen bei mir schon stärker, da ich mich hauptsächlich flüssig ernähre oder von besagten Fertigwaren meiner muslimischen Freunde. Wie ich frisches Gemüse liebte! Oder mir reichte auch manchmal ein gutes Stück Rindersteak mit Erdäpfeln, ein Salat aus dem Schrebergarten oder einfach Jogurt mit geschnittenen Früchten am Nachmittag. Mir fehlen der traditionelle Tanz in der Küche, die Saucen-Kür und das finale duftend-dampfende Teller. Die Mystik eines rosa gefärbten Filetstücks, das süßsaure Knacken einer Fisole oder sich in den verspielten Nuancen von Curry und Koriander zu verlieren. Dieses unbeschreiblich meditative Gefühl über Stunden hinweg alle essbaren Vorräte des Speisekammer zu panieren, vielleicht um so manchen Sonntagnachmittag die verkaterte Pein zu mildern. Heutzutage meine ich an meinem grätigen Körper erste Anzeichen von Skorbut zu erkennen und bin gleichzeitig durch schlechte Ernährung dermaßen ermattet, dass mich nicht einmal die Pest im Spätstadium aus dem Bett und ins Krankenhaus brächte.

Marleen mochte es gern von mir bekocht zu werden und auch mir gefiel die Autorität über ihre Sinne, die ich dabei hatte. Auch meinen persönlichen Futterneid musste ich nicht allzu stark bedenken. Sie aß ungefähr so häufig wie ich Japaner enthaupte. Gut, das mag vielleicht ein bisschen übertrieben klingen, aber eben nur ein bisschen. Das Interessante war, sie war trotz der Nulldiäten keineswegs mager oder klassisch dünn. Sie war aber auch nicht dick. Ihre Figur war unerklärlich, unvergleichlich und am ehesten als prall-schlank zu bezeichnen. Das wäre wohl der passende Hilfsausdruck. In den Jahren<, die wir zusammenlebten, schien es als ob sie trotz rar gesäter Völlerei und der wahnwitzigen Askese kein einziges Kilogramm zu- oder abgenommen hat. Körperlich fand auch nicht die kleinste sichtbare Umschichtung statt. Diese zeitliche Statik, die sie umgab und perfekt konservierte, fand ich immer etwas gruselig. Manchmal legte ich mir Erklärungen dafür zurecht, wenn ich Marleen und ihre Figur nicht gerade aktiv ignorierte, weil sie eigenartigerweise auch von nichts anderem sprach. Zu viele Carbonate hier, zu wenig Proteine da, Zucker und die ganzen Manifeste. Absichtlich kochte ich immer etwas fetter, um ihre blöden Theorien zu widerlegen. Äußerlich veränderte sich diese Frau in <Jahren nicht um das Mindeste. Später, meist in Zusammenarbeit mit Dinetti, kamen mir Ideen wie, vielleicht ist sie ein Zombie oder jemand hat sie aus der Zukunft geschickt um mein Leben zu zerstören. Wie schnell man sich mit einer Antwort zufrieden gibt, wenn man nur dringend genug auf der Suche nach einer solchen ist, egal wie absurd sie sein möge. Die wahre Wahrheit ist meist zu bereuen. Unkonventionelle Theorien rund um Marleens Wesenszüge, auch wenn sie extraterrestrisches Klonen beinhielten, waren mir die liebsten. Ich erinnere mich, dass mein vermeintlich untoter Lebenspartner erstaunlich oft krank war, und ich mich dann immer um ihr Wohlbefinden kümmerte. Ich saß hypnotisiert vor den Dampfschwaden des klöppelnden Suppentopfs. Dünne Hühnersuppe für die Patientin. Ich wusste, wenn ich lange genug warte, verdampft der ganze Fond. Wenn ich die Suppe jedoch von der Platte gebe, würde sie innerhalb eines Tages sauer werden. Wir genossen Teller für Teller, langsam löffelte ich sie im Laufe des Nachmittags aus. Am Abend blieb nur ein leerer Topf. Die Suppe hatte ich mit überdurchschnittlich viel Muskatnuss gewürzt. Mit warmen Bauch und verklärten Blick schaute ich ins Wohnzimmer und fühlte mich wunderlich. Ich musste leise aufstoßen und spürte wie mir eine Ahnung von Erbrechen bevorstand. Marleen schlief wie eine eingerollte Schäferhündin in der Nische neben der Zentralheizung. Sie hatte den Thermostad auf 23 Grad aufgedreht und ich atmete schwindelig die staubtrockene Luft. Gerade schoss die Therme mit einem lauten Knacken und Brenngeräusch wieder in Aktion. Der Raum verschwamm und Dinetti saß als junge Frau neben dem zusammengekauerten Marleenhaufen. Ich ignorierte beide lange Zeit, beobachtete die Blätter unseres Dieffenbachie< in der warmen aufsteigenden Luft schwelgen. Dinetti blies sich eine strohblinde Strähne aus ihrem schlanken hübschen Gesicht.

„Heiß ist es bei euch.“

„Marleen hat die Hitze aufgedreht wie eine Irre. Da wird man doch ohnmächtig.“

„Tja, Hannes. So will sie es eben haben. Du wärmst sie ja nicht. Ist sie nicht hübsch wie sie daliegt.“

„Hoffentlich wacht sie nicht auf. Ich bewege mich besser nicht.“

„Sie sieht aus wie in der Zeit erstarrt.“

„Irgendwie ist mir schlecht.“

Dinetti schlägt ihre langen Beine übereinander sodass ihr kleines schwarzes Cocktail-Kleid die Oberschenkel hochrutscht. Sie neigt sich über Marleens zugedeckten Körper und bläst ihr sanft ins Gesicht.

„Hannes, warum hältst du sie nicht einfach?“

„Sie ist krank und ich will sie nicht aufwecken. Sie braucht Ruhe.“

„Du verstehst einfach Liebe nicht.“

„Wirklich? Und das kommt jetzt von dir, Dinetti?“

Dinetti legte sich zärtlich an Marleens Seite und umarmte sie. Kopfschüttelnd wurde mir einiges klar. Alles würde sich ändern, in jenem Moment ich konnte es fühlen. Ein Gefühl, das ich umgehend als Nebenerscheinung des verdorbenen Magens abtat. Ich betrachtete mit einem bitteren Ausdruck im Gesicht meine Mädchen Arm in Arm schlafen. Ich sah Dinetti zwischen die Beine. Da war plötzlich noch eine Katharsis.

Leute haben keine Ahnung vom Kochen und ich habe keine Ahnung von den Leuten. Das Leben ist wie Suppe. Es darf keine sauren Ruhepausen geben und wenn man genießt ist alles viel zu schnell vorbei. Ein Suppengleichnis. Nicht annähernd originell und ziemlich arrogant von mir es für tiefsinnig zu halten. Diese Nacht war mir lange schlecht und ich schlief gekrümmt in einer der unteren Ecken des Bettes. Marleen blieb auf der Couch.

Die Genialität des einsamen Geistes. Große Denker müssen leiden und sterben unverstanden. Das ist doch alles Scheiße. So brauche gar nicht versuchen mein kaputtes Leben zu rechtfertigen. Wahrscheinlich bin ich in Wirklichkeit viel zu blöd um etwas wirklich Außerordentliches zu schaffen, und zu schlau um echten unverfälschten Spaß zu haben. Beides habe ich mir in der Vergangenheit oft genug bewiesen. Ich hasse all das was ich gewesen bin, was ich tat, was von mir und dem Damals übrig ist. Ich blättere durch meine persönliche Dokumentenmappe. Schlechte Schulzeugnisse und alte Anzeigen wegen Drogenmissbrauch kommen hervor. Als die Polizei mich wegen eines Joints zum Amtsarzt pissen schickte und ich beinahe eine Vorstrafe für Kiffen bekam, verzweifelte ich das erste Mal so richtig an meinem übernatürlichen Pech. Kopfschüttelnd beiße ich mir in die Faust, um nicht noch mehr schlechte Erinnerungen heraus sickern zu lassen. Letztlich Lappalien, aber Zeugen eines mittelmäßigen Idioten. Diesen Typ kann man doch nur hassen, sein Gesicht und alles für was er stand. Die wenigen Leute die sich heute noch mit mir abgeben, beweisen meiner Meinung nach ein beeindruckendes Maß an Geduld. Wie gesagt, ich verstehe meine Freunde ohnehin nicht. Vielleicht habe ich ja gar keine richtigen Freunde. Warum sind alle um mich so abartig individuell geworden? Mittlerweile ist es nichts Besonderes mehr etwas Besonderes zu sein. Wieso sollte man sich noch bemühen, wenn nur in der Mittelmäßigkeit der neue Nonkonformismus liegt. Erst als ich am Spiegel vorbeigehe merke ich wie stark meine Stirn in Falten gelegt ist, wie stechend vorwurfsvoll meine Augen durch die Schlitze blitzen. Früher wäre Dinetti mein emotionales Ventil gewesen.

Leider ist die Zufriedenheit ein Zustand dem ich sehr skeptisch gegenüberstehe. Jedes Mal wenn ich glücklich bin, ob mit Frauen, Profession oder elektronischem Spielzeug, ist nichts davon von Dauer. Gut, so ist das eben. Aber mir scheint, als ob die Phasen des glücklich Seins, im Vergleich zur fahlen Parade an permanenter Enttäuschung, sehr kurzlebig sind, sprich verdammt ungerecht verteilt. So passiert es, dass ich langsam griesgrämig werde. Das ist der Teufelskreis. Doch mit diesen Tatsachen habe ich längst abgeschlossen. Sterben und was an sich das Schlimmere ist, weiterleben werde ich wohl alleine. So redet man sich weiter und tiefer in die Depression und kann sich kaum zum Onanieren aufraffen. Tatsächlich masturbiere ich mittlerweile nur noch aus hygienischen Gründen. Einfach um den angesammelten Grind der letzten Wochen hinweg zu wetzen.

Ach, Pornographie, sogar zum kopulieren sind wir zu faul geworden. Das lässt man mittlerweile einfach die Profis machen, denn zusehen ist nicht so anstrengend. Sogar die erotische Vorstellungskraft der Menschen ist verwelkt. Ob mich Pornos über die Jahre hinweg emotional verroht und meinen letzten Funken Leidenschaft trocken gelegt haben? Ich klappe meinen alten Acer auf, der mehr Sandwich-Griller zu sein scheint als Laptop. Ich betrete einen Random Live Chat. Schon läuft das Gerät heiß. Es könnte Käse schmelzen. Pädophile Mitte-40er flüstern einander unter falschen Namen wie SugarBunny93 oder GirlieGirl69 Unanständigkeiten ins Ohr. So holen sich der verklemmte Krankenhaustechniker oder der pensionierte Zugschaffner heutzutage einen runter, die offenbare Realität der Situation in einer kurzzeitig erzwungenen Ignoranz verdrängt. Eigentlich beeindruckend, letztlich ein autarkes, sich selbst mit Perversion versorgendes System.

Bei mir gibt es nichts dergleichen, keine Perversität oder eine herausstechende Fehlfunktion, nichts. Keine Freundin, keine Arbeit, keine Extremen, keine Aufgabe und keinen Anschluss. Es ist fast so als hätte mich die Natur bereits ausselektiert. Ich scheine das Recht auf Reproduktion oder auf Existenz im allumfassenden Sinne verloren zu haben. Ich bin alleiner als alle anderen. Und da kommt auch schon Minki, Armins Teilzeitkatze, um auf meiner Brust zu liegen und den Zigarettenrauch zu jagen, der aus meinen Nasenlöchern fließt. Sie ist nicht so eingebildet wie die anderen. Sie leckt sogar manchmal meine Knöchel, was etwas rau aber ein schöner intimer Moment zwischen uns ist. Wer weiß, dieses minibestialische Ritual hat mich vielleicht davor bewahrt mich von der Friedenbrücke zu werfen. Ich bin zwar ein erbärmlicher antisozialer Einsiedler mit einem zerfetzten Gesicht, aber irgendwer muss sich um Minki kümmern. Sie verhält sich öfters schwer verstört und hat Wahnvorstellungen. Die Reste von Speed, die es überall in Armins Zimmern, aus den Ritzen und auf Tischen leckt, haben ihr Katzenhirn verdreht jetzt im Entzug kann sich das Tier kaum noch auf den Beinen halten. Ich glaube, sie hält sich mittlerweile für einen Fuchs oder etwaiges Wild. Das Vieh bewegt sich nicht wie eine Katze, mehr wie ein verwirrtes Faultier. Sie ist trotzdem immer unterwegs, gibt sich irgendwelchen gruppensexuellen Katerorgien hin. Bin ich jetzt sogar schon auf Minki eifersüchtig?! Ausgelaugt und fertig vom nächtlichen Leischen landet sie dann letztlich immer bei mir am Bauch, zu müde zum Schnurren und meist mit dem einen oder anderen Mitbringsel im Maul. Der tote Spatz, in den ich vorher barfuß rein gestiegen bin und damit geplättet habe, stimmt mich nachdenklich. Das hohe Gras des dichtbewachsenen Innenhofs, den Armins Balkon übersieht, gleicht wohl mittlerweile einem blutgetränkten Schlachtfeld voll gerissenem Getier. Minki und ich sitzen vor der flach gequetschten Beute und sind beide ziemlich ratlos was nun weiter geschehen soll.

Es war ein Abend letzte Woche, an dem mir klar wurde: Sinnlos ist schlimmer als dumm. Die landesweiten Nachrichten berichteten nur von unglaublich absurden Vorfällen. Es war wohl eine Vollmondnacht gewesen. Sie brachten circa zehn Beiträge über Wahnsinnige, die sich entweder mit Sportwägen über Leitplanken in die Schluchten Salzburgs schossen, im Burgenland blutige Barraufereien angezettelt oder sich beim Oberösterreichischen Fußballderby halb tot gesoffen hatten. Besonders filmreif erschien mir die Geschichte eines älteren Herrns irgendwo aus Niederösterreich, der schwer verstört aus einer Nervenheilklinik ausgebrochen und zwei Kilometer eine Landstraße entlang gelaufen war. Man bedenke, der Patient war am Ende eines frostigen Herbstes im bloßen Hospitalkittel unterwegs gewesen. Er stieß auf eine Baustellengrube nebst der Straße und hatte ohne Umschweife versucht in den dort abgestellten Bagger einzubrechen. Was ihm letztlich auch gelang. In der Fahrerkabine hatte er es auch fertig gebracht, die Motoren des querstehenden Tonnenfahrzeugs zu starten nur um eingesperrt, mitsamt dem ganzen Gefährt umzukippen und elendig eingesperrt im Morast der Grube zu ersaufen. Eine eigenartige Flucht. Sinnlos.

Ich schlafe durchgehend und der Gedanke, der mir vorfantasiert, ich könnte irgendwann nicht mehr aufwachen, wegen Schlaganfall, Lungenkollaps oder aus welchem Grund auch immer, macht mir dabei immer mehr Freude. Aber jetzt gibt es andere Prioritäten meiner latenten Todessehnsucht. Meine Zigaretten sind aus. Ich will aber nicht aufstehen. Mein unterdrückter Harndrang beschert mir die mittlerweile siebte Erektion, aber selbst dieser Belastungstest auf meine Prostata bringt es nicht fertig mich aus dem Bett zu treiben. Seit der letzten Zigarette muss ich zusätzlich auch noch dringend kacken. Die totale Evakuierung. Und ich bin kurz davor meine Ruhestatt in eine Latrine zu verwandeln. Minki schlägt plötzlich psychotische Haken wie ein angeschossenes Reh und flieht hinaus ins Atelier. Meine Ausdünstungen sind wohl Grund genug. Ich rolle und kippe. In Gedanken merke ich irgendwie bin bereits am Klo. Danach lege ich meinen schönen Mantel an und atme wieder tief durch. Die Menschenwelt werde ich nun abermals durchschreiten wie ein Weltraumabenteurer fremde Planeten begeht. Auf, auf.

Bloß keinen Blickkontakt herstellen. Ich könnte mir was holen. Glücklicherweise verlangt einem die Aufrechterhaltung seiner Anonymität sogar im dicht besetztesten U-Bahnwagon Wiens keine Anstrengung ab. Ich gehe einen Umweg zur Trafik. Reine Abenteuerlust. Überall Fremde und semi-unbewusst halte ich bei jedem Passanten den Atem an. Ich mag die Österreicher nicht. Sie sind falsch und grantig, geplagte Geister betrogen von der ganzen Welt. Warum ich das weiß? Ich bin all dies und hasse es so zu sein. Glücklicherweise gibt es in diesem Bezirk mehr Touristen als Einheimische. Eine Traube gutgelaunter Volksschüler kommt bunt marschierend und mehrstimmig jauchzend auf mich zu. Ich wechsle die Straßenseite. Dieses kleine Volk ist zu viel für meine Sinne.

Wobei man dem Österreicher eines zugestehen muss. Wenn man sich geduldig wie ein Wurm durch die groben Schichten menschlichen Abfalls und ethischen Schutts bohrt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch tatsächlich auf einen ehrlich interessanten und humanoiden Vertreter unseres Landes zu stoßen. In so einem Fall kann es gut sein, dass man in dieser Person einen Freund gefunden hat, der einem für immer erhalten bleiben wird. Momentan bin ich zwar überzeugt, dass alle meine Mitmenschen grausame Dämonen einer selbsterdachten Hölle verkörpern, doch einen solchen breitenwirksamen Hass aufrecht zu erhalten, ist nicht immer leicht und selten ohne Zweifel verbunden. Gerade Armin stellt immer wieder das Paradox in meiner aufkeimenden Misanthropie dar. Warum waren wir immer noch befreundet. Ich wusste es nicht. Aber all diese anderen unverdaulichen Leute in den Straßen, in den Schaufenstern der Handyshops und Bräunungsstudios, sie machen mich alle tot. In meinem Zustand kann ich nicht einmal das Haus verlassen um Zigaretten zu kaufen, ohne sofort die Existenzberechtigung jeder erbärmlichen Seele dieses Planeten zu hinterfragen.

Ich benutze den Automaten um nicht mit der hässlichen Trafikantin sprechen zu müssen. Die Packung ist schnell aufgerissen. Schnell nach Hause. Ein ausgezehrter Mann mit Glatze und leichten Zuckungen in den Schultern kommt mir entgegen. Ein dicker grauer Mantel verdeckt das Skelett und er scheint keine Zähne mehr zu haben. Seine Lippen murmeln manische Gedichte. Eine unerwartete, wahrscheinlich unfreiwillig reißende Bewegung seines Kopfes lässt mich im Vorbeigehen erschauern. Habe ich eben eine Vision meiner eigenen Zukunft gesehen? Ich rauche mir meine letzte Zigarette aus der frischen Schachtel an, die LETZTE Zigarette. Denn mein Körper scheint mir durch spontane-krampfhaften Würgen etwas sagen zu wollen. Ich bleibe an der Jugendstil-Straßenlaterne stehen und konzentriere mich darauf nicht zu erbrechen. Meinen Organen und inneren Muskeln, die für das Husten zuständig sind, muss klar gemacht werden, dass sie nun gebraucht werden und nicht die, die für das Kotzen verantwortlich sind. Mein Brustkorb erstarrt schlagartig und die Atmosphäre um mich herum zerknüllt sich wie Papierbecher. Ich lehne am Schaufenster eines Billigladens für sexy Unterwäsche. Entsetzte Osteuropäerinnen erfassen meine stumme und windende Pantomime auf der anderen Seite des Glases. Peinlich berührt taumle ich aus unkontrollierter Höflichkeit weiter die Ringstraße entlang. Meine Kehle gibt Töne von sich, die an eine Notbremsung auf verrosteten Gleisen erinnert. Ich kann meine Arme vom Bizeps abwärts nicht mehr spüren und merke, dass ich diesen Anfall nicht mehr kaschieren kann. Mein Schließmuskel verengt sich zu einem schwarzen Loch und ich kippe nach vorne über. Ein Stich unterhalb des Kehlkopfs lässt mich vor Schmerz halb erblinden. Mein Husten war erst substanzlos und plötzlich bekomme ich keine Luft mehr. Auf allen Vieren krächze ich dem Asphalt entgegen. Angewidert dreht sich eine ältere Dame weg und versucht ihren neugierigen Hund wegzuziehen. Das Stück, das mir die Luftröhre verstopft, löst sich vollkommen ab und mit einem Brennen erbreche ich es auf den Gehsteig. Es war befreiend, aber irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Langsam kann ich durch meine tränenden Augen den grauen Gehsteig wieder ausmachen. Direkt vor mir am Boden starre ich nun fassungslos diesen von schwarzem Blut verklebten, fleischigen Batzen meines Innersten liegen. Da hocke ich nun neben dem Goethe Denkmal und das gut 10dag Stück frisch ausgekotzte Lunge läuft Gefahr von einem fetten beigen Mopps aufgefressen zu werden, gegebenenfalls das an der Leine zerrende Frauchen würde nur einen Zentimeter nachgeben. Zum zweiten Mal sitze ich heute mit einem Haustier vor einem Häufchen verendeter Organe. Ich stehe schnell auf und torkle zurück Richtung Atelier. Lauter kleine Adern in meinen Augen pochen, da sie offensichtlich von der Anstrengung des Hustens geplatzt sind. Ich atme so flach wie möglich, um das fehlende Teil meiner Atemwege nicht zu überanstrengen. Wie ich mich kenne, werde ich trotz dieser schockierenden Episode wohl kaum irgendwelche gesundheitlichen Schritte in die Wege leiten. Ich wüsste auch gar nicht wo ich anfangen sollte. Mir war schon immer klar gewesen, dass ich mit fast hundertprozentiger Sicherheit an Krebs erkranken würde, und das in absehbarer Zeit. Also doch keine tief verwurzelte Hypochondrie. Zwar bin ich noch jung, aber dafür war ich schon immer ein Schmelztiegel für toxisch verklebte Körpersäfte und Verwachsungen. Dass diese Ahnung und die Prädisposition sich in einer solchen Horror-Show manifestieren, hätte ich nicht gedacht. Ich hatte schon vieles, egal ob verhärtete Talgansammlungen, geronnene Gelenksflüssigkeiten oder sonstige bösartige Knoten auf zellularer Struktur. Ich hatte schreckliche Akne als Jugendlicher, die nie ganz verschwand, Ganglien wurden zu fingerdicken Verklebungen und ein solcher Proteinbatzen wuchs mir sogar mal aus dem Rücken. Krebs war für diese meine Genetik wohl unausweichlich. All das wird mir klar, während ich an der Buntglassammeltonne ein paar Kreuzungen weiter lehne. Außerdem merke wie gelassen ich bleibe. Ich atme ruhig und der letzte Schluck Blut ist bereits zwei Minuten her. Ich starre blind auf den Fußgängerübergang vor mir.

Genau an der Kreuzung neben den Glas-Container. Dort habe ich neulich Marleen getroffen. Besser gesagt ging ich direkt an ihr vorbei, sah ihr ins Gesicht und konnte nichts sagen. Sie erkannte mich nicht. Ich hatte meine Haube ins Gesicht gezogen und meine Mundpartie ist seit der Operation eine komplett andere. Außerdem hatte ich wahnsinnig abgenommen. Das waren jedenfalls die selbst ausgestellten Erklärungen für meine Unsichtbarkeit. Als ich an der anderen Straßenseite angekommen war, ließ der Schock nach und ich sah mich um. Marleen fiel genau neben dem Buntglas einem kleinen, etwas dicken Mitte-40er in die Arme. Sie küssten sich lange und hingebungsvoll. Das löste unerklärlichen Ekel in mir aus. Er sah keineswegs haitianisch aus und war eigenartig gekleidet, exotische Stoffe wie der Scheich aus einem Marx Brothers Film, hatte aber kurze glatte Haare, die hellbraun waren und ein wulstiges Profil. Ich sah einem durch und durch hässlichen Mann dabei zu wie er meine Ex-Freundin umtanzte wie ein notgeiler Kapuzineraffe. Tatsächlich erinnerte sein Gehabe an einen betrunkenen Halbwüchsigen. Die übertrieben gespielte Lässigkeit und die präpotenten Körpersprache, furchtbar. Marleens Männergeschmack stellte in jenem Moment eine tiefgehende Beleidigung für mich dar. Wie kann diese Frau mit derart verschiedenartigen Personen ihr sexuelles Beuteschema definieren, einen charakterlosen Freizeitvegetarier und mich in eine Schublade zwängen. Es wurmte mich zusätzlich, dass die Affäre, die mich ja als ihren Partner ablöste, auch schon wieder abgeschrieben zu sein schien. Ich verstand nicht was Marleen sagte und fast manisch verfolgte ich die Beiden für eine halbe Stunde. Sie verschwanden zwei Bezirke später in einem prächtigen Altbau mir erstaunlich schönem Stuck. Kurz abgelenkt von der Fassade hatte ich schon meine Chance verpasst mich vielleicht noch mit ins Haus zu schummeln und Gott weiß welche Wahnsinnstaten zu erdenken. So überkam mich alleingelassen nur ein übermannendes Gefühl von Paranoia. War das Dinetti gewesen? Hatte er sich aus meinem Geist emanzipiert und aus Rache eine Form angenommen die mir, wie ihm natürlich vertraut sein müsste, derartig widerstrebt, nur um meine Ex-Freundin zu schwängern? Es war unmöglich. Ich war ihn losgeworden. Mein Hirn hatte ihn in der Extremsituation deaktiviert. Oder wie soll man das sonst nennen? Dinettis Sphären der Existenz sind nach dem Neustart meiner Seele in der Hundehölle Boliviens für immer verödet. Völlig verunsichert und zitternd kam ich zurück zu Armins Wohnhaus ohne Erinnerung wie ich meinen Weg zurück gefunden hatte. Ich stampfte extra laut auf den elendig hohen und schlecht verarbeiteten Türstock, kickte einen einzelnen Hausschlapfen, der mutterseelenallein am Randstein lag und kroch dann mit blutendem Herzen in den Aufzug. Alte Wunden waren aufgerissen worden.

Oben in der Wohnung warf ich meine Jacke in die Küchenecke und bevor ich auch nur einen einzigen neuen Gedanken hätte fassen können, drängte sich mir beim flüchtigen Blick aus dem Fenster ein absurdes Motiv auf. Direkt auf meiner Höhe im Haus gegenüber saß eine ältere Dame auf dem Fenstersims, den sie die Tage zuvor mehrmals geputzt hatte. Nicht sehr spannend aber auch ungefährlich. Aber da war sie nun, flanierte am Abgrund und ihre in Stützstrümpfe gepackten Beine baumelten in der frischen Mittagsluft. Der Schlapfen, den ich unten auf der Straße weggefetzt hatte, war ihrer gewesen und der übriggebliebene hang bereits unsicher an ihrem linken Fuß. Sie hatte zerzaustes weißes Haar und blickte in trauriger Hast hin und her. Auch wetzte sie unruhig auf der Fensterbank, als ob der Hintern juckte und nur eine gemütliche Stellung gefunden werde müsste. In Wirklichkeit bereitete sie sich mit jedem Millimeter mehr darauf vor zu springen. Ihre grüne Schürze war weit nach oben gerutscht.

Ich war von jenem extrem skurrilen Anblick paralysiert. Langsam der Panik verfallend hatte keine Ahnung was zu tun wäre. Es fühlte sich auf eine komische Art und Weise auch schön an, da es endlich einmal nicht mehr um mich ging. Ich musste an Tante Andi denken. Die Starre unterbrach ich mit einem wienerischen Aufschrei aus dem Fenster.

„Was machen’s denn!?“

Sie blickte zu mir hinüber. Zwei verlebte Irre sahen einander in die Augen, zwischen ihnen eine 25 Meter breite Schlucht. Ungefähr die gleiche Distanz führt auf die dichtbefahrene Straße unter uns, voll mit zornigen Jüngern des Feierabends. Die Dame auf der Fensterbank gab mir keine Antwort, sondern sondierte einfach wieder die Lage am weit entfernten Boden, rutschte dabei langsam vor, sich weiter dem Absturz nähernd. Ich hob langsam den Telefonhörer vom alten Holzstich-Schreibtisch wählte den Polizeinotruf. Dabei behielt ich aber die suizidgefährdete Frau ständig im Auge. Auch wenn das Bild einer zu Tode stürzenden Tante Andi sich für immer in mein Gedächtnis einfressen würde, musste meine Aufmerksamkeit bei ihr bleiben. Aus irgendeinem Grund war ich überzeugt, dass sie erst springen würde, wenn sie sich alleine wähnte. Am Apparat informierte ich hastig die Polizei und sie waren auch schnell zur Stelle. Unten bliesen sie bereits die überdimensionale Hüpfburg auf und der ganze surreale Film ging letztlich gut aus. Als die Nervosität der Frau am Fenster am größten war, schnappte sie plötzlich ein Arm von hinten und zog sie zurück in das dunkle Zimmer, das die verwirrte Frau wohl nicht erwartet hatte wiederzusehen. Ich sackte auf dem Schreibtischsessel zusammen und ließ einen Schrei der Entspannung durch das Atelier röhren. Kurz darauf wählte ich die Nummer meines Chefs. Noch bevor Besserungswünsche und Anfragen hinsichtlich der auf mich zukommenden Tätigkeiten ausgesprochen werden konnten, kündigte ich meine Anstellung mit einem lethargischen Stimmfall.

Nach diesem extremen Hustenanfall zittern meine Hände immer noch. Ich stehe nackt auf der Waage im Bad. Schlaff schaue ich an mit hinab auf die digitale Anzeige. Erstaunlich wie sehr die Zahl 55 aussieht wie das SS der nationalsozialistischen Schutzstaffel. Beim Blick in den Spiegel geht der Holocaust weiter. Wegen der zerschundenen, abgemagerten Züge sehe ich aus wie man sich vergessene Gefängnisinsassen vor dem Hungertod vorstellt. Die Narbe, die über meine Lippen hinweg bis auf die Kinnspitze verläuft verheilt furchtbar unästhetisch. Jedes Lächeln ist immer noch unerträglich schmerzhaft bis tief ins Mark des Kieferknochens. Die Lampe über dem Spiegel blendet. Die Augen direkt darauf gerichtet blinzle ich erst und versuche dann durch die nur fast geschlossenen Lider kleine verspielte Lichtsterne einfallen zu lassen. Ich träne. Das blinkende Neonlicht aus Boliviens Folterzimmer blitzt zwischen den Schlieren auf meiner Hornhaut. Langsam kann ich wieder schmerzfreier atmen. Gut, denn ich muss weinen.

Kapitel — Armin

Lange Zeit, vielleicht schon seit jeher, waren mir Frauen wichtig. Sie hatten immer einen sehr beruhigenden und positiven Einfluss auf mich gehabt. Meine Großmutter war die gütigste Person in meinem Leben. Als sie starb wagte ich mich nicht einmal ins Krankenhaus um mich zu verabschieden. Etwas kippte in mir. Ich begann von jener Zeit an Dinge zu ignorieren und als Kompensation andere nichtige Bereiche meines Lebens aufzublasen wie eine existenzielle Matratze der Ablenkung und Betäubung. Echte Emotionen mutierten bis zur Unkenntlichkeit. Plötzlich gab ich mich als ob mir Frauen unglaublich wichtig wären und mein ganzes Leben sich nur um sie drehe. Manchmal denke ich, wäre ich mit einer Schwester aufgewachsen, vielleicht wäre ich ein besserer Mensch geworden. Die meisten XX-Chromosösen habe ich mir zum unlösbaren Mysterium und unerreichbaren Götzen erkoren. Und dieses Bild von mir als Frauengourmet und Liebhaber der weiblichen Form, gefiel und stand mir immer relativ gut. Ein Gespräch über Mädchen, ich würde es mir sicherlich nicht entgehen lassen. Die ständige Träumerei hat mich schwer an den Eiern. Mittlerweile habe ich sogar entdeckt, dass ich eigentlich herzlich wenig Aufwand betreibe das zarte Geschlecht tatsächlich kennenzulernen. Nichts im Vergleich zu manch anderen. Vielleicht ist mein Leben doch nicht um sie, die „zarten“ Geschöpfe aufgebaut. Denn ich kenne Männer, die nicht ohne die ständige Jagd, ohne eine Beziehung, die ununterbrochene emotionale Bestätigung, also nicht ohne eine Minute Frau leben können. Meine romantisierte Vorstellung fühlt sich an wie eine Farce. Ich bin zu feig, zu faul. Alleine lebe ich leichter. Ich brauche nichts. Zuneigung ist ein Luxus, den ich bloß borgen möchte. Dieses femiphile Credo habe ich doch nie tatsächlich gelebt! Jetzt stehe ich vor einem komplett neuen Bild von mir selbst und entdecke, dass ich mein Leben lang lediglich zugesehen habe, seelenruhig zugesehen wie die Zeit vergeht und Frauen an mir vorbeiziehen. Ob ich sie hasse?

Armin hat seine Koffer immer noch nicht ausgepackt. Seit seiner Rückkehr vor drei Tagen hat er nichts anderes getan als über dem Computer gekrümmt seinen Internetverpflichtungen nachzugehen. Er wirkt sehr abwesend und so sind wir zwei geisterhafte Gestalten in einer dunkel verhangenen Atelier-Wohnung voller weißer Leinwände. Bis heute haben wir kaum zwei Worte miteinander gewechselt. Ich fühlte mein Revier bedroht und ging auf seine stumme und traurige Lethargie nicht ein. Den Anspruch, depressiv zu sein, sah ich schließlich als mein Gewohnheitsrecht an, das alleinig mir allein zustand. Auch war ich richtig beleidigt, dass Armin sich nicht mit Sorge nach den einschneidenden Erlebnissen in Bolivien erkundigte. Da schien ihn etwas schwer zu beschäftigen und seine normalerweise ansteckende Lockerheit zu kastrieren. Glücklicherweise ist aber heute der dritte Sonntag des Monats und wir gehen ins Theater so wie wir es seit fast einem Jahrzehnt zu tun pflegen. Eine Tradition, die weniger mit Kulturbegeisterung als mit Armins geerbtem Kartenabonnement für das Josefstädter Theater zu tun hat. Der Ritus bestand darin unsere schönsten Abendanzüge anzulegen und uns vor der Vorstellung hoffnungslos zu betrinken. An die Inhalte der Stücke überlebten selten konkrete Erinnerungen und bereits zweimal sind wir aufgrund Schnarchens oder ungehemmter Diskutierlautstärke aus dem Saal verwiesen worden. Letztlich ist man für Unterhaltung immer selbst verantwortlich.

Heute liegt ein Schatten über diesem an sich kurzweiligen Ritus. Auch mein Sakko, steif von unzähligen Kotze-bekämpfenden Waschgängen, wehrt sich störrisch gegen den Abend. Herausgelegt auf meinem Gästebett lässt sich eine der Bügelfalten nicht richten, da sie sich in eine unschöne Gabelung direkt auf Oberschenkelhöhe spaltet. Armin grummelt am Telefon und kickt einen Haufen Zigarettenschachteln in die Zigarettenschachtelecke. Etwas gequält erklärt er, nachdem einen wortlosen Abschied in den Hörer keuchte, dass wir nach unserer Vorstellung zu einer Vernissage gehen. Leider würde diese von einem immensen Arschloch-Künstler veranstaltet werden. Auf die Frage, warum wir denn dorthin müssten, wenn das so fürchterlich zu sein verspricht, bekomme ich keine Antwort. Es war nur Armins verächtliches Kichern unterbrochen durch sein langgezogenes Schniefen, da er mittendrin war, seine dritte Bahn Speed zu sich zu nehmen. Das Marschier-Pulver und der Cognac tauen ihn zwar langsam auf, aber ob sein wahrer Gefühlszustand heute noch zum Vorschein kommt? Wir spielen ein Kartenspiel für Volksschüler und machen Witze über mein kaputtes Gesicht. Er meint, ich sehe immer noch besser aus als seine tote Ex-Haushälterin. Das hat ein kurzes schmerzhaftes Lächeln verdient. Ein makaberer Insider-Scherz, denn die Umstände ihres Todes sind so grauenvoll wie sie witzig sind. Bei dem Versuch mit einer großen Tonne die etwaige Müllreste aus Armins Atelier zu räumen, kletterte die Sechzigjährige aus übertriebener Gründlichkeit auf ein relativ hohes Regal voller leerer Terpentin- und Lackdosen. Die Dämpfe machten sie wahrscheinlich etwas unrund im Kopf und darum kam Minkis fauchende Begrüßung zwischen dem Leergut, das die Putzfrau abstauben wollte, als unvermittelt-schreckliche Überraschung. Ein ziemlich brutaler Herzanfall war die Folge und sie landete kopfüber in der Mülltonne. Armin, der sich gerade noch ein Näschen genehmigt und selber tot aussah, fand sie erst am späten Abend auf, die verschiedenen Schichten Unterwäsche und Unterröcke verkehrt um die Tonne drapiert wie eine Krokusblüte, aus der starr ausgestreckt die alten Beine empor wuchsen. Es gibt sogar ein Foto, aber das gesteht Armin fast niemanden. Er schenkt mir deftig nach, raucht eine Zigarette an und bietet mir auch eine an. Ich lehne ab, kopfschüttelnd mit geschlossenen Augen. Ein Batzen Phantomschmerz in der Lunge lallt. Das sind sie wieder, diese Beklemmungen, aber ich lasse mir nichts anmerken. Kein Problem.

Ein Monat nach meinem südamerikanischen Zusammenbruch bekam ich seltsame Schmerzen in der Brust. Als ob mein Herz unregelmäßig mit kleinen Nadeln perforiert würde. In jener Zeit wohnte ich bereits einsam bei Armin, doch meine allmächtige Depression hatte sich damals noch nicht heran entwickelt. Die Cardio-Stiche quasi als gebieterische Vorboten, waren in Wirklichkeit nur ein gewisses Unwohlsein, das an verschiedenen Anlässen in übermannenden Panikattacken kulminierte. So wie es sich an einem Abend begab, dass ich ausnahmsweise an einem der Joints zog, die mein Mittagstürke manchmal konsumierte. Wie erwähnt, fühlte ich eine gewisse Sehnsucht nach Betäubung und hatte zu jenem Zeitpunkt noch nicht Teile meiner Atemorgane erbrochen. Das pure Harz, kilometertief inhaliert, führte zu einer schlimmen Attacke, die sich wie ein Herzinfarkt anfühlte. Besser könnte man dieses unkontrollierbare Gefühl der drückenden Angst nicht beschreiben. Ein Weltmeer zerquetschte meinen Brustkorb. Bloß aus panischer Manie entstand die Überzeugung, dass ich gerade im Inbegriff war zu sterben. Die Atmung verdrehte sich eigenartig nach innen und plötzlich hyperventiliert man, aus purer Verzweiflung heraus. Eigentlich gingen solche Episoden meist schnell vorbei, doch manchmal eben nicht. Es war auch unmöglich zu vorherzusagen, wann, wo, warum und wie lange man sich derart in existenziell-lähmenden Angstzuständen verliert. Jenes Problem verging auch wieder, so wie alles, das schließlich als das erkannt wird, das es ist, und schuf Platz für die Traurigkeit. Beinahe hätte ich es auch schon wieder vergessen. Jedoch jedes Mal beim Missbrauch von lustigen Substanzen — egal ob Cognac oder Poppers — kamen die beißenden Unsicherheiten zurück. Mit der Hand am Herzen und den Gedanken im kalten Grab schleppt man sich dann durch die Nacht.

Ein schrägverkanteter Bretterverschlag. Das ist das grün-schimmernde Bühnenbild. Ansonsten sind nur vereinzelt schwarz-samtene und grenzfällig beleuchtete Sitzwürfel an den Aufgängen zu sehen. Da erscheint auch der überdimensional-rote Gymnastikball wieder, den die plötzlich auftretende Figur mit voller Wucht gegen die erwähnte Holzwand schmettert. Es ist Asif der halbnackte Held der Geschichte und hat nun im zweiten Akt neben seiner Kleidung auch noch die Geduld verloren. Die Kulisse fällt aufgrund des Aufpralls nach hinten um und wir alle sehen einen von schwarzen Vorhängen umgebenen Jungen. Der mag vielleicht zehn Jahre alt sein und ist in ein riesiges Hypo-Vereinsbank-Handtuch eingehüllt. Andächtig zitternd hört er zu wie Asif lamentiert, der das bärtige Gesicht dabei schwitzend in unsere Richtung wirft.

„Ich mache viel und kann nichts richtig.

Ich will alles sein, doch bin nichts richtig. Will mehr noch schaffen, und kann nicht mehr. Will mehr noch sein und bin nichts mehr richtig.“

Ich bemerke, dass ich zustimmend nicke, als mich Armin mit einem versoffen fragenden Blick vom Nachbarsitz ansieht. Peinlich. Die gedichteten Worte des Protagonisten Asif sagen mir wohl unbewusst zu. Ich finde es ja grauslich aufdringlich, wenn Publikum betont zustimmt, um sich mit dem Künstler zu solidarisieren. Bei mir kann es sich nur um genuine Bezauberung handeln, jedenfalls rede ich mir das ein. Lange kann ich leider nicht im Bühnenspiel schwelgen. Einerseits kämpfe ich erneut mit leichtem Schwindel und der Furcht vor einer Panikattacke, und außerdem macht mich dieses elendige Pärchen vor mir ganz krank. Das hässlich-kurzhaarige Mädchen kann ihre verfluchten Finger nicht vom Boy-Toy neben ihr lassen und wühlt durchgehend in dessen dicker Frisur herum. Der Haaransatz ihres Freundes, den sie so gnadenlos mit Kraulen malträtiert, muss doch mittlerweile blutig wund gerieben sein, und, was schlimmer ist, diese saudumme Liebkosung ist direkt in meiner Sichtlinie. Mir scheint auch langsam, als ob der Junge den beginnenden Skalpschmerzen bereits auszuweichen, sich aus den Avancen zu schlängeln versucht, ohne dem Theaterstück natürlich dabei die geringste Aufmerksamkeit zu verwehren. Ich kann schlecht schreiend solche Zuneigung unterbinden.

„Jetzt nimm deine Finger von dem Mann!“

Das bringe ich nicht fertig. Ich unterbreche sicher nicht die für mich unterbrochene Theatervorführung. So etwas machen nur frisch Verliebte, die ich am liebsten durch Willenskraft mit einer seltenen Geschlechtskrankheit infizieren möchte. Ich bin ein Heiliger. Armin fingert ungeschickt an seinem Handy, da er vergessen hat wie man es wieder einschaltet. Künstler. Mein Blick gleitet zurück zur Bühne. Und schon wieder hat sie ihre gierigen Wurstfinger in seinen Haarenwirbel, „liebkosen“ und streicheln seinen leidenden Hinterkopf. Das Problem ist, dass jede begeisterte Reaktion des jungen Manns über die Vorstellung mit einer ihrer Berührungen beantwortet werden muss. Sie denkt wohl, dass sie so in ihrem Freund Wohlgefallen durch Hand auflegen konditionieren kann. Oder sie fühlt sich nicht genug beachtet. Du dumme Nuss, wie kann man auf ein Theaterstück eifersüchtig sein?! Er wird massiert und ich sehe tatenlose zu.

„Ein Mittelweg ist schwer zu finden, da dein Dasein mich schon schmerzt. Nun verlauf ich mich in Phrasen um dich zu schützen stolzes Herz. Früher störte mich nicht minder dass die anderen dich verlangten. Nun hörst du Biedern, dummes Wort, das zu ehrlich ist um zu gefallen.“

Ist Asif in den kleinen Jungen verliebt? Das ist dann doch etwas Fritzl. Bin ich empört? Werde ich zu alt für modernes Drama? Früher hat mir das Theater gut gefallen. Ausgeklügeltes Dekor machte mir den Mund wässrig und körperliche Raumerschließung begeisterte mich, gerade wenn sie die Begrenztheit der Bühne nahezu magisch überwand. Ich konnte die Blasen an den Händen der Ausstatter spüren und roch den brüchigen Leim, der die Kunstgeschichte-zitierenden Holzkonstruktionen zusammenhielt. Ich liebte den Kitzel unter der Haut, wenn Schauspiel wahrlich funktionierte. Jener Götterfunke, der Dramaturgie über Bühne und Mensch zum Leben erweckt. Doch irgendwo zwischen den arroganten Ansprachen bei inzestuösen Preisverleihungen und einem rettungslos verdammten Privatfernsehen bin ich geistig wohl mutiert. Mein Geschmack ist verhärtet und fein zerbröckelt.

Vielleicht habe ich heute auch einfach nicht genug getrunken. Mein Kiefer tut weh und ich sehne mich nach meinen Tabletten. Es sticht brummend im Kieferknochen wenn ich die Backenzähne aneinander presse. Ich kann mit dem neurotischen Knirschen nicht aufhören. Der Schmerz ist nicht brutal genug, um mich zurechtzuweisen, und trotzdem werden meine Augen wässrig. Im okularen Außenwinkel sehe ich Armin. Er schaut ständig auf sein Mobiltelefon, in Erwartung auf die richtigen Worte des richtigen Menschen. Warum will er auch auf eine Feier, okkupiert von Arschlöchern, und das dann auch noch pünktlich?

Der Junge läuft von der Bühne und Asif bricht weinend am Boden zusammen. Ich habe komplett den Faden verloren. Nein! Jetzt hat sie schon wieder die Hand auf dem Schädel meines Vordermanns. Wenn nicht gleich Pause ist oder der Kraken aufhört mit der Schmuserei, wichse ich beiden das Programmheft um die Ohren. Mit dem Aufleuchten des Saals, was strahlend selbsterklärend die Pause signalisiert, fasst mich Armin an der Schulter. Glasige Augen und seine kalt verschwitzte Stirn verraten mir bevor er seinen Mund öffnet, dass wir die zweite Hälfte des Stücks wohl schwänzen werden. Mir soll es recht sein. Plötzlich wird mir auch klar von was sein Drängen herrühren könnte.

Armin war schon immer ein altkluger Alleswisser gewesen, der eine extrovertierte Begabung aufwies, Menschen wahrhaftig zu verstehen und gleichzeitig zu beruhigen. Wenn er nur wollte, konnte er einen ganzen Raum agitieren. Mich machte seine Art zu leben wahnsinnig, löst immer wieder das unausweichliche Kopfschütteln aus. Dabei war ich auch so unendlich glücklich mit einem solch außergewöhnlichen Menschen befreundet und vertraut zu sein. Armin hatte immer eine dunkelgekleidete Skater-Erscheinung mit Kapuzenpullover und weiten militärartigen Hosen. Seine vielen Talente bis jetzt umfasst Gravuren, Öl- und Pastellgemälde, sowie detaillierter Ätzungen verschiedenster Art. Zu keiner Kunstrichtung fand er bis heute den überzeugten Zugang, brillierte aber in allen. Ein gottverdammtes Genie, dieser Mann.

Als ich ihm das und ähnliches einmal gestand, wurde er still und erschien merkwürdig versauert. Scheinbar war er auch in der Selbstreflexion bewandert, denn er fing an zu grummeln.

„Hannes, wir beide sind ein Schlag von Männern, die nie mit einer Frau zufrieden sein werden. Egal ob sie innere oder optische Fehler aufweisen oder makellose Wesen sind. Es hat auch nichts mit ihren Handlungen zu tun. Der Grund für unsere unnahbare Idiotie ist eine Form von neuzeitlicher, männlicher Neurose, für die ich mir irgendwann noch einen passenden Namen ausdenken muss. Wir sind innerlich korrumpiert und können Frauen nicht mehr vertrauen. Abgesehen davon, dass ihnen auch keinesfalls zu vertrauen ist.“

„Warum?“

Meine Antwort war leise und erwartungsvoll.

„Ich weiß nicht. Aber fühlst du es nicht auch. Ich habe sie satt, zu vieles gesehen, zu viel erlebt. Sie haben mich ausgelaugt und zeigten mir Abgründe, die Luzifer erschauern ließen. Ich habe nun andere Dinge im Sinn. Höhere Ziele!“

Ich wusste damals was Armin meinte, und sah dadurch auch wieder die enge Verbundenheit, die wir teilten. Aber trotz unserer langen Freundschaft weiß ich bis zum heutigen Tage nicht genau, was oder besser wer der Ursprung seiner sexuellen Frustration war. Jemand hatte die Krallen an jenem tiefgründigen Menschen gewetzt und ihn mit dem ausgedörrten Herzen eines räudigen Hunds zurückgelassen. Zu Gesicht bekam man diese Seite Armins jedoch selten. Er war keineswegs eine jähzornige Person, umgänglich und nicht derartig ungeschickt mit den Frauen wie ich. Das Problem ist einfach, dass er, der Künstler, sie alle dafür hasst, dass sie ihn lieben.

Nach einem sehr besonderen Abend im Theater vor zwei Jahren zogen wir uns in feinster Montur in das Lokal „Morgenstern“ zurück. Dort verdauten wir den Betrug von Othellos Weib und dessen Folgen. Armin hatte in jener Nacht drei Portionen LSD gelutscht und stand kurz vor seinem berauschenden Höhepunkt. Er atmete schwer und warf seine Telleraugen in die verrauchte Stube des Beisels.

„Siehst du die da? Die neben dem schrecklich hässlichen 50er Jahre Filmplakat, da vorne in der Ecke mit dem Buch.“

„Ja, sie liest.“

„Natürlich liest sie, denn sie wird auch nicht vom endlosen Trieb zu Ficken gestört. Noch zwei Averner, mein guter Mann, ohne alles.“

Der Kellner schwebte bierbauchig und kopfnickend davon ohne einmal kurz angehalten zu haben. Das Mädchen in der Ecke war in wenigen Worten eine ultrasexuelle Verlockung. Jene wurde gerade durch ihr offenbares Desinteresse noch verstärkt. Ein schlichtes schwarzes Oberteil ließ gerade genug Brust erahnen um den gemeinen Blick zu fangen. Eine dunkle Strähne hing aus dem ordentlich verknoteten Bausch am Hinterkopf herausfordernd ins hübsche runde Gesicht. Was sie jedoch zu unserer visuellen Fliegenfalle machte, waren die engen schwarzen Leggins, die matt formend in ihre strengen Lederhalbstiefel verliefen. In diese perfekten, über einander geschlagenen Beine wollte sich Armin sichtlich verbeißen und vermutlich noch weiter vor. In mir blubberten alte Kommentare von Marleen auf. In Bezug auf Leggins war sie nicht gut zu sprechen. Wie sehr sie meinen Geist kontrollierte! Ich hätte mir gerne eine eigene Meinung gemacht. War ich einfach ein erbarmungswürdiger Feigling mit chronisch schlechtem Gewissen. Egal, Armin wurde von Sekunde zu Sekunde furioser, fauchte seine Brunft tief aus der Kehle und langsam fürchtete ich, dass er die stille Schönheit jeden Moment bespringen mochte. Ohne sich abzuwenden grummelte er fanatisch in seine Bierschaumkrone.

„Feministinnen haben schon Recht, mit den Vorwürfen an die Männerschaft. Ich will tatsächlich diese Frau besitzen. Ich möchte Herrschaft über sie haben. Genau wie sie uns besitzen. Doch es gibt kein geschlechtliches Gleichgewicht. Keiner weiß, welcher Ideologie man hinterherlaufen soll, welcher Stereotyp am besten zu einem passt. Weshalb geht man für Sex Kompromisse ein, durch die man das eigene Geschlecht desertiert. Wozu denn dieses ganze Beziehungselend? Nur dass man sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt glaubt? Dass man vor seinen Freunden angeben kann?“

„Armin, was ist denn passiert?“

Seine Verzweiflung machte mir Sorgen. Ich wollte aber auch vermeiden, dass er sich in etwas hinein steigert.

„Nichts wirklich, nur eben das Gleiche immer und immer wieder.“

Darauf trank ich still meinen billigen Kräuterschnaps und tupfte übriggebliebene Salzbrösel von meinem leeren Brotteller auf. Armin nahm die ganze Zeit über nicht die Augen von dem Beatnik Mädchen, das auch langsam etwas verspannter die Seiten umblätterte. Kurz sah ich auch ihre Augen aufspringen und uns in die Mangel nehmen. Ihre Mini-Stirnfalte leuchtete stärker als tausend Warnsignale. Nur ein flüchtiger Moment. Sofort konzentrierte sie sich wieder auf das geschriebene Wort des umschlag- und titellosen Buches. Ob sich Frauen intuitiv darüber Klaren sind, dass sie ständig von allen Seiten mit Blicken gefickt werden. Jene junge Dame war aber noch entschieden genug, uns zu ignorieren. Aus dem Nichts fuhr mich Armin scharf an mit einem klebrig-oralen Sprühregen aus Alkohol.

„Die Kommunikation zwischen den Geschlechtern ist tot. Genau wie die Rollen, die früher alles erleichterten. Wir sind so damit beschäftigt irgendwelche Dinge nicht zu repräsentieren, dass wir vergessen haben was uns vielleicht an unserer sexuellen Identität gefallen könnte. Hauptsache man ist nicht definitiv.“

Mit Fistelstimme gab Armin den Gedankengang eines Zeitgenossen wieder. Das Bier schwappte.

„Ein einziges mich beschreibendes Eigenschaftswort bedeutet Krieg. Keiner kennt mich. Keiner soll glauben, mir sagt jene Ideologie zu oder diese Musik sei mir wichtig. Nur keine Schwächen beweisen durch tatsächlich menschliche Affektion. Meine Meinung ist verwaschen, und sie zu äußern ist die Todsünde. Ich will mich nicht preisgeben, denn dann müsste ich zu einer Aussage stehen. Kompletter Schwachsinn! Sieh es dir an, Hannes. Das Fleisch. Oh, Gott, sag mir, darf man so ein geil geformtes Wesen begehren oder nur zu bestimmten Zeiten. Wie darf sie mich wahrnehmen, transparent oder mit dickem Fell. Wann ist man wirklich die Person, die man ist. Ich weiß es einfach nicht. Ich habe keine Ahnung.“

„Ja … ich auch nicht.“

Ein junges Mädchen mit einem vollem Lockenkopf und dicken rahmenlosen Brillengläsern schrie in dem Moment völlig unvermittelt auf. Sie war die ganze Zeit über schon am Nachbartisch hinter uns gesessen und hatte offensichtlich das ganze verzweifelte Manifest Armins mit angehört. Ich hatte noch nie eine dermaßen wutentbrannte Gymnasiastin gesehen.

„Eben! Keine Ahnung habt ihr in eurem Affenschädel.“

Nach diesem Ausbruch, der zwei Gläser auf unserem Tisch das Leben kostete, und Armin wahrscheinlich den größten Schrecken seines Lebens, planierte sie sich durch die verschiedenen Sessel den Weg frei, wobei einige fielen. Wir blieben dumm erstarrt zurück, wie zwei Kleriker nach einer Prostatauntersuchung. Sprachlos fühlten wir uns peinlichst ertappt und gleichzeitig bestätigt. Das Beatnik Mädchen hatte die ganze absurde Einlage eher unberührt beobachtet. Sie nahm ihr Buch unter den Arm, einen grauen Mantel unter den anderen und griff sich ihr Soft-Packung Smart. Besinnlich und diese Szene dabei fast zelebrierend schritt sie ruhig vorbei an unserem Tisch. Das langsam abwechselnde Geräusch ihrer Schuhe auf dem Holzboden klopfte laut und hämisch. Sie sah mit einem stoischen Ausdruck erst Armin, dann mir in die Augen und streckte die Lippen vor. Das war mitnichten eine erotische Geste oder dergleichen, sondern eine der Dominanz, die unsere Scham noch etwas bestärken sollte. Mit der gleichen gemächlichen Geschwindigkeit stöckelte sie zur Tür hinaus.

Wir sind auf der Vernissage im verlassensten Kaffeehaus Wiens. Unverputzte Wände werden von zig Selbstportraits in den scheußlichsten Farben verschandelt. Der Künstler heißt Konrad, wobei ich nicht weiß, ob es dabei um seinen Vor- oder Nachnamen handelt. Alle sitzen im Schneidersitz rund um eine Shisha, die nicht einmal mehr in Verwendung zu sein scheint, auf staubigen Kissen. Ich knarze am Parkett und täusche in Zeitlupe vor mir die abscheulichen Aquarelle anzusehen. Warum ist Konrad überhaupt Maler?! Ich finde es unmenschlich, dass die Leute ihren untalentierten Freunden die offensichtliche aber unangenehme Wahrheit nicht gestehen. Künstlerisches Talent bedeutet fähig zu sein seine Fähigkeit im Ganzen zu vermitteln. Dagewesenes lachhaft zu kopieren und unästhetische Unfälle als Stilistik zu verkaufen, ist wohl das genaue Gegenteil von Talent. Konrad hatte keines. Wiederwillig bewege ich mich langsam in die Nähe des peinlichen Künstlerzirkels. Leise kloppt Dub Step aus dem Nebenzimmer und durch das dreckige Schaufenster werden die eigentümlichen Gestalten am Boden von fahlem Licht erhellt. Ein schlaksiger Glatzkopf, der hauptsächlich aus einem Filzschal bestehen zu scheint lacht wie eine Robbe. Seine unförmige Begleiterin kaut grinsend und unüberhörbar einen Kaugummi. Sie scannt den Raum wie ein Adler auf der Suche nach einem komplimentierenden Wort oder einen Blick, in Bezug auf ihre tollen Audrey Hepburn Sonnenbrillen. Ein sehr kaukasischer Junge mit Dreadlocks geht, durch eine Schuhschachtel voller Bravo-Hits und zeigt wortlos dem bärtigen Troll im Armani Jogginganzug neben ihm, abwechselnd bestimmte Titel nur um sie stumm kichernd zurück zu stecken. Der gleiche Typ hat mich mal davon überzeugen wollen, dass wenn Wörter eine Klangverwandtschaft haben, sie auch eine Sinnverwandtschaft aufweisen. Sowas wie „weed“ und „peace“. Episch nickend dachte er, die Möchtegern-Information hätte nun die Grenzen meines Bewusstseins gesprengt.

Armin hockt unzufrieden neben einem Mädchen namens Lilli. Sie ist in eine fette Strickjacke gewickelt und hat blendend stark gebleichte Haare mit brünettem Ansatz. Sie sucht für Armin eine Textnachricht auf ihrem Handy. Der Künstler Konrad erzählt uns, dem letztem Rest einer leckgeschlagenen und abgesoffenen Ausstellung, lauthals uninteressante Anekdoten über universelle Unwichtigkeiten. Da ich seinem Blickbereich zu nahe gekommen bin, zündet er seine obsoleten Informationsraketen direkt in Richtung meiner Wenigkeit. Armin redet immer noch mit gedämpfter Stimme auf Lilli ein. Sie zuckt ständig mit den Schultern und er wird immer ungehaltener. Ob er wohl ursprünglich eine ihrer Freundinnen hier treffen wollte?

Der Armani-Troll reicht mir plötzlich mit konzentrierter Handführung eine CD Hülle. So nett ist sein Ausdruck zwischen dem dichten grauroten Haarschmuck, dass ich ihm ohne zu überlegen das Album abnehme. „Das Beste von Andi Borg“ und darauf sind einige weiß-gelbe Häufchen Ketamin aufgelegt. Das kenn ich schon. Wenn diese Pseudo-Avantgardisten keine ordentlichen Drogen mehr übrig haben, fallen sie immer auf die dreckigen Substitute zurück. Ich hasse das Zeug. Eine Depression in hochkonzentrierter Form. Das letzte was ich jetzt brauche. Ich genehmige mir ein minimales Eckchen und warte bis meine Nebenhöhlen langsam zerlaufen. Armin ist mittlerweile nur noch trotzig und versucht in der hintersten Ecke des Kaffees jemanden am Handy zu erreichen. Scheinbar hat er kein Glück und trinkt fürchterlich pur und schrecklich schnell seine Flasche Saphire Gin. Als er zurück zu uns, der lahmsten Elite des Landes, torkelt, fokussiert er Lilli. Er setzt sich zu ihr oder besser auf sie. Ein Bein über ihre gefalteten Knie und seine Arme klammern sie eng. Lilli behält weiter ihr gelassenes Halblächeln. Er flüstert ihr leise keuchend Wahrheiten ins Ohr.

Gerade jetzt hat auch der zottelige Kifferkönig endlich eine Bravo CD aus dem Ramschkarton geborgen, die ihm auch wirklich behagt. Lautstark will er uns nun damit unterhalten. Dinetti hätte sie schon längst alle in der Luft zerrissen diese Leute, vielleicht als türkischer Kickboxer ihre eingebildeten Visagen geplättet. „Stop, in the name of love“ Lilli windet sich aus Armins Umklammerung und nickt ihm mit unterstreichend geschlossenen Augen zu. Er wirft die Brauen in die Luft.

„Was? Was ist?“

Sie windet sich aus Armins Besteigung, steht auf, gibt dem Trollmann einen Kuss und schüttelt Konrads Hand zum Abschied. Dieser redet nun schon seit einigen Minuten auf mich ein. Schwarz Violett. Da lallt auch der Glatzenmensch Armin mit seiner unangenehmen, geiernden Stimme direkt ins Gesicht.

„Zack, harter Schlag. Und ich dachte dir kann keine widerstehen, Armin.“

Dieser Mann wird jetzt sterben! Armin zischt aber nur kurz und mit geschlossenen Augen grummelt er wie von Kopfschmerzen geplagt.

„In Wahrheit staube ich nur mit genug Speed in der Blutbahn manchmal eine ab. Ich rede einfach solange auf sie ein, bis sie aufgeben. Das elende Gefühl. Das bin halt nicht ich. Ich bin feig. Der schönste Moment für mich ist doch immer, wenn man komplett befriedigt eine fremde Wohnung verlässt. Die Hände riechen noch nach einem Cocktail aller ihrer Körperöffnungen. Man schwebt halbgrinsend durch die Gassen. Sobald man zu Hause ankommt, lassen die Endorphine sofort nach und alles kippt. Man will etwas Handfestes um die Leere zu füllen. Man will die Energie zurück. Und auf zum nächsten Speed-Automaten.“

Alle übrigen sind gruselig still geworden. Nur Konrad redet einfach etwas leiser weiter. Will er mir gerade tatsächlich erzählen, dass er das Baby auf der Nevermind Platte war? Armin scheint dem Weinen nahe und ich fühle mich in keinster Weise fähig jemanden zu trösten, gerade in dem elenden Zustand in dem ich mich selbst befinde. Mein bester Freund sieht mir direkt in die Augen. Er rotzt einmal gekonnt und lässt den Batzen mit gespitzten Lippen und mit erstaunlichen Momentum in Richtung der größeren Lackbilder von Konrad fliegen. Dieser, bis jetzt mein Peiniger, hört nun doch auf zu sprechen und dreht sich grinsend zu Armin. Dieser wiederrum ist heiß und will zerstören.

„Konrad du arme Sau, deine Bilder sind der letzte Grind. Es gibt wahrhaftig nichts Schlimmeres als einen Künstler der motiviert aber untalentiert ist!“

Ich liebe diesen Mann. Konrad grinst einfach weiter und kontrolliert mit leichter Unsicherheit die Reaktionen der anderen. Dann legt er den Kopf zur Seite und kontert nach einer etwas zu langen Pause.

„Jeder ist Kunstkritiker.” Konrad hält sich für schlau, aber Armin ist nun ein gnadenloser Golem.

“Ja, natürlich, so muss es auch sein! Oder willst du, dass deine Arbeiten kritiklos hingenommen werden, dass du von nickenden Zombies in Designer-Jogginghosen mit hirnlosem Lob überhäuft wirst? Nur weil du zufällig irgendeine Form von Form auf Papier gebracht hast, hältst du es gleich für ein Gottesgeschenk?! Du bist halt in der Szene und deshalb kannst du uns mit grottenschlechten Ausstellungen quälen. Alles was du in deinen lahmen Dekaden-Abschnitten ausscheißt bekommt nur durch die aufopfernde Hilfe einiger gutherziger Freunde von dir Beachtung. Ja, ich bin Kritiker, alle sollten Kritiker sein, nur eben ehrliche!”

“Manche haben mehr Ahnung als andere.” Konrad reibt sich nervös den Nacken. Armin ist zum beschwörenden Schamanen geworden und hockt vor uns mit weit aufgerissenen Augen. Sie glühen wie Sprühkerzen.

„Willst du mir das Recht zu einer Meinung absprechen, Konrad?“

„Nein!“

„Meine ist einfach ein bisschen weniger wert. Willst du das sagen?“

„Keineswegs. Warum attackierst du mich überhaupt? Du bist doch nicht anders, lungerst in der gleichen Nische zwischen Kunst und Idioten herum, genau wie ich.“

„Das stimmt, wenn ich nicht das unverschämte Glück gehabt hätte, von ignoranten Geldtreibern als ein interessanter Kunstschaffender abgestempelt zu werden, würde ich heute einsam und versoffen in einem dunklen Altbaukeller um Luft ringen und an was-weiß-ich elendig verrecken. Keinen grauslichen Vernissage-Sekt und billigen Räucherlachs müsste ich zwangsverdauen. Zu keinen hirnschwangeren Ideen müsste ich gütig nicken. Mit den Heuchlern heucheln, mit der elitären Meute meutern. Das Ausmaß meines Selbstbetrugs, MEIN einziges. Wie wird man denn zu dem was man hasst? Ich kann mich kaum noch erinnern an letzte Woche! Mit diesen Komabesäufnissen seit Jahren, der unkontrollierten Kifferei und dem ganzen Pulver habe ich mir damals mein ganzes Leben ausradiert. Mein Gedächtnis ist zu porösem Geröll vertrocknet. Ich habe deshalb wahrscheinlich angefangen momentane Gefühlszustände über zu bewerten und auf mein ganzes Leben zurück zu projizieren. In der Katerdepression liege ich dann auf der Klomatte und kann mich nicht an eine einzige schöne Zeit meines Lebens erinnern, verzweifle an dieser Armut an menschlicher Erfahrung. Klar, ist das Blödsinn, aber auch erschreckend relativ. Wenn man die Gespräche, die Themen, das Lachen und Leiden nicht mehr weiß, und nichts davon niemals wieder erwähnt werden sollte, so ist es letztlich nicht existent, ausgelöscht. Vielleicht hie und da einmal sind es alte Bilder, die da aufblitzen, nach langer Zeit und ich kichere leise im Atelier vor mich hin, doch in Wirklichkeit ist mein halbes Leben verloren, was weiß ich, vielleicht mehr. Und das Verlangen bleibt, das Verlangen mich selbst zu überdrehen, mich zu verreiben wie einen Moped-Motor, mich zu belasten wie eine alte Bierbank, den ganzen scheiß Körper samt Hirn ins Chaos hinaus zu blasen. Das Vergessen zu vergessen. Konrad, ich bin kurz davor unser Gespräch hier für immer zu verlieren, spätestens morgen, vielleicht erst nächste Woche, aber unvermeidbar. Und darum vergleich mich nicht mit dir. Du würdest ein schwarzes Loch dein Leben nennen.“

Armin scheitert kläglich bei dem Versuch die leere Flasche am Boden zu zerschlagen und rotiert plötzlich nur noch leise hin und her. Er rudert leicht mit den Armen, da er nicht mehr fähig ist aufzustehen. Der Lustige mit den Dreadlocks steht im Türstock des Nebenzimmers und wartet nur darauf Captain Jaxx wieder lauter drehen zu dürfen. Ist der Streit vorbei? Konrad tauscht Hipster-Blicke aus mit dem Schalmenschen. Sie versuchen Armins Rede als peinlichen Irrsinn abzustempeln und nicht als das Ehrlichste was die zwei zu Lebenszeiten jemals erfahren werden. Ich bemerke, dass ich abseits stehe. Wie bin ich hier hin gekommen, ganz nach hinten? Mein Kopf summt auf selber Frequenz wie die Klimaanalage über mir. Ich bin unglaublich betrunken.

Ein Problem mit dem Alkohol und dem ständigem Konsum war schon immer, dass man nach einiger Zeit im nüchternen Zustand immer mehr einer geistigen und sozialen Hilflosigkeit verfällt. Wie ein Kleinkind dem das Kuscheltuch fehlt. Man findet ohne den Rausch keinen Zugang zur Welt und auch nicht die Überwindung sich mit eben dieser auseinander zu setzen. Nüchtern wurde ich in manchen Phasen meines Lebens immer erbärmlicher und feige. Dafür erwiesen sich meine betrunkenen Zustände als zusehends manisch und unberechenbarer.

Es war wohl Armins 30er Geburtstag. Keineswegs die goldenen Jahre meines Lebens. Marleen wollte mich damals aus Gründen, die vielleicht heute erst wirklich Sinn machen, nicht zur Feier in Grinzing begleiten. In einem mittlerweile geschlossenen Heurigen mit Schanigartenanbau verwandelten wir Nussschnaps und unzählige Biere zu Wasser. Alle möglichen Versionen von wirren Unbekanntschaften waren damals vertreten. Halsgeschwulstverlegerin, Bleichzahnbildhauer, Schweißgeruchagentin, Fingertickregieassistentin, Einbeinkrückenkoch und so weiter. Es war eine Freakshow und ich war der einzige Besucher. Oder war ich der Kotzehemdingenieur? Was an jenem Abend jedenfalls zählte war die fette Gans auf meinem Teller und die geile Sau mir gegenüber. Ihre Züge oder physiologischen Eigenschaften noch genauer zu beschreiben bleibt unmöglich und unwichtig. Der Schnaps zensierte alles. Was aber blieb war die das Gefühl des Moments, als ich ihr nach einer wortlosen Starrorgie auf die Toilette im Hof folgte und mir Gedanken des wilden Sexes zwischen den Sträuchern durch den Kopf gingen. Am nächsten Tag war ein Unwohlsein geboren. Nicht bloß bedingt durch die körperliche Ermattung, sondern es zog sich durch den gesamten Körper und ich hatte eine Ahnung, dass ich mich vielleicht nicht allzu gut betragen hatte. Später erfuhr ich dann auch von einer bestürzten Bekannten, dass ich der gesichtslosen Erwählten tatsächlich die Freiluftbesteigung angeboten hatte. Sie war nicht erfreut gewesen. Wie Marleen von dieser Geschichte nie etwas erfahren hat ist mir völlig unerklärlich. Glück gehabt. Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit wo die Grenzen des betrunkenen Charmes liegen und wie tief ein elender Mensch sinken kann.

Kann man sein ganzes Leben verdenken. Oder sind verpasste Momente die Grundlage für ein ruhiges glückliches Leben. Ich war einmal unsterblich verliebt in eine zauberhafte Mitschülerin, die alles und jeden gern hatte, doch trotzdem dabei kritisch dachte. Naja, um realistisch zu bleiben, sie war dermaßen süß in meinen Augen, dass sie genauso die Wichtigkeit von gezieltem Völkermord predigen hätte können ohne meine Gunst zu verlieren. Ich wäre ihr trotz allem verfallen. Idiot, der ich war, kam das nie zu einer Aussprache. Stattdessen baute ich mir Traumschlösser aus erwiderter Liebe und intimer Gemeinsamkeit. Nichts davon geschah in Wirklichkeit und wahrscheinlich würde sie mich mittlerweile nicht einmal auf der Straße wiedererkennen. Wie sah ihr Gesicht aus? Sie war klein und nicht klassisch weiblich von ihren Proportionen her gemessen. Und eines verregneten Tages machte ich meinen Schritt ins neue Land, genannt Realität. Ich fragte sie, sogar noch des Öfteren in den folgenden Monaten, und bekam stets eine ernüchternde Antwort. Ablehnung ist zerstörerisch und kann gepaart mit Obsession, die auf perfekt gepflegten Fantasien aufbaut, ein emotionales Hinkebein für die Ewigkeit verursachen.

Als ich später Architektur studierte, Bauwesen und Sprengstoffe,< traf ich nie wieder auf jemanden dem ich nur annähernd so viel Zeit widmete, jedenfalls was die geistige Beschäftigung mit der Welt des Konjunktivs betrifft. Alles was Mädchen von da an in mir auslösten, sollte ich sogar in einer Form der engeren Beziehung mit ihnen stehen, war der Wunsch nach Ablenkung. Ich fand nie mehr Ruhe im Schoß einer Frau. Und Dinetti wusste bald um Methoden mich abzulenken. Um ehrlich zu sein, war das wohl sein Ursprung. Da wurde er reanimiert aus einer alten Zeichnung, die ich als Kind auf das Papier mit dem Logo des Dinetti-Hotels gekritzelt hatte. Mein Vater erzählte oft davon. Ich brabbelte mit dem Gummibleistift in der Hand von einem Freund. Dieser Freund wäre besonders toll, da er alle Gesichter hat. Alle Menschen in einem Körper. Das sei nämlich ganz praktisch, da man durch ihn auf einen Ruck die ganze Welt kenne. Es fühlt sich an, als sei seitdem furchtbar wenig Zeit vergangen. Ich sehe mich selbst in diesen Erinnerungen. Dinetti hatte keine Schuld. Dieser kleine Hannes, mit dem großem Kopf, dem ungeraden Haarschnitt und Booten auf der Jacke, war schon immer der wahre Übeltäter gewesen.

Konrad gibt sich nach der Auseinandersetzung mit Armin nachdenklich, welcher wiederum auf einer Hundedecke in der Ecke schläft. Vor allem hält Konrad aber sein Maul. Danke Armin, du betrunkener Held der gesamten Menschheit. Leider Gottes hat nun der glatzköpfige Schalträger mit seinem unaussprechbaren nordeuropäischen Namen das Wort ergriffen und bringt uns langsam damit um.

„Naja, das Fernsehen mag ich schon, also das TV-Gerät ansich, schlecht für die Augen wird es wohl sein und so weiter, aber es gibt viel schlimmere Nebeneffekte des endlosen Programms. Meiner Meinung nach frisst Fernsehen die Seele auf, erdrosselt einen kreativ und es bleibt einem nichts anderes übrig als sich immer wieder zu ertappen wie man lächerliche Idioten aus blöden Serien zitiert. Wollen wir wirklich alle seelenlos sein?“

Als sich mein Mund öffnet merke ich, dass ich den ganzen Abend noch kein Wort gesprochen habe. Es klingt alles weniger sarkastisch als beabsichtig.

„Na, dann hätten wir wenigstens alle etwas gemeinsam.“

Umgehend will ich dieses Loch verlassen. Ich greife Armin unter die feuchten Achseln und hebel ihn aus. Mit einem furchteinflößenden Schnurren lässt er sich erstaunlich bereitwillig auf beide Beine stellen. Schalmann geht erst gar nicht auf meinen pseudoprovokanten Emo-Spruch ein und hüstelt mit seinem überdimensionalen Kehlkopf prophetisch weiter.

„Das sind doch alles ermüdende Banalitäten, die in da im Fernsehen angehäuft werden. Ich halte dieses Gefasel über Stars und Sternchen nicht aus, über Musiker und Celebrities, der ganze Gossip. Lächerlich, Leute, die das interessiert können sich doch gleich begraben.“

Armin bricht mir aus den Armen und flitzt auf den unvorbereiteten Ikea-Hasser im Schal zu. Ein spirituosen-beflügelter Sprung und mein bester Freund packt die Glatze des riesigen Intellektuellen und zieht dessen Gesicht hin zu seinem eigenen. Da speit ihm Armin den ganzen angestauten Trotz einer ganzen Dekade ins Gesicht.

„Hurenkind! Jeder fachsimpelt über Banalitäten! Auch du, nur dass man schwer objektive Schlüsse ziehen kann, wenn man bis oben hin voll ist mit halbverdauter Selbstgerechtigkeit. Keiner der Fernseh-Junkies erhebt sich so über die Menschheit wie du es tust. Ja, auch du gibst nichts als unwichtigem Halbwissen und Szenetratsch von dir. Bei dir geht es dann über Ausstellungen und dänische Life-Style-Zeitschriften. Aber in was für einer Welt ist so etwas wertvoller als der Kronenzeitungleser, der Drogengeständnisse von Lissi Engstler verschlingt. Wie hast du dir bitte mehr Existenzberechtigung erschlichen? Nur weil du mir mit verbundenen Augen den Unterschied zwischen Zeder und Fichte verraten kannst und einen Schiele zu Hause hängen hast, fick ich trotzdem lieber deine Putzfrau als die debile Vorzeigefrau von dir. Außerdem hasse ich Leute, die einfach nur das Offensichtliche nachsagen wie behinderte Humanismus-Papageien. Tu mir einen gefallen und schmeiß dich in die Wien!“

Im Taxi ist es still. Auch der Funk scheint abgestellt. Letzte Fahrt für den Herren Jaa, unser stummer Vietnamese. Ich bin im gleichen Ausmaß frustriert wie ich besoffen bin. Armin presst die Augen zu und schnauft auf eine Art und Weise, die an Coitus erinnert. Er zischt auch regelmäßig eine Adresse durch die Zähne, zieht dabei Spuckefäden auf der ganzen Hinterbank. Alkohol macht ihn hässlich. Nicht bloß innerlich, auf eine unfähige erbärmliche Art und Weise, sondern auch äußerlich. Sein Unglück wird mit dem Suff nach außen gespult und hängt da wie ein Fetzen Scheiße, der nicht runterfallen will.

Er will zu dem Mädchen, dass heute nicht zur Vernissage kam. Er bellt den Straßennamen in die Rückseite des Fahrersitzes. Lilli ist wohl befreundet mit Armins Herzensdame, konnte aber seine Enttäuschung weder durch die Überbringung einer kurzgehaltenen Absage per SMS noch durch Ersatzliebeleien mindern. Ich versuche dem Fahrer mit einer Handbewegung zu signalisieren, dass die Wegangaben meines Freundes zu ignorieren seien, aber wage nicht laut zu sprechen. Armin brodelt neben mir wie Ätna und ich traue ihm in diesem seinem Zustand beinahe alles zu. So durchkreuze ich seine Pläne nicht und möchte weinen. Lange erfüllt nur das rhythmische Hecheln des großen Künstlers neben mir die Atmosphäre. Eine todtraurige Fahrt in die Richtung einer hoffnungslosen Schnapsidee.

In Klosterneuburg rollt der Wagen aus. Es ist fünf Uhr Morgens, ein stinkender Mann mit rotem Kopf und trockener Taubenscheiße in den Haaren steigt mit weiten unpräzisen Schritten auf ein Gittertor zu. Er heult schon beim ersten Meter auf. Es klingt teils nach einem unnachvollziehbaren Frauennamen. Ihre Haustür will er bewachen wie ein treuer Wachhund oder alles in greifbarer Nähe besudeln wie der Köter, der er gerade ist. Der Vietnamese und ich warten im Auto. Wir hören Schreie von draußen und meine Lunge schrumpft zu einer Rosine zusammen. Wie bei dem Gespräch mit meinem Vater vor dem Altenheim versinke ich langsam immer mehr in meinem Sitz. Lichter gehen an im Anwesen hinter den Gittern. Helles Brüllen echot zurück. Ich drücke meinen Kopf zwischen die Beine und verbleibe so für eine gefühlte halbe Stunde. Feige sehe ich über den Fensterrand wie Armin an der Steinmauer des Tors liegt. Sein Mantel ist zerrissen und die Hälfte des Innenfutters flattert an der Spitze von der Gitterstange über ihm. Die Karikatur eines missglückten Einbruchs. Ich hole den erfolglosen Casanova zurück in den Wagen und zittere vor Mitleid. Mitleid für Armin und für mein eigenes Leben, das sich noch nie so nutzlos anfühlte.

„Vielleicht bin ich nie aufgewacht. Ich bin in Bolivien am Operationstisch gestorben und durchlebe jetzt meine individuelle Hölle in Form des unmenschlichen Abschaums um mich herum. Die Meute der Vernissage, faulende Liebende und der Verdammte. Das Fehlen eines sozialen Umgangs wird mir unter die Nase gerieben und sogar dein Leid verspottet mich. Was wenn das wahr ist? Was wenn ich wirklich tot bin?“

Magisch schön holpert das Taxi in gleichbleibenden Abständen über Straßenschäden und Armin kurbelt mit wippenden Kopf das Fenster zu. Auf diese meine kurze Ansprache hin zieht er ein saures Gesicht.

„Mach mich nicht zum Gespenst deines romantisierten Höllenritts, du Arschloch.“

Aus allgemeiner Frustration schlägt er zweimal auf die Kopflehne vor ihm ein. Der Taxler quiekt kurz auf, will sich aber nicht der Diskussion in fremder Sprache aussetzen. Der Weg nach Hause ist zur Ewigkeit geworden. Meine Verzweiflung und Ungeduld verwandeln sich in Wut. Wut auf den schlafenden Lebemenschen neben mir, auf dessen Talent Schmerz zu fühlen ich scheinbar ebenfalls neidisch geworden bin. In Sekundenschnelle schleicht sich die nächste Gefühlslage ein. Ich spüre eine Taubheit, dort wo früher Schmetterlinge verkehrten oder einfach Alkohol für Wärme sorgte. Ich rücke ein Stück hin zu Armin und hocke mich zu ihm hin. Halb zitternd kann ich plötzlich nur noch flüstern. Der Wagen brummt.

„Armin, hör‘ mir zu, ich glaube ich habe meine Seele dort verloren, irgendwie zurückgelassen. Auf dem anderen Kontinent. Ich glaube ich bin jetzt ganz allein.“

Kopfschüttelnd starrt Armin aus dem Fenster und seine späte Antwort kommt unerwartet, egoistisch und absichtlich beißend.

„Ich habe auch keine Seele. Schau mich an. Das ist alles nur noch Adaption. Ich habe begonnen alles zu kopieren was ich um mich herum erkenne, Leute, die Bilder die Kunst, die Art zu sprechen, alle ihre Werte, alles. Das kann ich gut. Die ganze Zeit über war ich so überzeugend, dass ich mir bis jetzt geglaubt habe. Wann habe ich sie verloren? Sie hat sie. Sie hat meine Seele. Ich schaue nur mehr zu.“

Erstaunlich wie kalt und emotional verödet sogar einem die ältesten Freunden plötzlich erscheinen, wenn man sich nicht verstanden fühlt. Wir teilen ein Leid und können uns gegenseitig nicht um das kleinste Stück weiterhelfen. Mit der Erkenntnis um die totale Einsamkeit wird alles plötzlich warm. Ich sitze plötzlich aufrecht da. Die Geräusche und Lichter von draußen werden dumpf. Ich bin betäubt und merke nichts. Es zieht alles vorbei, nun so dermaßen schnell wie es davor einfach nur dahinkroch. Ich hab die Grenze überschritten. Ich habe es geschafft. Der Beobachter löst sich auf. Da ist auch schon meine Wohnungstür, mein Bett, meine Zimmerdecke, das innere meiner Augenlider.

Armin ist in seinem Zimmer verschwunden, doch wen kümmert es. Vielleicht sollte ich nun bald neue Dinge ausprobieren, mich ablenken. So wie Dinetti mich früher dazu motivieren wollte. Ich merke wie ruhig ich plötzlich bin. Ich schaue aus dem Fenster. Die Ringstraße sah noch nie hässlicher aus und doch gibt es Hoffnung. Rettung naht. Was Botschek wohl gerade macht?

Kapitel — Stein um Stein

Diese Stadt wird doch niemals fertiggestellt werden. Man sehe sich die ganze unausgegorene Unausgewogenheit an. Baustellen, Trümmer und verdrehte Fassaden einfach unästhetisch nebeneinander aufgezogen, ohne Zusammenhang und in ihrer Gesamtheit abstoßend. Restaurierter Ekel einer Gummikultur. Mir scheint als müsste das alles zusammenbrechen, als sollte es von scharfen Feuern eingeäschert werden und komplett neu aufgebaut werden. Vielleicht könnte diese Stadt dann wieder zu neuem Glanz auferstehen. So wie ich es tat. Mein Zusammenbruch und die damit einher gehende Neukalibrierung meiner Sinne, war doch in Wirklichkeit ein Segen. In Südamerika erwachte ich als ein neuerer, klarerer Mensch.

Der graue Himmel sitzt tief über der Hofburg und ein föhniger Wind bläht mein Hemd auf wie ein Schiffssegel. Ich schlurfe absichtlich lautstark über den liegengebliebenen Rollsplitt. Armin hat nun meine Rolle des depressiven Stubenhockers übernommen, kratzt alleine im Atelier an Leinwänden herum und findet nicht einmal die Kraft sich Hosen anzuziehen. Ich bin diesem Fluch erfolgreich entflohen. Alles was es brauchte, um wieder frei zu sein, war eine augenöffnende wenn auch niederschmetternde Erkenntnis über die Menschheit und ein Stück Lunge auszuhusten. Meine nun täglichen Spaziergänge haben etwas Befreiendes, auch wenn mich die schwulstigen Texturen dieser Stadt meist frustrieren. Ein kugelrunder Mann im Volksgarten ertappt mich dabei wie ich ihn mit Pistazienschalen bewerfe. Sein Kopf wabbelt unbeholfen und er hinkt davon. Lächle ich gerade? Als ich einen Schuhabdruck in einer u-förmigen Wurst Hundescheiße entdecke, in der sich die Initialen von Dolce & Cabana abzeichnen, entkommt mir sogar ein hämisches Keuchlachen. Definitiv.

Die einzige eindringliche Erinnerung, die ich an eine Unterhaltung mit Marleen habe, entstand zu Beginn unserer Beziehung um die Weihnachtszeit. Wir hatten gerade ein Treffen mit meinen Eltern hinter uns gebracht und mir wurde gedroht, niemals wie mein Vater zu werden. Das verstand ich zwar nicht, sagte aber nichts. Meine Ernährer hatten gestritten und es war etwas lautstark über Politik gefachsimpelt. Ich war es gewohnt, dass Vater und Mutter auch mal Dampf abließen, sich gesund bekriegten, nur für Marleen waren ungeschriebene Gebote des Umgangs gebrochen worden. Der Schein von menschlicher Harmonie müsse bis zum jüngsten Tag aufrecht gehalten werden. Etwas Angst vor einer Zukunft mit ihr, ohne jegliche Form von reinigender Auseinandersetzung, fuhr ich eine schlechtbeleuchtete Landstraße entlang, Richtung Höhenstraße. Passend.

Zuhause tranken wir still eine Flasche Zweigelt und hörten irgendwelche schmalzigen Opernarienduette. Jene waren eher anstrengend, aber ich lenkte mich mit online Poker ab. Ich genehmigte mir sogar eine Zigarette, obwohl Marleen die Angewohnheit hatte, mir das mit passiv-aggressivem Murren zu versauen. Die Atmosphäre war außerordentlich entspannt und vielleicht war das tatsächlich der schönste Zustand, den ich jemals mit ihr zusammen durchlebt hatte. Sie las ein Magazin und stützte dabei den Kopf auf ihre Faust. Mit der anderen Hand kraulte sie ihre nackten Schienbeine. Jenes Motiv faszinierte mich und davon abgelenkt verlor ich gleich zwei Partien im Netz. Dann schien es als ob sie ihren Atem anhalten würde und ich wurde auch plötzlich ganz ruhig. Ich beobachtete wie ihre Augen immer schneller von links nach rechts hüpften und dann hielt sie ganz inne. Totale Stille. Ich meinte die Vibration des aufsteigenden Rauchs der Zigarette zu spüren. Mit schiefen Lippen und verengten Augen schaute sie hoch und gab einen fragenden Ton von sich. Interessanterweise hatte ich kein Verlangen den Inhalt des außergewöhnlichen Textes zu erfahren, der sie offenbar so beschäftige. Ich fand einfach die Art wie sie darauf reagierte schön. Um den leichten Zungenschlag vom Wein zu kaschieren gluckste sie ihre Frage etwas zurückhaltend und leise.

„Gibt es etwas vor dem du Angst hast?“

„Wie?“

„Gibt es etwas vor dem du Angst hast?“ Marleen hatte mich noch nie etwas Tiefsinnigeres gefragt. Als sie mich während den Abendnachrichten einmal rhetorisch nach dem Wert von Menschenleben gefragt hatte, war ich schon ausgesprochen erstaunt. Doch da war ich um ehrlich zu sein baff. Wir waren immer offen miteinander gewesen, aber wiesen trotzdem introvertierte Charakterzüge auf, abgeschottete Kapseln unserer beiden Existenzen. Kommunikation war nicht unbedingt unsere Stärke. Darum mag es auch nicht überraschen, dass ihre Affäre mit dem Hawaiianer Ilay an mir so einfach vorbeigehen konnte. Momente der Ehrlichkeit waren rar gesät in unserer Beziehung und plötzlich kam eine Frage hinsichtlich einer sehr tiefgreifenden moralischen Einstellung meinerseits. Niemand denkt gerne ernsthaft über die eigenen Ängste nach. Darum war es auch besonders erschreckend, dass ich sofort eine Antwort parat hatte. Ich drückte die Zigarette mit zwei Tupfern im Espresso-Untersetzer aus und blickte ausweichend zum Fenster hinaus.

„Ja, ich habe Angst davor ein schlechter Mensch zu sein.“

Die Universität Wien hockt streng in der Schottentorkreuzung. Die föhnige Luft wird immer stickiger und im Nacken spüre ich die Bims rostig husten. Ich entscheide mich dieses Gebäude genauer zu untersuchen. Ich war nie auf der Hauptuni und beneide ein bisschen diese glücklichen Kultur- und Geisteswissenschaftler. Ich stelle meinen Hemdkragen nach oben und stoße die Türen zum Bildungstempel auf. Ich erinnere mich an eine Sponsion und deren Feiern im Arkadenhof hinter den Portalen. Alma Mater Rudolphina Vindobonesis. 700 Jahre Tradition in einem 140 Jahre alten Gebäude, da ist es schwierig in die eigenen verkümmerten Fußstapfen zu balancieren. Büsten von den großen Wiener Uniabgängern ziehen vorbei, bekannte, aber keine mir bekannten. Ich versuche ihre Gesichtszüge zu imitieren. Sir Karl Popper, der Neuzugang schmitzt leicht verlegen, doch so kann er mich nicht aufhalten. Der Klang meiner Sohlen auf dem edlen Stein ist kläglich. Zeit für einen Apfel aus meiner großen vollen Sporttasche. An der grün-glänzenden Haut klebt etwas vom schwarzen Staub. Ich puste mein Früchtchen sauber. Die Architektur im Stiegenhaus ist eigentlich wunderschön. Genau wie wie im benachbarten Rathaus führen Treppen in die entlegensten Winkel und scheinbar nicht mehr zurück. Wenn dieses elende akademische Innenleben den Bau nicht sprichwörtlich auffressen würde. Die meisten sich Bildenden sind mit mp3 Player zugestöpselt und wissen gar nicht um das Privileg in einer solchen Institution zu lernen. Sie verbringen ihre Vorlesungen „Angry Birds“ und „Plants vs. Zombies“. Ausländische Studenten und der geneigte Tourist verlieben sich täglich in die Prunkfassade und das ist verständlich, doch als ich die verschlungenen Seitengänge, die Labyrinthe des Germanistikflügels hinaufschaue, scheint mir dieser mit erhobenen Mittelfinger entgegen zu schreien.

„Sie können hier schon studieren, aber ihren Weg müssen sie schon selbst finden.“

Ich habe den meinen schon gefunden. Das muss alles besser werden, übersichtlicher. Die Portier-Halle muss erhöht werden, die Fensterrahmen gegen moderne sowie fixierte Glasmalerei getauscht werden und dann sehe ich Tonnen von Marmor vor mir, fein arrangiert in dreizehnfarbigen Mosaiken. Weite Flure, weite Räume und schon zeichne ich einen Grundriss im Kopf. Hier direkt unter mir müssten sich eigentlich die Hauptstützen befinden, perfekt für eine Vollraumsprengung. Das mittlere Schiff ist das wichtigste. Meine Entscheidung wird offensichtlich. Die Uni ist ein guter Anfang. Der Portier weist mir den Weg zum Dach. Mein lachhaft schlecht gefälschtes Ingenieurgutachten öffnet mir alle Tore. Meine schwächelnde Erklärung irgendwelcher erfundenen Vermessungsarbeiten will sich der ältere Mann am Eingang gar nicht anhören. Er drückt mir hastig Schlüssel und ein Formular zum Unterschreiben in die Hand und will zurück zur heiligen Tageszeitung.

Diese Aussicht wird wohl zum letzten Mal genossen werden. Das zugeschissene Dach, erinnert aus der Nähe wenig an italienischen Renaissance-Stil. Um hier oben ans Freie zu gelangen, musste ich mich vorbei an den röhrenden Lüftungsanlagen und durch eine Öffnung zwischen den Lichtfenstern zwängen. Wien breitet sich traumhaft niedrig vor mir aus und ich stelle ein Bein auf das grau-grüne Blech. Von hier sind es ungefähr 10 Meter bis zur Kante hin zum inneren Hof. Der leichte Abfall der Deckenverarbeitung muss auch bedacht werden. Es ist fraglich ob ich das heute noch alles schaffe. Rieche ich Elektrizität? Ich wende mich um und geladener Südwind schleift an meiner Gänsehaut. Staubpartikel trocknen meine Augenlider aus und durch die Schlitze sehe ich ein graubraun verhangenes Wien tanzen. Ich liebe Gewitter ohne Regen. Die Luft riecht schwer und Menschen werden aggressiv angespannt. Eine böse Vorahnung beherrscht uns alle. Manchmal hören die leichten Böen dann auf und ein unaufhaltsamer atmosphärischer Druck ist zu spüren. Interessant wie verloren diese Stadtschluchten, dieser erste Bezirk, unter der stürmischen Dunkelheit erscheinen. Leise beginnt das räudige Wolkenbett zu grummeln. Gott ist ein Künstler.

Schwarz Violett!

Ich springe rückwärts ins blinde Nichts und falle wegen dem unerwarteten Schreck unschön auf den Hintern. Die restlichen, spritzigen Lichtelemente eines Blitzes lösen sich bereits wieder auf. Ich liege rücklinks auf die Ellbogen gestützt und meine Ohren piepen. Zeus warf mir direkt eines seiner Geschosse vor die Füße, besser gesagt schlug es vor dem McDonalds-Gebäude gegenüber ein. Ich habe noch nie einen mächtigen Blitzschlag aus solch unmittelbarer Entfernung miterlebt. Diese unbeschreibliche Wucht und der betäubende Schlag des Donners. Die Leute unten auf der Straße schreien immer noch wild durcheinander. Hat einer wohl seinen Donut fallen lassen. Ich spüre die Naturkräfte des Sturms auf meinen Zähnen, weil ich wie unbändig dem Himmel entgegen lache. Nun sehe ich immer mehr Blitze über der Stadt hinunterfahren. Der Steffel lockt mich während der Donner von den Zinnen hallt. Ich beiße leicht auf meine Zunge aus Freude über die hell flimmernde Inspiration, die wie ein gigantisches Flipperspiel vor mir zuckt. Das Mumok wird wohl die größte Herausforderung werden. Drüben in der Albertina verkaufen sie noch ahnungslos Klimt-Klopapier. Die Burg, das tote Theater macht sein unverdientes Nachmittagsschläfchen. Man stelle sich vor, eine Symphonie aus Explosionen, ein Menuette aus brechendem Glas und das aufmerksamste Publikum seit langer Zeit.

Es ist eine Tatsache, dass man um gescheiter zu werden, Zeit vergehen muss. Man muss älter werden um Dinge und ihre Natur zu erkennen. Ein gemeines Paradox, da man sich selbst und seine Vergangenheit zu hassen lernt. Ich muss keineswegs mein Leben bereuen, aber ich komme kaum darum herum, da ich die psychische Inklination zur Selbstkritik und wilder Fantasie besitze.

Marleen war nicht zufrieden mit den Ängsten, die ich gestand, da sie wenig bis keine Rolle darin spielte. Es ist wahr, ich hatte nie Furcht sie zu verlieren oder ähnliches, da ich noch glücklich und wahrscheinlich in Folge ignorant war. Sie war selbst nie eine herzliche Person gewesen und neigte eher dazu neue Gedanken und Menschen umgehend abzulehnen. Der eine war zu aufgeweckt und nett, während die andere gefälligst mal ihren Mund aufmachen und mehr über Philosophie nachdenken sollte. Die Aufgabe des schlichtenden Mediators war die meine. Dinetti gab mir Rückhalt wenn Marleen sich abermals durch etwas Banales wie Autobahnwerbung persönlich angegriffen fühlte und für Stunden kein Wort redete. Mir taten die Leute Leid, denen sie alleinig wegen ungeschickter Wortwahl mehr oder minder die Existenzberechtigung absprach. Aber vor eben jener langen, langen Zeit hatte ich auch noch Angst davor schlecht zu sein. Das eigene Moralbewusstsein ist schon interessant. Ich hielt mich damals für einen robusten Menschen, der im Zuge einer menschlich-ethischen Prüfung oder elementaren Herausforderung des Lebens Durchhaltevermögen beweisen würde. Tatsächlich war ich davon überzeugt, in entscheidenden Situationen fähig zu sein das Richtige zu tun und dafür um Gerechtigkeit kämpfend unterzugehen. Es ist hart wenn man realisiert, dass dem vielleicht nicht so ist. Man wundert sich mehr und mehr mit welchen persönlichen Wahrheiten über einen selbst man noch komplett falsch liegt.

Der Entschluss ist gefasst. Die Universität wird neu aufgesetzt. Ich weiß nicht ob man mir danken wird, aber einige da draußen werden mich und meinen Plan letztlich verstehen. Ich dränge mich durch eine Gruppe Burschenschaftler am Weg zu den Kellergängen. Die schwammigen Persiflagen einstiger Monarchisten. Mir ekelt vor dem Ausschlag weißroter Pickel, der sich im Nacken dieser unterentwickelten Klingenschwinger ausgebreitet hat. Wahrscheinlich hat sich auf dem rituell aufgedunsenen Bürstenschnittbierschädel durch den permanenten braunen Dunst eine neue käsige Form von Akne gebildet. Fleischige Schuppen fallen ihnen auf die billigen Anzüge. Solche Menschen hasst man nicht. Man ist verblüfft sie noch vorzufinden in einer modernen Welt. Wie eine für ausgestorben gegoltene Albino-Rattenart möchte man sie lieber studieren und verstehen, als sie aus ihrem natürlichen Habitat rauszureißen. Pech gehabt.

Ich bin in dem Erdgeschoss, in einem kleinen Lager- Wirtschaftsraum und warte. Etwas juckt auf den Schulterblättern. Mein Nikotinentzug kitzelt leicht meine Poren und parallel meinen Ärger. Ich wippe nervös mit meinem Knien auf und ab. Die spitzen Metallteile der Gehäuse in der Tasche bohren sich langsam in meine Schenkel. Trotzdem muss ich noch mindestens eine Stunde warten. Wie im Zug von Prag nach Hause verschlägt es mir plötzlich ohne Vorwarnung die Ohren. Draußen lässt der Druck des Gewitters langsam nach und ich versuche zu meditieren. Konzentration, Hannes. Es gibt nur einen Versuch.

Dinetti sagte kein Wort. Er saß einfach nur noch im Ohrensessel in meinem Zimmer neben Armins Büro/Speisekammer. Dinetti saß da, genau gleich wie er es seit seiner Rückkehr getan hatte. Seine Gestalt blieb nun stets unverändert, bewegungslos, mit dunklen Hosen und Hoody. So verweilte er still. Die schwarze Kapuze war ins Gesicht gezogen. Und obwohl ich ihn nicht ausmachen konnte, war ich sicher, sein vom Schatten verdeckter Blick verfolgte mich. Ich versuchte diesen anmaßenden Wächter neben mir zu ignorieren und arbeitete einfach nebenbei. Anfangs war da Angst vor einem Trauma, das mich nun vielleicht einzuholen drohte. Doch nach nur einigen Tagen verstand ich ziemlich genau, was Dinetti von mir erwartete. Das was sich schon länger abgezeichnet hatte. Er musste dazu nicht sprechen. Natürlich, denn er ist ja ohnehin bloß in meinem Kopf. Trotzdem hatte ich bei dem ersten Wiedersehen ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich hatte ihn schließlich einfach zurückgelassen, unter Hunden aus der Hölle ausgesetzt und trotzdem war er zurückgekommen. Ich bezweifelte jedoch, dass er mir verziehen hatte. Ich wusste, ich würde alles wieder gut machen müssen.

Das Klingeln der Eieruhr unterbrach meinen linkischen Versuch Dinetti eine altbekannte Reaktion zu entlocken. Es waren Rückerinnerungen an Frauengeschichten, die auch nicht die leiseste Regung in ihm auslösten. Auch gut, denn der Leim sollte nun ganz trocken sein und ich musste noch sieben Plastikgehäuse kleben. Ich war etwas aus der Übung. Ich schüttete dann erst einmal ein bisschen Schwarzpulver mit einem Papiertrichter in die Plastikpäckchen, der schon fertigen Verschalungen. Die schienen in ihrem weichen Ammongelit-Bett auch alles ganz stabil zu sein. Ich war schon ziemlich stolz auf jenes handliche Design. Alles Marke Eigenbau. Der Sprengsatz mit der süßen Gelatinefüllung war sicher nicht größer als ein Tankdeckel und göttlich flach. Das erste Blech zu 20 Stück sollte bald fertig werden.

Dann kam Armin etwas unerwartet in meine Werkstatt. Wahrscheinlich hatte er das Lötzinn gerochen. Ich machte mir nicht einmal die Mühe den vollgeräumten Schreibtisch zu verdecken. Er sah alles, den Präzisionsbohrer, die Zünder, Ammoniumnitrat, die Nitrocellulose sowie das schön mit „Nitroglycerin“ beschriftete Fläschchen. Der ganze Chemiebaukasten lag offen da und ich blickte Armin selig ins Gesicht. Kurz dachte ich er würde mich nun auffliegen lassen, die Firma über den Sprengstoffmissbrauch informieren, die Polizei und das Irrenhaus. Aber stattdessen kicherte er kurz auf wie ein betrunkener Esel und verlangte lediglich seine Schutzbrillen zurück. Er wäre nämlich wieder bereit zu drechseln. Ich gab im seine Brillen ohne Umschweife.

Es muss nun schon dunkel sein draußen und meine Gummiabsätze kleben leicht am universitären Steinboden. Die Jauchzer der letzten unbeirrbaren Demonstranten, der „Uni brennt“ Bewegung in den Stöcken über sind längst verklungen, und das letzte autonome Lebenszeichen habe ich vor einer halben Stunde vernommen. Mein erster Sprengpunkt ist gefunden. Die Platzierung der Bomben unterliegt rein meinen Schätzungen, denn ich habe mein übliches Team nicht zur Hand. Alleine macht es mehr Spaß. Die Sinnlichkeit der letzten Sommernacht ist am Werk und ich werde etwas sentimental. Besonders als ich die ersten Sprengsätze auspacke, kann ich diese eine freiheitliebende Träne nicht zurückhalten. Trotzdem bin ich immer noch professioneller als der verrückte Niederösterreicher, der samt seinen gestohlenen Bagger ertrunken ist.

Es ist zehn Uhr zehn am Abend. Arbeite ich mittlerweile wirklich seit zwei Stunden? Das ist jetzt das dreißigste Loch, das ich gebohrt, freigelegt und mit Zünder versehen habe. Aber dieser fette Marmorbau wird ohne Entkernung ohnehin nicht wirklich zusammensacken, so wie ich mir das vorstelle. Das Gewicht der oberen Stöcke müsste trotzdem ausreichen, das gesamte Erscheinungsbild der Uni Wien ordentlich zu plätten. So, und jetzt kommen wir zu meiner speziellen Hauptladung. Die ist mein persönlicher Bonus. Bei einer kontrollierten Sprengung gibt es normalerweise kein Grande Finale. Das wird fein. Zehn Schritte links, den Gang hinauf und ich müsste mich genau unter den Trägern des vorderen Hauptschiffes befinden. Die werden halten bis zum bitteren Ende. Auch wenn die Fassaden rund herum schon zu Aschewolken verpufft sind und der innere Arkadenhof von den finsteren Kellerkatakomben verschluckt wurde. Dann kommt sie, meine allererste Explosion. Die wird den universitären Boden bis zum Schottenring pusten. Wenn der alte Pufferspeicher der Ölheizung nebenan noch in Verwendung wäre, hätte der sicherlich auch seinen Teil zur Universitätsauflösung beigetragen.

Mein Licht am Kopf flackert. Der Schweiß auf meinen Händen wird vermischt mit dem Wandverputz zu Matsch. Hinter mir summt der Serverraum mit seinen Türmen und es riecht nach Elektronik. Furcht entdeckt zu werden, fährt mir langsam und lähmend ins Genick. Ganz als ob ich zu lange unter einer Klimaanlage gestanden wäre. Ich werde unkonzentriert und male mir Horrorszenarien aus. Wenn sie mich erwischen schlagen sie mich zu Brei. Das wird niemals funktionieren. Nur eine falsche Bewegung, ein falsch angebrachter Kontakt und diese improvisierte Bombe sagt Game Over. Die eine Detonation wäre nur minimal, würde nicht mal einen Knacks in den Stützträger streicheln und ich verbleibe als klebriges Action-Painting an der Wand. Als Ausgleich schießen mir freche Mantras der Beruhigung durch den Kopf.

„Was soll schon sein? Ich habe das alles genau vorbereitet und schon hundert Mal gemacht. Es ist das Richtige. Du bist zu professionell um einen billigen Fehler zu machen.“

Im Grunde genommen atme ich jetzt nicht mehr und sich ein leichter Husten schleicht sich mit einem Kitzeln an. Die trockene Luft und der Wind am Dach haben mich erwischt. Mein Ärmel versiegelt meinen Mund und dämpft das Räuspern und Keuchen. Meine Ohren verschlagen sich wie damals im Zug von Prag nach Wien. Nur dieses Mal habe ich kein schlechtes Gewissen. Vielleicht bereiteten sich meine Nebenhöhlen auf den großen Untergang des akademischen Reichs vor. Ich knacke mit dem Kiefer und reiße den Mund auf wie ein Nussknacker um die zugeknöpften Ohren frei zu bekommen. Dieser kleine Funkzünder muss hier noch zwischen Kontakt und Sprengmaße angebracht werden. Routine. Ich lächle und habe unbeschreibliche Angst. Ich habe immer Angst davor Pech zu haben. Leider, denn wer sich für einen Pechvogel hält, wird auch immer Pech haben. Aber nicht heute. Niemand wird mich erwischen, niemand wird mich erwischen, niemand wird mich erwischen. Die schwere Kellertür um die Ecke knallt laut zu. Da ist jemand. Jede Bewegung wäre nun unzulässig. Ich starre auf den kleinen Batzen Ammongelit an meinen Fingern und lausche. Jemand schnäuzt sich da hinten! Ich verwandle mich in Stille. Das Licht meiner kleinen Taschenlampe! Ich Idiot habe es vor Schreck brennen lassen. Jetzt aber schnell. Das verdammte Ding fällt mir aus der Kopfhalterung und landet unverhältnismäßig laut auf dem Betonboden, gegeben dass das Lämpchen gerade mal zehn Zentimeter groß ist und aus Gummi. Mach die Augen zu, Unfähiger. Es trippeln quietschende Sohlen in meine Richtung. Um die Ecke rauscht eine Gestalt, die ich nur schemenhaft als Menschen identifizieren möchte. Die einzige Lichtquelle leuchtet am Boden auf meine Sneakers.

„Hallo, Sie da!“ Ich gebe mich legere, es ist ja sowieso egal.

„Ja, was gibt’s.“

„Sind sie vom Referat?!“

„Bitte?“

„Sind Sie vom Netzwerkreferat, oder haben sie Ahnung was mit den Servern ist?“

„Ich …“

„Wir haben dort oben eine Kundgebung und zwanzig Leute haben kein WiFi. Das geht so nicht. Ich suche euch Leute seit einer Stunde.“

„Ich bezweifle, dass ich ihnen helfen kann.“ Ich muss in die Defensive sonst reißt mich diese Frau in tausend Fetzen. Ich brauche einen Superbluff.

„Wären Sie vielleicht so nett und verraten mir Ihren Namen, meine Liebe! Ich kann nämlich bei bestem Willen nicht nachvollziehen was Sie hier unten verloren haben.“

„Mein Name ist Susanne Schinkel und ich bin nicht Ihre Liebe! Zwei Kolleginnen haben mir oben gesagt, dass jemand im Keller arbeitet. Helfen Sie mir jetzt weiter oder nicht. Ich rühre mich hier nämlich nicht vom Fleck bis Sie mitkommen!“

In solchen Situationen werden die ertappten Bösen doch immer gewalttätig. Eigenartig. Ich fühle mich gar nicht erbost, sondern eher erleichtert. Soll ich den Zünder jetzt einfach ins vorgebohrte Loch geben? So als ob nichts wäre?

„Was machen Sie da eigentlich? Haben Sie überhaupt Ahnung?“

„Ich bin grad am fertigwerden.“

Von meiner Nasenspitze tropfen die Niagarafälle auf den Zünder. Egal, ich mach das später, ja, später. Weg damit, alles schnell in die Tasche. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter? Oh, gut, jetzt zieht sie mich den Gang hinunter.

„Ich habe euch Idiotenkinder schon überall gesucht.“

Das Idiotenkind nickt hilflos. Dabei versuche ich meinen massenmörderischen Wahnsinn, welcher mir immer klarer ins Bewusstsein pocht, hinter der Fassade meiner neuen erdachten Profession zu verstecken. Vielleicht hilft eine tiefere Stimmlage.

„Ich weiß aber nicht ob ich Ihnen weiterhelfen kann. Die Server sollten alle funktionieren, Frau Schinkel.“

„Sie waren aber hier, und jetzt sehen sie sich gefälligst die Rooter im Haus an.“

Ich reiße mich los, und versuche Richtung Feierabend zu flüchten.

„Schau, ich will mich da mit den ganzen Problemkindern nicht rumärgern. Wahrscheinlich funktioniert das Netz auf euren Schleppis eh schon und alle sind glücklich. Inklusive mir, weil ich mach eh schon wieder Überstunden.“

Sie packt mich brutal am verschwitzten Ärmel.

„Reden Sie sich nicht aus der Angelegenheit! Wahrscheinlich sind Sie Schuld, dass die Server offline sind. So oder so kommen sie mit.“

Ihre energische Stimme und die messerscharfen Augen sind unbeschreiblich bestechend. Wenn sie gesagt hätte Thomas Brezina herrscht über die Gezeiten, hätte ich ihr es geglaubt. Außerdem, denke ich, ist sie sehr hübsch. Ich kann nicht sicher sein, denn im Moment besteht sie hauptsächlich aus fletschenden Zähnen und süßen Stirnfalten. Meine Tasche mit den restlichen Kapseln liegt noch hinten. Jetzt kann ich nicht mehr zurück. Ich will auch nicht. Ich will, dass sie mich weiterzieht, weg und raus von hier.

Kapitel — Der Fall Sanne

Es ist immer gefährlich, den eigenen sexuellen Wert zu. Ich dachte meist, ich wäre zu alternativ für brave intellektuelle Mädchen und zu fad und korrekt für frechen „Girls“, die auf böse Jungs stehen. Mein Hirn scheint wie der Rennbahnexpress zu funktionieren. Ich bin wahrscheinlich wirklich zu unflätig und moralisch zu kompromisslos für die Aung San Suu Kyis dieser Erde. Und den abgebrühten, hübschen Zeckenmädchen, den Sasha Greys und Chloe Sevignys bin ich zu farblos, nicht genug hardcore in der Hose. Somit bin ich nirgends, gehöre nirgends dazu und falle wieder einmal durch die Lücken der herrschenden Attraktivitäts- und Sexualitätsnormen. Marleen war dabei immer ein Kompromiss gewesen, sie nahm sich meiner an, um einen Vorzeigemann zu haben, formbar und völlig fahl. Natürlich musste ihr das mit der Zeit zu eintönig werden. Ich wusste es doch auch und ließ meine Gedanken wie meine Meinung dazu tief versiegelt in den Kratern meines Stolzes. Was kann ich dieser Welt der Zweisamkeiten denn überhaupt noch bieten?!

Und da ist sie schon. Die Touristen-Familien und die eigentümlichen Metallrohre des Wallensteinplatzes wirken, als ob sie sich aus Respekt vor ihr zur Seite biegen und der Susanne Schinkel einen Landestreifen bilden würden. Sie stapft mit einer kartoffelsackgroßen Handtasche unterm Arm auf mich zu. Modisch kleidet sie sich extravagant, aber auf Flohmarkr Niveau. Da gibt es sicher ein 30 Jahre altes Castrol T-Shirt irgendwo in ihrem Schrank. Aber die Bluse, die sie da trägt, die ist aus diesem eigenartigen Material, blass-blau-weiß, und sieht aus wie zerknülltes Papier. Ich wette bei Berührung ist es wunderbar weich. Sie schenkt mir ein halbgestelltes Lächeln. Ich habe Knödel im Bauch. Wieder wird mir klar, dass sie trotz ihrer ein Meter sechzig und dem Gewicht eines durchschnittlichen Schäferhunds, keineswegs eine fragile oder zierliche Erscheinung hat. Der Beschützerinstinkt in mir läuft nur auf Halbgas. Sie hasst es sicher ärmlich behandelt zu werden. Da ist ihr ein einschlagendes Temperament erwachsen. Wegen der kleinen Statur, den braun-blonden Engelslocken, den Sommersprossen auf der blendend hellen Haut neigen die meisten Leute dazu in ihr ein hilfloses Schmusekätzchen zu sehen. Da ist man einfach immer kurz davor sie aufzuheben und ihr wie einem Einjährigen ins Gesicht zu brabbeln. Eine Einjährige mit dezenten aber sehr einladenden Rundungen. Das klingt ja furchtbar. Egal, jedenfalls lässt sich diese Kleine nichts gefallen.

Nach dem kurzen, eine nationale Tragödie vereitelnden Gespräch an der Universität machte Susanne aber teilweise auch einen etwas instabilen und morschen Eindruck, fast brüchig wie ein verrostetes Ofenrohr. Man zerstört es zwar nie komplett bei Berührung, doch bröckelt mit der Zeit immer weiter von der eigentlichen Substanz ab. Ich denke an ihr wurde bereits oft gerüttelt und jetzt ist nicht mehr viel übrig vom netten Zuckerguss. Kein süßes Ding. Sie ist eine Zyankalitablette in weiße Schokolade gehüllt. Sie lebt wie ein angeknackstes Kernkraftwerk und überhaupt scheint sie viel zu reif für ihr Alter. Sie hasst die Universität und trotzdem arbeitet sie dort freiwillig. Ein grantiges Mädchen mit einem Herz aus Gold und einigem zu sagen.

Sie hatte soviel geredet am Weg hinaus zum unteren Schottentorausgang. Themen aus allen Himmelsrichtungen, so dass ich mich ohne gröbere Probleme aus der Affäre ziehen und vom Tatort Uni Wien fliehen konnte. Als sie merkte, dass ich kein Universitätsangestellter war, riet sie, anstatt mich stumm zu analysieren, einfach wild darauf los, wer ich denn sein könnte und warum ich wohl dort im Keller herumkoffern würde. Sie begleitete mich mehr als dass sie mich verfolgte. Ich verblieb natürlich verschlossen und mysteriös, was offenbar gefiel. Man wollte sich wiedertreffen, ein Vorwand war nicht mehr von Nöten. Sie wusste was sie interessierte.

Mein Gott, ihre Beine. Wie sie derartig dünn und lang für ihre Größe in den hochhackigen Halbstiefeln aus Rauleder zusammenlaufen. Mein Blick bleibt unfreiwillig daran heften, wie es langsam auf mich zu kommt dieses verzaubernde Links-Recht-Spektakel. Meine Fantasie ist nicht zähmbar und die versauten Bilder steigen auf. Bilder von meinen Händen, die in einem verschwitzen Bett ihre nackten Fesseln packen. Bilder wie ich ihre Beine küsse und sie hin und her bewege, wie ein Ausdauergerät im Fitnessstudio. Ich lenke die Penetration, der Steuermann. Atmen, Hannes, atmen. Ich lächle und würde ihren hautengen Hosen am liebsten einen Altar bauen.

Als wir uns Bussis auf die Wangen legen, was ich normalerweise ausnahmslos ablehne, rieche ich meinen eigenen schlechten Atem. Der Zwiebel- und Currygeruch als Erinnerung an die mitternächtliche Kühlschrankinvasion würgt meine Tränensäcke und ich bringe gerade noch eine kurz gefasste Handbewegung als Begrüßung zustande. Es ist zwar gut, dass ich mittlerweile wieder annehmbare Nahrung zu mir nehme, aber nicht dass ich danach stinke. Ich spreche einfach nicht bis wir etwas zu trinken bekommen haben. Ob das denn hilft gegen den schlechten Atem? Vielleicht einen Tee mit Minze oder dergleichen. Während Susanne schon bei der dritten Geschichte über ihren Tag angelangt ist, tanzen sie vor mir hin und her, diese saftigen grün-braunen Augen. Sie glänzen wie von einer hauchdünnen Schicht Honig umschlossene Jadesteine. Die Iriden sind tief und schwarz, wie Iriden nun einmal sind.

Wir gehen seit einer Stunde stadteinwärts und scheinbar hat sie nichts gegen meine Gegenwart. Um diesen Umstand nicht zu zunichte zu machen, wandle ich Stumm neben ihr und sehe auch schon dieses furchtbare Burggassen-Café sich vor mir aufbauen. Hätte ich doch ein vernünftiges Plätzchen vorgeschlagen. Mir fiel nichts Besseres ein. An dem heutigen, semischönen Tag setzen wir uns um elf Uhr vormittags in das unfreundlichste Beisel der Stadt. Nicht genug, dass für die Bedienung meine Existenz eine persönliche Beleidigung darstellen zu scheint, ist das Gebäude auch noch abgrundtief hässlich. Nicht von außen. Das wäre ja kein Problem. Die Räumlichkeiten scheinen von einer ehemaligen Schlachterei zu sein und die Innenausstattung hat definitiv ein liebloser Sadist konzipiert. Aber nun sitzen wir schon in den kreuzbrechenden „Sessel“ mit Lehnen aus Maschendraht oder dergleichen. Ich verstehe das nicht. Es ist ja nicht so, dass diese gar nicht funktionale Einrichtung als Ausgleich wenigstens gut aussähe. Wie ein peinlich berührter Otter will ich mich aus der Situation winden, mich rückenschwimmend aus der Affäre, der schlechten Lokalwahl, ziehen. Doch da hat Susanne schon zwei Bier bestellt. Ein bisschen Schwarz Violett, denn der Magen knurrt schamlos und der Geruch verbrannten Plastiks im Nichtraucherbereich macht Kopfschmerzen. Die noch unhöflichere Kellnerin ist unüberhörbar mitten dabei irgendwelche Dübel in die malträtierten Kunststoffwandplatten zu bohren. Es ist Vormittag und ich habe bis auf meine mitternächtliche Fressorgie noch nichts gegessen. Außerdem habe ich nicht die geringste Ahnung was ich mit Susanne reden soll. Der Mundgeruch ist jetzt nicht mehr meine größte Sorge.

Dinetti folgte mir gestern Nachmittag überall hin, der Nachmittag einen Tag nach der abgebrochenen Sprengaktion. Er wurde mein Schatten und, um ehrlich zu sein, mir höchst unangenehm. In jeder Nische schien er zu lauern und versuchte mir ein schlechtes Gewissen zu schweigen, mit unsichtbaren bösen Blicken aus allen Ecken von Armins Wohnung. Dieser hatte übrigens wieder angefangen zu arbeiten und stand breitbeinig im Atelier. Lediglich in seine Boxerbriefs gekleidet, einem ÖFB Kapperl auf dem Kopf und bis zu den Oberarmen in verschiedensten Acrylfarben getränkt. Er korrigierte mit den Fingern an den Gesichtspartien eines Portraits herum.

Eine fiktive Person entstand, wie er mit verzogenem Kinn informativ brummte. So saßen wir im angespannten Dreieck. Das Fenster war offen Fenster und nichts als emsige aber gedämpfte Ringstraßengeräuschen von draußen waren zu hören. Mein Blick lag auf jenem bunten zweimal zwei Meter Projektkanevas von Armin. Dessen gesamte Aufmerksamkeit ruhte auf der richtigen Farbmischung, fabriziert in seiner verschmierten Handfläche. Nur manchmal drehte er sich zur Seite und schien genau auf den von Dinetti besetzten Futon zu starren. Jener hatte wiederum mich im Visier. Die Situation war ebenso aufregend wie sie auch schrecklich war. Mein psychisches Problem, dessen Intensität und Unmittelbarkeit hatte sich selbstständig gemacht und fand sich in jenem bösartig-schizophrenen Stand-Off wieder. Man stelle sich vor wie unangenehm jene Klarheit ernüchterte. Ich dachte an die Schlange, die sich in den Schwanz beißt und sich selbst auffrisst. Das war auch nicht mehr zu überspielen, wie der putzige imaginäre Flauschfreund eines Kindes. Dinetti war derart unberechenbar und fremd geworden, dass sich seine Gegenwart wie ein Eingriff in meine Privatsphäre anfühlte, wie eine Webcam am Klo, von der man nicht genau weiß, wer sie aufgestellt hat.

Der von der dunklen Jacke und Kapuze verhüllte Beobachter am Futon schien sichtlich nicht mehr zu atmen. Das löste noch bedrückenderen Horror in mir aus. Nicht, dass Dinetti auf Sauerstoff angewiesen wäre, aber trotzdem. Er hatte sich wohl lediglich entschlossen mir mit unmenschlichster Präsenz Schauer über den Rücken zu jagen.

Was wollte er denn wirklich? Als verkörpertes Gewissen und Stimme der Vernunft hatte seine Existenz doch immer irgendwie Sinn ergeben. Er hat jetzt ein Eigenleben entwickelt. Ich hatte keine Verwendung mehr für Dinetti und er wusste es. Darum hatte er wohl Angst. Warum stellten sich dann mir die Nackenhaare bis zum Wirbel auf? Dort am Fenster mitten in der Sonne. Noch dazu fühlte sich Dinetti neben Armins ahnungsloser Musenbewältigung noch präsenter an, mir zwei Sinneswelten vor die Augen drängend, wenn nicht mehr.

Natürlich war Dinetti enttäuscht. Er wollte ja offensichtlich, dass ich halb Wien einen neuen gewaltigen Graben sprenge. Man konnte richtig fühlen wie er die Bomben am liebsten selbst gelegt hätte. Ich wollte an all das gar nicht mehr denken. Ob die Behörden meine Tasche und die Sprengsätze schon gefunden hatten? Ob ich für immer in einer Anstalt landen sollte? Es gab nur ein großes Ziel. Ich musste Susanne anrufen. Sie hatte gewonnen, meine Erlösung, diese kleine „Dea Ex Machina“, meine moralische Alarmanlage mit Pferdeschwanz. Wie sollte ich denn mit ihr sprechen ohne mich in Lobpreisungen zu verlieren? Die Tatsache, dass ich sie anrufen wollte und darüber Dinetti ignorierte, gefiel ihm doppelt nicht. Wir hatten uns doch schon quasi verabredet, jetzt fehlten nur noch die Koordinaten plus Zeit. Armin war auch etwas genervt, dass ich hinter seinem Rücken still herumdruckste und nicht das geringste Anzeichen von Eiern bewies. Er wusste von meiner Begegnung und drohte mir mich mit Terpentin zu veröden wenn ich nicht gleich verschwände. Keine Zeit für romantische Problematiken, nicht beim Malen. Das Handy in der feuchten Hand, beschloss ich dann in der Küche auf das grüne Telefonsymbol zu drücken, die Nummer von Susanne zu jenem Zeitpunkt natürlich schon ausgewählt. Das war keine Anspannung mehr sondern Kinderlähmung.

Zwischen Küchentisch und Kühlschrank türmte sich Dinetti genau vor mir auf, stellte sich mir emotionslos aber bedrohlich in den Weg. Ich schaute in die Dunkelheit seiner Vermummung und suchte nach einem letzten Fünkchen menschlichen Knisterns. Doch unter seiner Kapuze war kein Gesicht mehr auszumachen. Es floss alles unerkennbar langsam ineinander wie reflektierende Farben in einem Pool aus Benzin.

Er musste weg. Susanne hatte ihn obsolet gemacht. Eine irrsinnige Tatsache, die sie niemals erfahren dürfte. Mir wurde extrem gewahr wie kaputt ich im Kopf war. Wie ernst mein Zustand tatsächlich und wie blind ich all die Jahre gewesen war. Mit geschlossenen Augen walzte ich einfach nach vorne und ohne in irgendeiner Form von Ektoplasma zu versinken oder einen kalten Geisterhauch zu fühlen, erreichte ich das Küchenfenster.

Ich hatte Dinetti ultimativ ignoriert. Es folgte das Gespräch mit Susanne, das voller schwacher Witzelei und gefühlt endlosen Versuchen charmant zu wirken trotzdem gerade mal zwei Minuten dauerte. Als aufgelegt und das Treffen fixiert war, überfiel mich erst eine Welle positiver Hysterie, meine Stimmung war komplett ausgewechselt. Ich hatte kein Interesse mehr daran interpsychotische Machtspiele mit Dinetti anzuzetteln. Dieser Störenfried war plötzlich vollends egal. Das alles resultierte in einem schweren Anfall von Zufriedenheit. Es begann als leicht kribbelnde Sensation im Unterbauch und ließ mich dann in meine lässigsten Tanzschritte entgleisen. Die Küche staunte nicht schlecht, gefiel sich selbst als Bühne und der aufgewirbelte Staub brach die Sonnenstrahlen, die wie Spots durch die Fenster fielen. Auf Parkett glitt ich in Haussocken zurück ins Atelier wo ich mit starrem Gesicht zu einem imaginären Mambo-Orchester tanzte. Es schien als wäre der Terrorist in mir tot. Ich wollte einfach nur Armin, dem liebsten Menschen, mein Glück so richtig schön unter die Nase reiben. Armin warf ein Unterhemd, das schon lange zum farbig triefenden Tupf-Lappen zurückgestuft geworden war. Er traf nicht und wurde bissig.

„Wie zum Teufel hast du eigentlich die Nummer von dieser Frau bekommen? Hast du dich in letzter Zeit einmal im Spiegel gesehen? Du siehst aus wie Klaus Kinskis Arschloch.“

Als Antwort bekam er eine unheimlich schnelle und gut getimte Ohrfeige, dazu noch mein frontales breitestes Grinsen. Dann ging die Suche nach gewaschener Kleidung los.

„Geht es allen gut?“

Wen meint sie damit? Meine Eltern, Armin, Marleen oder gar Dinetti?! Susanne ist wahrscheinlich Telepathin. Sie weiß bereits alles über mich. Gott, wie angenehm. Sprechen muss ich trotzdem.

„Wie? Wem soll es denn nicht gut gehen“

„Ich habe keine Ahnung. Letztens auf der Uni haben Sie irgendetwas unglaubwürdig-Vages von einem Notfall gestammelt. Diese Nachricht, die sehr unvermittelt und vor allem geräuschlos an Ihr Handy gesandt wurde. Na, und dann sind Sie einfach abgehauen. Ich habe mir echt ein bisschen Sorgen gemacht. Schlecht haben Sie da ausgesehen, sogar mitten im dunklen Foyer. Jetzt bin ich halt neugierig ob wirklich was war oder ich mit meinen Fragen vielleicht gefährlich nahe an ein Stück Wahres gekommen bin.“

„Können wir du sagen?“

„Bitte?“

„Hannes, ich heiß Hannes. Ich fühle mich sonst unwohl, wie am Magistrat oder so. “

„Natürlich können wir das so machen? Dann bekomme ich ja vielleicht auch eine Antwort von dir auf meine Frage.“

“Was? Ach so, der Notfall. Ich musste da wirklich weg. Mein Freund … Dinetti, der hatte Probleme in letzter Zeit. Und ich mit ihm.“

„Dinetti, Italiener?“

„Das weiß ich nicht.“

Susanne trinkt ihr drittes Bier aus. Das Mittagessen haben wir mit Hilfe von Erdnüssen übertaucht. Sie drosselt langsam ihren verbalen Output und blickt etwas introvertierter im Lokal umher. Ganz so als ob sie jetzt erst merkt, dass sie einen mehrstündigen Monolog geführt hat. Ich kenne nun Details über ihre kürzlich erworbene Beamtenstelle am Erdberg und habe dabei in die tiefsten Abgründe der Langweile geblickt. Aber ich habe sie jeden Fall besser kennengelernt. War das nicht letztlich meine Hauptintention. Wir schweigen einfach ein bisschen und kauen beide auf der Unterlippe herum. Lassen wir den zwischenmenschlichen Schlick, den wir offensiv versprüht haben, nun erst einmal einsickern. Der Bohrer schweigt und die Fantasie malt sich erste Bilder aus. Ob sie auch Dave Gahan für überschätzt und geröstete Blutwurst mit Erdäpfel für vollkommen verkannt hält? Ich hoffe sie hasst Indie Rock. Alle diese Überlegungen führen dazu, dass ich den Kopf schief lege. Sie faltet derweil die Hände, legt ihr Gesicht an die Daumen und reibt es dann mit einem müden Stöhnen über die sich öffnenden Handflächen. Sie schmatzt und grinst mich schasaugig an. Ich hoffe meine komische Art wirkt genau so sympathisch wie die ihre. Jetzt erwidert sie meine Haltung mit quergelegtem Kopf und wir sehen aus wie zwei Welpen, die ein mittelschweres Sudoku-Rätsel lösen müssen.

„Warum treffen wir uns hier, Susanne?“

„Was meinst du? Du wolltest hierher kommen.“

„Natürlich, also, eigentlich nicht wirklich. Naja, ich würde allgemein gerne verstehen, wie du es geschafft hast mich mit einem Wort zu mobilisieren. Ich bin unfähig, musst du wissen. Trotzdem waren das Telefongespräch mit dir und das Treffen hier wahrscheinlich das Beste, an dem ich seit vielen Jahren beteiligt war. Ich bin richtig stolz auf mich. Gerade wenn ich mir so ganz objektiv überlege, ich sitze hier mit dir.“

Sie lächelt. Das ist immer gut.

„Hannes, das ist nicht viel Voodoo. In Wirklichkeit unvermeidlich, da wir uns beide mit dem Gedanken einander wiederzusehen sehr schnell angefreundet haben.“

Ich lächle. Auch nicht schlecht.

„Noch hast du nix gewonnen, du Möchtegern-Player. Du erzählst schließlich Lügengeschichten auf dem Niveau einer österreichischen Tageszeitung. Ich meine, da im Hauptgebäudekeller hättest du doch gar nicht sein dürfen. “

Ich schüttle den Kopf und verstecke mich hinter einem verzwickten Knautschgesicht.

„Dass du nicht für die Uni arbeitest ist auch klar.“

Auf diese ihre Feststellung hin brauche ich nicht einmal noch nicken. Ich spitze unangenehm berührt die Lippen in Richtung Espressomaschine.

„Du hattest was anderes vor.“

Ertappt ! Ich antworte mit meiner Lunge leise entweichendem Kohlendioxid.

„Hannes, warum warst du dort unten?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Du würdest bereuen mir deine Nummer gegeben zu haben. Vielleicht wäre das ein guter Zeitpunkt für blindes Vertrauen.“

Ein bettelndes Augenbrauenspiel wird nachgeschossen.

„Scheiß auf Vertrauen, ich kenne dich nicht.“

Das sagt sie mit einer eigenartigen Intonation, die mehr nach dem genauen Gegenteil klingt. Sie schaut mich lange amüsiert an, was mich unbeschreiblich nervös macht.

„Was ist denn nun dein großer Plan?“

Starr wie ein Reh im Autoscheinwerfer blickt Ernst auf Ernst. Susanne atmet tief ein und beginnt auf ihrem Sessel hin und her zu rücken. Sie hebt ihre Knie über den Tischrand und zieht sie an ihre Brust. Das Gleiche nochmal mit dem anderen Bein.

„In diese Jeans zu kommen war der 3. Weltkrieg. Meine Oberschenkel sind nicht proportional.“

Ich weiß nicht was sie meint. Wenn überhaupt sollte man ihre Oberschenkel im Louvre ausstellen und dann könnte ich sie als Besucher heimlich anknabbern ohne auch nur einen schäbigen Gedanken an die strafrechtlichen Konsequenzen zu verschwenden.

„Ach was, reich an Bein ist fein.“

Ich könnte mich nicht erinnern in meinem ganzen Leben jemals so etwas Idiotisches gesagt zu haben. Das Glück ist mir abermals hold und Susanne validiert den Spruch mit einem belustigten Schniefen. Sie streckt sich und schaut auf die große Uhr über der Bar.

„Übrigens schön, dass du vorhin nicht zu spät gekommen bist. Ich hasse warten. Nur deshalb komme ich manchmal absichtlich zu spät.“

„Mir geht es genauso. Ich bin unglaublich ungeduldig und leider immer pünktlich. Eine furchtbare Mischung.“

Sie darf nicht merken wie langweilig ich bin. Schnell, lass sie wissen, dass du auch tiefer gehende Gedanken hast.

„Hast du dir schon mal vorgestellt wie es wäre wenn dein Name ein Palindrom wäre. Mir wäre die symbolistische Belastung zu groß. Anna, Otto, das erzeugt gleich eine so bedeutungsvolle Erwartungshaltung.“

Susanne hat ihre Augenbrauen beinahe bis zum Haaransatz hochgezogen und wartet. Habe ich diesem Geschwätz noch irgendetwas anzufügen? Glücklicherweise, Nein. Sie gibt perplex ein schafähnliches Quäken von sich mit Fragezeichen am Schluss und muss einfach ehrlich sein.

„Du redest Schwachsinn, Hannes. Schwachsinn. Komm, trinken wir noch was.“

Während ich das restliche Salz aus dem Erdnussschälchen fingere nicke ich langsam und mit vollster Zustimmung.

Nach meinem Fruchtbarkeitstanz durch Armins viele Zimmer schwappte Nostalgie in mir hoch. Ich musste wieder an ein Mädchen aus früheren Zeiten zurückdenken. Immer wieder spazierten mir irgendwelche Verflossene durchs Hirn bereit mir den Tag zu versauen. Logische Zusammenhänge gab es da selten. Innerhalb von Sekunden lag ich still auf dem Bett und ließ die hormongeschwängerten Gefühlslagen meiner ersten unglücklichen Lieben Revue passieren. Manche Gesichter waren da oben derartig klar verankert. Gespenstisch. Ich durchlief den alten Kanon der Verzweiflung, der unerwiderten Liebe. Alles hätte darauf schließen lassen, dass wir zusammenkommen. Die Freunde, die Zeit, der Sex, das Leben, das Drumherum, nur sie nicht. Die Umstände hätten gepasst und die Liebe sich angeboten, nur sie sich nicht. Ablehnung ist nichts an das man sich gewöhnt. Sinn wird es nie machen. Zu dieser Zeit hatte ich angefangen Traumtagebücher zu führen, jedoch über einen sehr kurzen Zeitraum. Die Träume eines Fünfzehnjährigen wären für die Nachwelt viel zu verstörend gewesen. Ich wusste, dass ich die schrecklichen Aufzeichnungen der schlafenden Pubertät noch besaß. Irgendwo in den überlieferten Archiven der Vorzeit. Und zwar dort in meinem Zimmer, im Dokumentenkoffer. Ich kramte kurz, fand die Zeitkapsel und begann zu blättern. Eigenartig, der Anthropologe der eigenen Entwicklung zu sein, der Historiker der persönlichen Lebensgeschichte. Einen Auszug, gleich nach einigen äußerst homoerotisch gefärbten Geschichten, die ich schnell übersprang, las ich dann doch genauer. Es ging um eine der großen Drei. Frauen, die meine Seele umgruben wie Planierraupen. Jedes Wort erweckte die Traumbilder mehr zum Leben. Tatsächlich stieg sogar die gleiche emotionale Intensität stieg aus der Asche meines Unterbewusstseins. Die Schrift war die meine jedoch sehr ängstlich geführt und entzückend melancholisch.

„Ich hab geträumt, dass ich dich zu Haus besuche und überdurchschnittlich schwer in dich verliebt bin. Du führst mich hinaus auf einen von Weiden und Hecken umgebenen Gartenbereich. Es ist ein mäßig-warmer Frühlingstag. Blumen verschiedenster Farben und Formen sprießen im Garten Eden und aus allen Spalten des unförmigen Steinplattenbodens. Ein dicker Teich mit dunkelgrün bewachsener Oberfläche umspielt die Seiten einer Terrassenerhöhung. Darauf flaniert lethargisch deine Familie auf Liegen und Polstern. Fast hochnäsig werde ich gemustert und mit zweideutigen Gedanken fallen mir die leicht benebelten Augen deiner Schwestern auf. Sie tragen leichte Kleidung, die an 20er Jahre erinnern. Viel zu viel Schmuck hängt auf ihren hauchdünnen Kleidern. Man stellt sich einander vor. Ein unangenehmes Gefühl streift durch meinen Torso. Du bist verschwunden.

Ich suche dich im Inneren des Hauses. Ich weiß nichts Klares zu erzählen von diesem Labyrinth aus alten Jagdtrophäen, dunklen Stoffen und bäuerlicher Holzausstattung. Alles ist verschlungen, verzerrt und ich habe Schwierigkeiten etwas zu erkennen. Dieses Haus fühlt sich an wie ein Mausoleum und deine Familie wie arrogante Untote. Ich bin eifersüchtig. Warum? Mit wem bist du verschwunden? Ich höre zwar das entfernte Treiben anderer Menschen, doch es ist unmöglich in den schlauchengen Gängen auf direktem Weg irgendwohin zu gelangen. Ich zwänge mich durch einen sieben- oder achteckigen, bizarr hölzernen Türstock, der eher einer Durchreiche ähnelt. Vielleicht der Anus dieses verwesten Anwesens. Ich gebe auf.

Ich sehe mich selbst mit ernster Miene die Gartentür öffnen. Mit Schal und einem Mantel, dessen Taschen meine Hände wärmen, stolpere ich die Auffahrt hinab, weg von deinem braun-weißen Heim hinter den Spiegeln. So lasse ich den oberen Mittelstand hinter mir. Vom Hügel herab führt der Weg durch Wald und Wiesen. Ich bin enttäuscht von dir und verachte mich dabei noch mehr, meine Feigheit und Unwissenheit quälen mich und sind traurig real. Als ich die Hälfte des Wegs aus jener Traumsphäre zurückgelegt zu haben scheine, erklingt das Rattern eines Fahrrads. Du bist es und du fährst direkt auf mich zu. Du freust dich und lachst mich an. Wo ich gewesen bin? Das sollte doch wohl eigentlich ich fragen. Aber ich bin so froh und richtig glücklich. Orgasmen und Endorphine müssen sich hinten anstellen. Wir kehren um. Am Weg zurück zum Haus fährst du neben mir. Du verreißt ständig den Lenker, da du Schrittgeschwindigkeit fahren musst. Alles wird gut. Ein Gefühl der Entspannung und Zufriedenheit macht sich breit.

Vor deinem Haus stehen zwei Autos hintereinander, nicht weit entfernt von einem steilen Hang. Unerklärbare physikalische Kräfte, die nur in einem Traum wirklich Sinn machen und die trotzdem irgendwie durch meine fehlende Umsicht verursacht wurden, bewirken, dass der eine Wagen langsam auf den Vorderen stößt. Der grün-graue Kleinbus rollt ratternd den mit Gras überwucherten Hang hinab und kracht in die etwa hundert Meter entfernte Garage des Nachbarn. Die erhebende, positiv emotionale Richtung, die der Traum genommen hat, schießt nun ähnlich dem Tathergang senkrecht nach unten. Anstatt der verliebten Atmosphäre, braut sich eine Ahnung von Unruhe und Trubel zusammen. Deine Familie, die mich ohnehin zu hassen scheint, wird mich in der Luft zerreißen.

Du und das Geschehen verblassen. Da, ein verschwommenes Gesicht. Weiß, kugelrund, mit blauem Rand und mit kleinen sowie zwei großen Strichen auf der flachen und perfekt rund geformten Oberfläche. Du tickst auch richtig. Zwei metallene Halbkugeln als Ohren? Meine Sicht fokussiert. Es ist schon viertel nach zwei. Absurd, ich wache seit zwei Wochen immer zu früh auf. Genau drei bis fünf Minuten bevor der Wecker läutet. Langsam werde ich etwas ärgerlich, starre streng auf den Wecker und warte bis es offiziell Zeit ist mich zu wecken.“

Ich war unglücklich verliebt in dieses Mädchen mit dem Fahrrad und der Bohème-Zombiefamilie. Die alte Geschichte. Ich bekam einen Finger und wollte die ganze Hand. Sie bot mir kurz Zuneigung, und die Faszination darüber verwandelte mich in den emotionalen Nimmersatt. Und wie gewohnt, verschreckte der klammernde, romantisierte Irre sie dann umgehend.

Da hörte ich abwesend und in die Bettdecke eingedreht Armins Stimme über irgendwelche Verätzungen fluchen. Als ich mäßig besorgt aufsah, stand Dinetti im Türstock. Seine einzige Beschäftigung wie es scheint, sich mir in den Weg zu stellen. Mir wurde klar, dass ich mich nicht mehr vor ihm fürchtete. Dafür war er zu oft präsent. Aber es wäre doch schrecklich, wenn einem bei jedem selbstreflektierenden Gedankengang die fleischgewordene Repräsentation des eigenen Geistes im Nacken sitzen sollte. Jener auf Papier gebrachte Traum ließ mich trotzdem nicht los. Die Geschichte schien stellvertretend für eine meiner Neigungen zu stehen, die ständig Frauen zu Gottheiten erhob. Denn unerreichbare, unnahbare Menschen sind einfach. Aus sicherer Distanz sind alle schön und gerecht. Und der Versuch Kontakt herzustellen, ist ja ohnehin zum Scheitern verurteilt. Kein Druck. Keine Überraschungen. Mir wurde schlagartig klar, dass ich eine grundlegende soziale Störung aufwies und sicherlich auch Intimitätskomplexe hatte. Ich wusste, dass diese Emo-Scheiße nichts in Susannes Welt zu suchen hatte. Etwas vom Lampenfieber gepackt wühlte ich weiter in der Erinnerungskiste. So als ob wirre Mementos aus den frühen Jahren des Hannes Erlachs bei der Suche nach tiefgründigen Antworten hilfreich sein könnten. Da hielt ich aber auch schon inne und zog mit einem ahnungslosen Ausdruck zwei Plastiksäckchen zwischen den alten Kassetten hervor. Zwischen dem Staub meinte ich etwas wie gefußelte Haarwürste aus zu machen.

Mittlerweile ist es später Nachmittag geworden und wir sitzen seit Stunden hier in der ultimativen Kaffeehaushässlichkeit des siebten Bezirks. Der Alkoholkonsum hat unsere Konversationslautstärke angehoben. Außerdem werde ich immer ehrlicher in Bezug auf meine Person. Das könnte noch zum Problem werden. Am liebsten würde ich ihren Sessel an den meinen ziehen. Dann grabe ich mich mit der Nase voran in ihre Haare und rieche ihren Nacken bis ich ohnmächtig werde. Ich muss auf jeden Fall vermeiden diesen Wunsch offen zu gestehen. Ich schlürfe den Schaum des fünften Biers. Überhaupt drängen sich Geständnisse persönlicher Art in Richtung Zunge, bereit mich in ein beschwipst offenes Buch zu verwandeln. Also Vorsicht, denn der sogenannte Selbstschutz der Frauen hat mich schon so manche Beziehung gekostet. Ich bin zu müde um meinen Irrsinn zu tarnen und das ganze Theater Leid. Sicher würde ich nun gerne mit einem Wort ihr Gesicht aufhellen wie einen Computermonitor, aber mir ekelt vor den billigen Witzen und den leeren Worten. Die Stereotype sind erschöpft oder einfach abgenützt bis auf ihre porösen Skelette aus Wahrheit. Was passiert hier denn in Wirklichkeit. Ein nettes Gespräch, das völlig oberflächlich und ungefährlich zwischen zwei mäßig betrunkenen Menschen verendet. Plötzlich starren sie einander an und setzen den gleichen skeptischen Ausdruck auf. Ich muss an Gestern denken und kann meine Seelenzensur nicht länger beherrschen.

„Ich habe gestern zwischen alten Kinokarten, Postkarten und Steinchen längst vergessener Strände gekramt. So eine Sammelkiste aus der Jugend. Du glaubst nicht was da alles zum Vorschein gekommen ist. “

Susanne schüttelt zur Unterstützung wild den Kopf und spielt ungeduldig neugierig.

„Sei gespannt, ich habe dort zwei in Zellophan eingeschweißte Haarlocken von meinen beiden großen Jugendlieben ausgegraben. Erst musste ich mal das unangenehme Gefühl eines Sittenmörders abschütteln, du verstehst. Ich kann dir versichern, dass die Haare keine Opfertrophäen aus meiner Zeit als Würger sind. Viel besser, stell dir vor. Unabhängig von einander haben diese Mädchen kleine Teile aus ihrem schönen Haupthaar geschnitten und mir gegeben. Das Problem war aber eigentlich, dass ich schwerstens verliebt in beide war, und mir die Geste, so nett sie auch war, herzlich wenig Befriedigung gab.“

„Du hattest gleichzeitig zwei große Lieben?!“

„Nein, nein, hintereinander natürlich.“

„He, he, natürlich.“

„Jedenfalls gestand ich zweimal meine Liebe, blitzte ab wie Zeus und beide kamen unabhängig von einander dann auf die absurde, fast perverse Idee mir ein Stück Haupthaar zu schenken. Zwei verschiedene Mädchen, derselbe Blödsinn? Vielleicht sollte die Geste eine Art Kompensation oder herunterstufende Gefühlsbezeugung sein, was weiß ich. Auf alle Fälle fand ich das damals sehr rührend. Erst später hab ich realisiert, dass diese schlauen Biester mich wie einen Idioten und ohne viel Aufsehen abgefertigt haben.“

Und da passiert es. Eine Reihe weißer Zähne salutiert vor mir nach dieser tragisch lustigen Anekdote. Genug geredet von Haustieren und Fernsehserien, jetzt ist das leidige Thema Liebe dran. Die Banalitäten des alltäglichen Malochens lassen wir jetzt schön hinter uns. Mit verschmitzten Lippen stimmt sich Susanne auf ihren Beitrag ein.

„Zugegeben, das klingt hart, Hannes, aber ich habe Typen sicher schon schlimmer abgespeist. Ha, einer wollte mal unbedingt mit mir und vor allem für mich Schuhe kaufen gehen bei Zara. Der hat sich die Augen ausgeweint, da war die Kreditkartenrechnung noch nicht mal ausgedruckt.“

„Du bist brutal.“

„Ach was. Ich heule ja selber die meiste Zeit. Da hat es einer halt etwas unverblümter abgekriegt. Typen haben mich ganz schön kaputt gemacht sag ich dir.“

Sie nimmt einen bedachten Schluck vom Cuba Libre.

„Der letzte nennenswerte Mann in meinem Leben, ich sage dir, der hätte mich fast als katatonische Knödelmasse zurückgelassen. Bei ihm wäre ich dankbar um eine Locke gewesen. Manchmal wenn wir im Bett lagen und schliefen, bemerkte ich, dass er sich unruhig hin und her wand. Außerdem rückte er dabei immer weiter von mir weg. Ich dachte, wir wären einander einfach noch nicht gewohnt und ähnliche Selbstbetrügereien. Dann fing er plötzlich an, dass er auf die Couch nach draußen floh, jede Nacht. Ich meine, dass geht doch nicht. Da musste ich ihn einfach halbhysterisch niederbrüllen, worauf ich nicht unbedingt stolz war, aber alles blieb so quälend unausgesprochen. Er erklärte das Ganze so, er wäre zu sexuell erregt geistig und körperlich, um einfach neben mir einschlafen zu können. Er würde nicht zur Ruhe kommen. Egal ob vor oder nach dem Sex. Er war rasend.“

Ach, das will ich nicht hören, Mädchen. In meiner Vorstellung hat noch niemand Sex mit dir gehabt. Ich täusche mal Desinteresse an dir als körperliches Wesen vor und sage nichts. Als ob ich das könnte!

„Nun fühlte ich mich einerseits als Frau sehr geschmeichelt, natürlich, aber zur selben Zeit auch brutal abgewiesen. Ein gestreicheltes Ego ist sicher nicht besser als das Gefühl einer liebenden Person im Bett. Seine permanente Erektion hielt uns auseinander!“

Versehentlich schnalze ich mit der Zunge bei der Erwähnung eines konkurrierenden Penis. Damit ist mein gestelltes Cool wohl jämmerlich verpufft. Sie reagiert aber nicht wirklich. Die Geschichte geht ihr nahe.

„Er versicherte mir immer wieder, dass er mich liebte. Ich glaubte ihm eigentlich. Auch wenn ich bis heute keinen Beweis eingefordert habe.“

„Einen Beweis? Also hast du ihm doch nicht geglaubt.“

„Doch, da war nur einer seiner Charakterzüge, der mich verrückt machte. Er konnte Dinge ohne jegliche Gefühlsregung sagen. Dass sein Vater gestorben war, erzählte er mir während er eine Eiswaffel kaute. Sicher schuf seine Undurchsichtigkeit eine wunderbare Mystik, die mich anzog, aber gleichzeitig war der Mann unlesbar. Als ich bemerkte, dass er auf andere Frauen ähnlich wirkte, beendete ich das Trauerspiel. Der Typ war zwar mysteriös und derartig in mich verliebt, dass er wegen seinem Ständer jede Nacht auf der Couch schlafen musste, aber als andere auf den Geschmack seiner Besonderheit kamen, wurde mir die fehlende Nähe noch deutlicher. Mein tolles Geheimnis war nicht mehr exklusiv sondern allgegenwärtig. Würde er bei ihr oder bei ihr oder bei ihr auch vor Verlangen auf die Couch fliehen müssen?“

„Hat er dich also betrogen?“

„Keineswegs, er war treu wie ein Schoßhündchen. Nur musste er weg, denn bevor ich ihn mit der Welt hätte teilen können, hätte ich ihn umgebracht.“

Sie trinkt Ex auf den Ex. Mit jedem verrücktem Wort aus ihrem Mund sinken meine Schulter und mein Kopf nieder, in Richtung ihrer Brust, die ich als mein Nachtlager auserkoren habe. Ob sie es ahnt? Ich muss versuchen zu sprechen, auch wenn meine Zunge fast eineinhalb Liter Merlot schwer ist.

„Susi — “

„ — nein, Susi geht gar nicht.“

Rotwein tropft mir aus dem Mund, egal.

„Gut, dann Sanne, hör zu. Das ist doch klar, dass man Liebe nicht teilen will. Jeder verfällt diesen selten gewordenen Menschen, die einem derartig liebevoll, fröhlich und wunderbar entgegenkommen. Man spürt in ihrer Gegenwart ein göttliches Wohlbefinden oder man hyperventiliert. Es passiert immer das Gleiche. Ich liebe sie, aber nur so lange sie sich ausschließlich mir gegenüber so verhalten.“

„Ha, stimmt. So quasi, ich habe von seiner Nächstenliebe als erste gehört, also hau ab, du Hure.“

„Sobald ein anderer in den engeren Kreis ihres berauschenden Glanzes kommt, kippt der Zauber. Plötzlich mutieren diese Guten, diese Speziellen zu Schleimern. In ihrer Freundlichkeit und Besonderheit sehe ich nur noch Kommerz, Falschheit und wie sie sich anbiedern. Bei mir war sie echt. Bei allen anderen scheint ihre Umgänglichkeit wie ein komplexbehafteter Kampf um Aufmerksamkeit, mit ganz fiesen Mitteln wie Nettigkeit und Verständnis.“

„Ich muss meine lieben Menschen für mich alleine haben. Keinesfalls bin ich eine willensstarke Frau. Ich bin schneller von etwas abhängig als ich Socken wechsle.“

Ich nicke benommen und zustimmend. Außerdem versuche während ich den Rotwein von meinem Kinn abwische weiter zuzuhören ohne an ihre perfekten Beine zu denken. Warum muss sie auch Socken sagen.

„Das sind Süchte nach bestimmten Momenten, Alltagsriten, den richtigen Drogen im richtigen Moment. Hauptsächlich bin ich aber süchtig nach den guten Leuten, diese Arschlöcher. Wie gesagt, ich bin nicht willensstark. Deshalb verfalle ich den starken Persönlichkeiten, denn sie sind wie Anker, wie ein höheres Ziel im Leben. Du bist zum Glück keiner dieser perfekten Leute. “

„Danke vielmals. Soll ich gehen.“

„Nein, ehrlich, scheiß auf die Elite, wer will schon einen außergewöhnlichen Charakter.“

„Scheiß drauf.“

„Sobald sich herausstellt, dass solche Typen die gleichen gebeutelten Plüschtiere mit ihren Schwächen und ihrem Leidensweg sind, muss man sie sowieso loswerden. Sobald die Goldgötzen zum Menschen werden verlieren sie jeglichen Nutzen. Das ist dann der schwierigste Teil. Ich weiß nie wie ich jemanden wegschicken soll.“

„Interessant. Ich hatte auch noch nie ein Problem damit, jemanden meine Zuneigung zu gestehen, aber mir fällt es unheimlich schwer einer Person meine unverfälschte Ablehnung reinzuwürgen. Sogar bei Haustieren fällt mir so etwas schwer. Ich streichle aus Höflichkeit. Jemanden, der mich vielleicht sogar liebt, abzuweisen, ist unmöglich. Nein, ich finde dich nicht attraktiv und bitte nimm mir das nicht übel. Wie soll das denn gehen?“

„Au, au, au, du hast Recht.“

„Ich meine, so offen und direkt kann ich nicht sein, keiner macht das.“

„Aber Hannes, diese Unfähigkeit jemanden richtig unzensiert die Wahrheit zu sagen führt letztens immer zu langgezogenem Leiden.“

„Stimmt auch, es ist fast bösartig. Ich habe es miterlebt. Man muss sich das mal überlegen. Oberflächliche Gründe wie schlechtes Aussehen oder sexuelle Unzulänglichkeit sind doch am nachvollziehbarsten. Perfekte Mittel mit seinem Partner Schluss zu machen, konkret und ehrlich. Auch wenn es emotional tieferliegende Motive gibt, einfach behaupten, man könnte diese Fresse nicht mehr sehen. Sicher klingt das hart, aber so eine verbale Kopfnuss ist wenigstens schnell verdaut.“

„Verdammt, es gibt echt nichts Schlimmeres als ein vager Grund die Beziehung zu beenden. Diese ganzen elenden Sprüche.“

„Ach, es fühlt sich nicht richtig an.“

„Ich kann es auch nicht erklären.“

„Es ist irgendwie komisch.“

„Es ist nicht wegen dir.“

„Es ist wegen mir.“

„Du bist einfach ein zu nettes Mädchen.“

„Ich habe seit Monaten einen haitianischen Liebhaber.“

„Wie? Den kenne ich noch nicht.“

Kein Wort über Marleen! Von der lasse ich mir nicht den Abend versauen. Mein erhobener Zeigefinger und der Versuch aus dem Sessel aufzustehen signalisieren hoffentlich nachvollziehbar, dass ich eine Klopause einwerfe.

Die Freundin eines guten Freunds war eines Abends sehr betrunken und begann mir zwischen die Beine zu greifen. Sie deutete mit einer peinlichen, sexy intendierten Kopfbewegung Richtung Toilette. Eine fettige Strähne hing ihr ins Gesicht und ich wurde schwach. Ich hatte noch nie eine Freundin gehabt und da der Betrug mehr auf ihrer Seite lag, redete ich mir ein es wäre doch in Ordnung auf die Avancen einzugehen. Sie packte mich erneut am Penis und ich im Affekt am Genick. Ich zog sie bebend zu mir. Ich zischte ihr etwas brutal Zustimmendes ins Ohr. In der Toilettenkabine nahm ich sie von hinten und sie erbrach sich kurz nachdem ich gekommen war in die Klomuschel. Ich ließ sie zurück. Sexuelle Aggression und Ekel waren vermischt in meinem jungen Schädel. Der wohl abscheulichste Moment meines Lebens.

Ich manövriere behände zwischen den Drahtsessel zurück zu unserem Tisch. Gott, vielleicht sollte ich ein Glas Wasser trinken. Sanne hat mir schon wieder nachbestellt und steigt wieder direkt in unser unterbrochenes Gespräch ein.

„Alles klar? Wir haben gerade die Menschheit verdammt, weil Beziehungen zu höflich beendet werden.“

Eigentlich schön. Endlich kann ich mir diesen ganzen angesammelten polemischen Müll von der Seele treten. Susanne scheint mich wirklich zu verstehen. All die tragischen Gespräche mit Ex-Freundinnen blubbern an die Oberfläche und ich werde etwas wütend.

„Genau, diese verdammten Beziehungsspiele, sogar am Ende. Nur Höflichkeit würde ich das nicht nennen. Ich hasse sie, die Unsicherheit, die Frage. Die unausgesprochene Frage des Abgewiesenen, die einen auffrisst. Was oder wer ist besser als ich, man fleht innerlich um eine Erklärung. Wenn mein Mädchen mich nicht mehr sehen will und undefinierbare Motive dafür stammelt, warum kann das keine konkrete Antwort sein? Warum reiche ich ihr nicht? Was funktioniert nicht? Die unaufhaltsame Selbstanalyse zersetzt einem das letzte Fünkchen Glauben an die Menschheit.“

„Ja gut, Hannes, ganz ruhig. Wie ich höre hast du solche Lebensphasen auch schon lebend überstanden, mit Betonung auf überstanden.“

„Gerade noch, um ein Haar wäre ich schon an Frauen zerfallen wie ein Stückchen trockener Fetakäse.“

„Sicher ist es manchmal hart, aber niemals unüberwindbar. Und vergiss nicht, dass es selten ein einzig wahres Problem ist, das man mit seinem Lieblingsmenschen hat und isolieren könnte.“

„Das stimmt schon, aber ich behaupte jetzt einfach mal, dass wenn die Gründe für eine Trennung beim besten Willen nicht auf einen nachvollziehbaren Nenner zu bringen sind, sollte man der armen Seele, die man da im Stich lässt, trotzdem eine klare, unmissverständliche und vielleicht sogar zerstörerisch finale Antwort schenken. Ich finde dich nicht attraktiv. Du riechst eigenartig. Mir ekelt vor deiner schlaffen Vagina. Unterhaltungen mit dir sind nervtötend. Du bist dumm und hast nichts das diesen Umstand ausgleicht. Ich fühle mich nicht wohl bei dir, weil du mir mit deiner Art Angst machst. Du bist so komisch, dass mir schon der Gedanke kann, du bist behindert. Dein Körper ist nicht wie ich das will. Und so weiter und so weiter.“

Jeden Satz intoniere ich immer persönlicher. Sanne schaut langsam etwas skeptisch, aber je mehr sie die Augenbrauen verhärtet desto süßer finde ich dieses gesprenkelte Engelsgesicht. Jetzt öffnet sie wieder ihre bei Konzentration leicht gespitzten Lippen.

„Mit solchen Sprüchen ziehst du weniger einen Schlussstrich, viel mehr pflanzt du Komplexe in die Köpfe dieser Frauen.“

„Das glaube ich nicht. Ich wäre sicherlich froh um so eine direkte Antwort.“

„Willst du irgendwie andeuten Männer hätten es in diesen Trennungsvorgängen allgemein schwerer?!“

„Nicht unbedingt, aber es ist doch wohl so, dass Frauen meist wenig pragmatische Gefühlsentscheidungen treffen, auf ihr Herz hören und der ganze selbststilisierte Mist.“

„Häng’ mir du keine Herzscheiße an, du, der hier seit Stunden über Trennungsschmerzen redet. Ich habe schon im EKH auf vier Pillen und einer Flasche Kahlua überlegtere Entscheidungen getroffen als die pragmatischsten Männer.“

Ihr Glas fällt um und das zerkleinerte Eis raschelt zu Boden. Ich muss erklären auf was ich eigentlich hinaus will.

„Sanne, ich habe nie verstanden wie und warum mich jemand liebt, aber trotzdem ist es passiert. Ich will diese Gefühle verstehen.“

„Das Gleiche sagen Psychopathen.“

Und da saugt sie auch schon grimmig schauend die braune Rumpfütze von der dreckigen Tischplatte.

„Ich bin kein Psychopath, also ich bin mir ziemlich sicher. Aber überleg doch mal. Wenn ein Mann mit seiner Sekretärin durchbrennt, weil diese hübscher ist als seine Frau zuhause, vielleicht auch noch einen besseren Körper und jünger ist, das sind Bewegründe, die zwar nicht schön sind, aber leicht zu durchblicken. Frauen sind unberechenbarer und können sich in alles und jeden verlieben. Plötzlich verlässt du mich, äh, zum Beispiel, du verlässt mich für einen alten Steuerberater mit Bandscheibenprobleme ohne Geld und mir bleibt nicht das kleinste Stück Erklärung. Das Herz will was das Herz will.“

„Erstens ist deine Beschreibung von Frauen saubeleidigend. Wir sind keine emotionsgesteuerte, Einhörner reitende Meute von Chaoten, die hilf- und ahnungslos wie Seifenblasen durch die Welt driften.“

Sie knallt ihren Ellbogen in die Tischmitte und nimmt mich mit dem Zeigefinger ins Visier. Den ganzen Abend waren wir uns noch nicht so nahe.

„Und zweitens, könntest DU mir erklären warum du mich, ähm, also eine Frau liebst? Kannst du ganz sachlich ausführen, warum du gerade die eine und nur sie alleine haben willst. Da sind nicht nur Fakten und Aussehen im Spiel. Zugegeben, manchmal wollen wir Frauen Dinge, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Da ist die rohe maskuline Kraft, den Urmann, den schwarzen Wilden, dessen Dominanz und Durchsetzungsvermögen sauscharf sind. Und auf der anderen Seite wollen wir das Weichei, da ist das Verlangen nach Verständnis, nach einer sicheren Zweisamkeit in der man gefälligst gebraucht und gehalten wird. Schutz und Leidenschaft, Sanftmut und Mitgefühl. Und selbst wenn es zu dieser perfekten Mischung kommen sollte, selbst dann kann was nicht stimmen. Denn in einer perfekten Konstellation gibt es nichts zu bemängeln und Perfektion ist schlichtweg unnatürlich. Wenn es nichts zu wünschen, nichts zu kritisieren gibt, fällt die Liebe in sich zusammen. Das ist die pragmatische Analyse und ich bin mir darüber im Klaren. Trotz alledem verliebe ich mich immer wieder aufs Neue. Genau so wie du, genau wie alle anderen. Auch wenn die Rechnung vielleicht nie aufgehen wird. Genau hier liegt das Problem, du redest nämlich in Wirklichkeit von zwei verschiedenen Dingen. Für dich sind Gründe warum man dich liebt und Gründe ich zu verlassen der gleiche Sud. Irgendwann bist du wohl offiziell zu einem traurigen Menschen geworden, Frust und Liebe gehen bei dir mittlerweile schon Hand in Hand und dabei sind das doch zwei komplett verschiedene Dinge. Du musst verstehen, es wird immer einen Grund geben seinen Partner zu hassen, aber NIE einen greifbaren ihn zu lieben. Das ist doch verdammt noch mal das Übernatürliche an dem Ganzen.“

Ich will diese Frau jetzt sofort küssen! In Prozess des anfänglichen Kennenlernens streiten wir bereits über emotional tiefergehende Dinge als ich jemals mit Dinetti angesprochen hätte. Das einzige was ich auf ihren Monolog erwidern kann, ist ein erbärmliches Keuchen, das ursprünglich als leicht verächtliches Lachen geplant gewesen wäre. Sanne steht nun auf und für einen Moment glaube ich, dass mich einfach sitzen lässt. In Schlangenlinien schlendert sie nun auch in Richtung Toilette. Sie kümmert sich weniger um die Sesselaufstellung. Zwei davon fallen.

Die Angst verlassen zu werden ist tatsächlich sehr bestimmend in meinem Umgang mit Frauen. Marleen war eigentlich meine erste wirklich lange Beziehung. Irgendwie traurig, dass davor ein Mädchen aus der Schule meine engste emotionale Bindung darstellte. Und das auch nur, weil sie mir lustlos zusicherte zu jener Zeit nicht unbedingt Interesse daran zu haben mit jemand anderen als mir zu schlafen. Das war groß für mich. Dieses halbherzige Versprechen war das höchste mir bekannte Maß an zwischengeschlechtlicher Loyalität. Ansonsten kamen mir selten die wundervollen Biester selten so nahe wie ich das gerne gehabt hätte.

Nur Sanne hat nun in kürzester Zeit den Testbereich betreten. Kann sie meinen wirren Gedanken Stand halten? Verbietet sie mir im richtigen Moment den Mund? Eine Zurechtweisung, die ich manchmal tief drinnen ersehne. Wird sie die feinen Grenzen zwischen Zynismus und trauriger Wahrheit meiner Worte auseinander halten können? Ich übertreibe, aber auch mit Absicht. Das bin ich. Es ist eine Art aus sich selbst entstandener Schutzmechanismus. Persönliches und Krasses rutscht raus wie Blähungen und die Reaktionen des anderen darauf sind der eigentlich interessante analytische Teil der Unterhaltung. Irgendwie logisch. Diejenigen, die dem Belastungstest meiner Persönlichkeit Stand halten können, sind nur durch Bombardement der Extreme zu isolieren. Und aus Erfahrung sind diese Menschen rar.

Sie kommt zurück und hat ein Tablett dabei mit fünf Gläschen Wodka darauf drapiert. Wieder drängt sich für einen Moment der Gedanke auf, dass es sich bei ihr tatsächlich um eine schwere Trinkerin handeln könnte. Ist das ein Problem für mich? Ich habe keine Furcht und ohnehin auch keine Zeit weiter zu überlegen. Sie knallt mir zwei Stamperl vor die Nase. Am vom hoch gekrempelten Blusenärmel entblößten Handgelenk baumelt ein mehrmals herumgeschlungenes Silberkettchen. Es klingt auf der Tischplatte obwohl die Ethnomusik des Lokals relativ laut trommelt. Sie hat längliche aber schöne Hände. Ich schaue weiter entlang den Armen auf ihre Halspartie, die ich am liebsten sanft mit meinen Fingern umschließen würde. Einfach um ihren Puls und Atem zu spüren. Ihr Kiefer ist glatt und steht weit nach vor. Sie sieht mich nicht mehr an und nimmt sogar so etwas wie eine Pose an. Eine Einladung? Lässt sie mir mit dieser Haltung gerade Zeit sie genauer zu beäugen?

Dinetti war in den letzten Tagen zu einer allgegenwärtigen, furchteinflößenden Fliege an der Wand geworden. Ich schlief auf Armins Couch im Arbeitszimmer und träumte. Schlaf ohne Beklemmung und ohne kalten Schweiß. Das schicksalhafte Treffen mit Sanne hatte mich seelisch beruhigt und vielleicht darf man auch den unausgeführten Genozid als einen neuen Anfang bezeichnen. Ohne Pathos. Jedenfalls war das erste, das ich nach meinem Mittagsschlaf zwischen den Aktenschränken ausmachen konnte, Dinettis schwarze Gestalt dicht vor mir. Seine Hände waren wie immer in den Taschen des Hoodys vergraben und er stand da mit gesenktem Kopf und Kapuze, wie ein dämonischer Mönch aus einem Ghetto des Purgatoriums. Der Anblick war versteinernd. „Twin Peaks“ war „Am Dam Des“ dagegen.

Kopfschüttelnd richtete ich mich auf und konnte ihn rein physisch nicht mehr ansehen. Eine psychosomatische Sperre im Genick verbot es mir. Es konnte seine, dass er meine Wut bemerkte, denn er trat einige Schritte zurück hin zu einer dunklen Ecke des Raums. Ich hasste ihn in diesem Moment so sehr, ihn und das was er repräsentierte. Eine kaputte Existenz des Wahns. Die Sicherheit, die er mir in meiner Jugend gab, hatte sich in eine personifizierte Paranoia verwandelt. Schlimmer. Ich fing an zu zweifeln ob nicht die Bekanntschaften der letzten Jahre und Jahrzehnte alle nur Dinettis viele Gesichter gewesen sein könnten. In der Ecke schien er leicht zu zucken.

Mutig baute ich mich vor ihm auf. Die Mittagssonne, die gestaffelt durch die Fensterläden schien wärmte meine Haut. Ich fasste Dinetti Schädel genau ins Auge und wollte dahinter sehen. Hinter die menschliche Erscheinung, in den Kern der fleischgewordenen Psychose. Kleine zittrige Schauer liefen der gesichtslosen Gestalt durch die Arme und Beine während ich mich langsam näherte. Das Knarren der Bodenplatten verlangsamte meinen Schritt, da es dadurch die Atmosphäre und Dinetti immer mehr an ein in die Enge getriebenes Vieh erinnerten. Ich musste den Kopf schräg legen, denn nun wollte ich plötzlich wirklich sehen wer er war. Sein Gesicht war seit Wochen in Schatten gelegt und eine böse Ahnung beschlich mich. Was wenn er Sanne war?! Hatten wir uns deshalb so gut verstanden? Was wenn er meinen Lebenswillen komplett zu zerstören versuchte. Meine Hand hob sich Dinettis Kopf entgegen. War er zurückgekommen um mir den Rest des kompletten Traumas zu verpassen? Ließ er mich in Form von Sanne ein letztes Mal auf Liebe hoffen nur um sie mir im richtigen Moment wieder zu entreißen wie einen kleinen Rettungsring im Eismeer. Der Gedanke trieb mir hektoliterweise Tränen aus den Augen. Meine Hand war kurz davor Dinettis Kapuze zu berühren und sein Zittern war zu einem Schütteln angewachsen. Ich weinte und atmete in kurzen erbärmlichen Stößen. Hatte er mich betrogen? Bitte sei nicht Sanne?! Ich schob den Stoff aus seinem Gesicht zur Seite und sah einsam bebende Lippen verzogen in ein grausames Grinsen. Dinetti hatte es nämlich vor Lachen geschüttelt, nicht vor Anspannung, Scham oder Angst um seine Existenz. Sie schlug bestätigend die Augenlider zu. Ich schrie entsetzt auf und taumelte rückwärts in den hellen Schein des Fensters. Auf den Knien brach ich kraftlos zusammen. Ich klammerte mich an den Fensterrahmen und zog mir dicke Schiefer unter die Fingernägel. Überzeugt davon, dass Dinetti sich über meine Angst lustig machte, dass ich Sanne miterfunden haben könnte, wimmerte ich eine Weile auf dem von Farbspritzern verkrusteten Vorleger. Wieder schüttelte ich wild den Kopf und lehnte strikt ab was ich sah. Ich strich mir mit dem Wollärmel über die schniefende Nase bis zum Ellenbogen und hatte mehr als genug.

„Gut, gut, nehmen wir mal an, der Zweck heiligt tatsächlich die Mittel. Dann müssen wir uns nur noch über den Zweck einig werden. Mein Lieber, du hast weder Zweck noch Nutzen. Was immer auch einmal deine Funktion für mich dargestellt haben mag, nichts davon ist mehr existent. Du bist ein unnötiger Schatten der Vergangenheit geworden und mehr als ein Zerstörer meiner Tage. Du warst einmal ein Reflexionpunkt, ein objektiver Teil meines Bewusstseins. Du hast mich stark gemacht und angetrieben. Doch jetzt bist du verwachsen wie ein Tumor, blockierst mit selbstgefälliger Sabotage mein Leben. Du bist nicht Sanne. Du kannst es nicht sein. Du bist auch nicht mehr Dinetti, jedenfalls nicht der den ich kannte. Es ist schrecklich und ich kann es mir nicht erklären, aber als Dinetti mich damals verließ Angesichts des fiebrigen Wahnsinns, blieb diese Türe offen stehen. Wie eine Türe in meinen Kopf und etwas abgrundtief Böses schummelte sich in meine Lebenswelt. Habe ich nicht Recht? Du bist ein Stück abgefaultes Seelenfleisch, das seine Chance gesehen hat in meiner Depression die Welt anzuzünden. Ich habe dir nichts mehr zu sagen, außer meinen Befehl an dich, endlich zu verenden. Mach dich weg, stirb und bleib vergessen, du dreckiger Abszess des Wahnsinns. Schnell, bevor ich zerquetsche und in die Winde blase wie das Häufchen Dreck, das du bist.“

Ich wand mich am Boden wie ein elendes Kleinkind strampelte mit hochrotem Kopf im Kreis so dass mir beinahe die Sehnen aus dem Genick schossen. So als ob ich einen Schluckauf durch radikales Luftanhalten los zu werden versuchte. Ich vertrieb den dunklen Betrüger aus meinem Hirn. Er wollte bleiben und mich nicht teilen, ich konnte es fühlen. Ich schrie ihn zurück in seine unbewussten Hinterzimmer, in den Keller meiner Existenz. Wellen voller Rage und Trauer würgten mich und fesselten meine Gelenke immer wieder an den Boden. Zeit verging und ich kollabierte im Akkord. Epilepsie des Geistes. Auch ohne Hundemeute und einstürzender Altbauten erinnerte ich mich an das erste Mal, das ich mich so fühlte. Dünner Schaum zerlief mir auf den Lippen und irgendwann atmete ich dann auch wieder stoßweise. Der Raum drehte sich weiter obwohl ich bereits wieder still da lag. Der Boden knarrte. Ich erwartete resignierend das Grinsen Dinettis, wie es mich zurück in den Irrsinn ziehen wollte. Doch es war Armin mit einem Ausdruck blanken Entsetzens. Er hatte wohl alles mitangesehen. Meine Unterhaltung, meinen Ausbruch, meinen Selbstexorzismus. Er half mir auf, sprach leise von Hilfe. Dafür bekam er eine furchtbar lahme Ohrfeige von mir. Verdutzt und besorgt reagierte er nicht im Geringsten darauf. Ich wusste nicht wie ich ihm sonst danken hätte sollen. Wir teilten befreiendes Lachen getränkt in Rotz und Tränen.

Wir sind nun am gemeinsamen Heimweg und ich habe meinen Arm um ihre Hüfte geschlungen. Sanne erzählt über Hunde, die man online adoptieren kann. Ich erlaube mir nach einem halben Tag durchgehender Konversation kurz mit den Gedanken abzuschweifen. Die Nacht macht Spaß, denn sie ist warm und der Wind windig. Die Hausfassaden haben noch nie besser ausgesehen. Gut, dass ich meine Finger davon gelassen habe. Mittlerweile haben sie wohl die Zünder gefunden. Das war dann doch mehr Sprengstoff als man ignorieren könnte. Die Situation macht mich ein wenig melancholisch. Sanne gibt mir eine Kopfnuss, dass mein Seitenscheitel Seiten wechselt.

„Kennst du das auch, habe ich gefragt?“

„Tut mir Leid, ich war grad nicht bei der Sache. Ob ich was kenne?“

„Solche Situationen wenn zwei Menschen an an einander vorbeigehen wollen, doch ständig in die selbe Richtung ausweichen wollen, somit sich am Ende blöde hin und her wackelnd gegenüberstehen, auf der Straße oder sonst.“

„Sicher, das kennt doch jeder.“

Ich bleibe stehen, halte sie an der Hand fest und stelle sie mir gegenüber hin. Die wird jetzt geküsst und Schluss. Welcher Moment wäre besser. Meine Lippen nähern sich ihr langsam und sie schaut einfach nur belämmert. Ein bisschen wie ein Fisch an Land. Bevor unsere Gesichter aufeinander treffen brabbelt sie noch kurz.

„Das mit dem hin- und her ausweichen, das ist mir schon mal mit dem Auto passiert.“

Und Kuss. Lange Stille, nur leichtes Saugen. Obwohl ich diese Anekdote auf jeden Fall noch hören muss. Ich habe mich bisher immer darauf verlassen, dass Menschen Egoisten sind und mich letztlich immer ablehnen werden. Naja, auch wenn das stimmen sollte, manchmal braucht man auch von seiner Misanthropie mal Urlaub. Fräulein Schinkel löst sich von mir und schaut immer noch beduselt, aber auf eine gute, sich wohlfühlen Art und Weise. Ich hätte kein Problem damit, mir diesen Gesichtsausdruck gerade auf die Netzhaut einbrennen zu lassen.

„Mit hat jemand mal erzählt er hätte furchtbaren Fußgeruch.“

Stimmung bedeutet ihr nichts, wie wunderbar.

„Als ich ihn dann gefragt habe, ob er sich dann in fremder Gesellschaft, in Wohnungen anderer Leute nie die Schuhe auszieht, hat er gelacht. Der hat gemeint, sicher ziehe er sich die Schuhe aus. Er lehnt sich dann einfach gemütlich zurück, stinkt den Raum voll und sieht belustigt zu wie jeder einzelne der anderen Gäste plötzlich glaubt, sie wären der Ursprung des grindigen Geruchs. Er hat das so erklärt, man könne sich immer auf die Unsicherheit seiner Mitmenschen verlassen. Super Taktik, finde ich.“

Kuss. Ob sie merkt, dass ich langsam in Richtung von Armins Wohnung steuere? Ich will nicht, dass sie weggeht.

„Natürlich, Sanne, ganz famos, der Mann. Ein großer Denker der Neuzeit. Ich bin einmal mit dem Fahrrad durch eine Unterführung gefahren, und der Gestank der menschlichen Ausdünstungen dort unten war dermaßen intensiv, dass sie mir in den Augen brannten. Ich konnte nicht mehr sehen und krachte in eine Feuertonne. Seit dem behaupte ich einfach, dass ich ein großer Fan von Körpergerüchen bin.“

„Hast du dir weh getan?“

„Nicht wirklich, nur den Kopf etwas verbeult.“

Susanne schüttelt mich mitleidig wie ein Stofftier.

„Hast du den keinen Helm getragen?! Pass besser auf dich.“

Ich ignoriere, dass das überhaupt nicht der Punkt meiner Geschichte war und spüre dafür wie meine dunkle Seite wieder etwas loswerden will. Ich bin mal gespannt welch lebensmüder Motz mir dieses Mal entspringt.

„Wieso sollte ich auf mich aufpassen, Susanne? Wieso? Ich bin ein Single, also, äh, bis jetzt jedenfalls. Als alleinstehender Mensch hat man keine gesellschaftliche Bedeutung, keinen Zweck. Wenn ich morgen nicht mehr da wäre, würde sich rein gar nichts verändern. Kein Leben eines anderen wäre durch mein Ableben beeinträchtig. Vielleicht gäbe es ein paar Tränen aber die trocknen auch schneller als man glaubt. Nein, meine Existenzberechtigung als alleinstehender Mann ist schlichtweg nicht vorhanden. Mein Hiersein bringt niemanden etwas. An dem Tag an dem ich wieder beginne auf mich zu achten, bin ich Vater geworden. Punkt.“

Ihr Blick wird finster und etwas undiplomatisch. Ich scheine aber immer noch das Verlangen zu haben weiterzureden. Dabei hat sie meine zwischenmenschliche Aufnahmeprüfung doch schon längst bestanden!

„Außerdem habe ich schon lange mit dem Gedanken abgeschlossen alleine zu sterben, und das vielleicht schon früher als später. Ich habe mich mit dem einsamen Tod abgefunden, was ich wichtig finde. Ansonsten muss man immer bangen, führt ein ständiges Leben in Angst, nein, das brauche ich echt nicht. Stellen wir uns doch gleich darauf ein, dass wir alles was uns lieb niemals für uns behalten können und dass die Dinge, die einem Freude bereiten immer zu früh enden. Wenn man das im Kopf behält wird alles ruhig und transparenter.“

„Das ist furchtbar, Hannes. Warum musst du ständig das Scheiße-Ventil offen haben? Innerer Frieden durch Ultrapessimismus.“

„Das meine ich gar nicht so. Irgendwie bin ich ein Opfer momentaner Zustände. Mein ganzes Dasein erscheint mir stets gut oder schlecht gemessen an der Stimmung des Moments, in dem ich darüber nachdenke. Wie ein Hund kenne ich nur die Gegenwart. In der Depression sind alle Erinnerungen an mein Leben schlecht und verrissen. In Tränen beweine ich, dass alles immer falsch läuft. Dann geht es mir wieder gut, und ich erkenne was für ein tolles, erfülltes Dasein ich in Wirklichkeit friste. Es ist beängstigend wie momentane Gefühlszustände über mich herrschen.“

„Boa, du bist dir schon bewusst darüber, dass du diese ganze Ansprache gerade mit einem liebestrunkenen Idiotengrinser gebracht hast, oder? Komm, gehen wir einfach in deine Wohnung, bevor du noch die Grausamkeiten des Walfangs anprangerst. Ja, ich habe bemerkt, dass wo du mich hinlotst.“

Wir stapfen das Stiegenhaus hinauf und ich merke, dass meinen Mund tatsächlich ein Lächeln festgefroren hat. Ich schiebe sie am Hintern nach oben und an Armins Tür versuche ich noch einmal halbherzig die offensichtliche Situation zu verleumden. Sex bahnt sich an und ich finde den Haustürschlüssel nicht an diesem Gefängniswärterschlüsselbund.

„Ich kann dir aber einfach nichts bieten, Sanne. Emotional und finanziell.“

Sie zuckt etwas genervt mit den Schultern.

„Ich dir auch nicht. Mach jetzt die Tür auf!“

Ich lächle heimlich, weil ich in den letzten zwei Stunden, nur noch Wasser getrunken habe. Ich muss jetzt zwar dringend pissen, aber dafür bin ich dann topfit für Sauereien. Um ehrlich zu sein, erst als ich herausfand mich nur soweit zu betrinken, dass ich fähig bleibe Sex zu haben, wurde ich zum erwachsenen Mann. Klick und offen.

Kapitel — Nachbrenner

An dieser Bäckerei bin ich wahrscheinlich eine Million Mal vorbeigegangen und habe bis heute noch nie ein derartiges Verlangen nach frischem Brot und Croissants verspürt. Mit meinem dümmlichen post-coitalen Grinsen platziere ich mich gut sichtbar und warte geduldig bis die junge Dame hinter dem Tresen Zeit findet um von ihrem Kreuzworträtsel hochzublicken und vorwurfsvoll nach meinen Wünschen raunzt.

Sie übergibt mir die drei Papiersäckchen voller Leckereien meiner Wahl und während sie den Preis nennt, erstarren ihre Augen mit leichter Panik. Sie sieht an mir vorbei. Ein Polizeiauto parkt fast direkt vor dem Geschäft auf dem Gehsteig, stumm aber mit eingeschaltetem Blaulicht. Etwas skeptisch zahle ich und spaziere neugierig über die Straße zurück zu Armins Wohnhaus gegenüber. Ob es wohl einen Raubüberfall oder dergleichen gegeben hat? Ein Biss in den nach Honig duftenden Blätterteig und die Schaulust ist höchstens noch ein Schulterzucken wert. Sanne wälzt sich sicher gerade im Bett sich und verzehrt sich nach einem dieser französischen Süßspeisen. Der Fahrstuhl ist immer noch außer Betrieb, so wie gestern. Das ist mir doch komplett egal. Pfeife ich tatsächlich die Nationalhymne Frankreichs. Eine Mutter mit zwei kleinen Buben trottet die Stiegen runter und mir entgegen. Sie schimpft den kleinsten aus irgendeinem Grund und trotzdem bekomme ich von ihr ein freundliches Lächeln. Ewas, das verdächtig stark nach „Guten Morgen“ klingt. Mein Lied geht über in das Beatles Lied, wie soll es auch anders sein. Da höre ich durch die alten Fenster im Vorhaus relativ laut Sirenen aufheulen. Von unten läuft ein junges Pärchen an mir vorbei, ohne Gruß. Die beiden haben wohl noch was vor. Sanne, gleich bin ich zurück und ich habe Schokoladenmilch dabei! Ich hebe meine Oberlippe zur Nase und rieche ihren Geschmack zwischen meinen Bartstoppeln. Ich habe sie assimiliert. Menschengeschrei und das Motorengeräusch schwerer Einsatzfahrzeuge dröhnt durch die Altbaufenster im 2. Stock. Ich riskiere einen kurzen Blick durch die Gitterverkleidung hinter gebrochenem Glas hinüber ins Nachbarhaus. Dort laufen schwarze Gestalten mit dunklen Helmen und Sporttaschen eiligst die Treppen hinauf. Ich hoffe hier bricht nicht gerade ein Privatkrieg aus. Zwei Stöcke noch und ich bin zurück bei meiner nackten Frau, in Sicherheit. Heute könnte ich den ganzen Tag schlechte Karl May Verfilmungen schauen und dabei gediegen das Bett einsauen. Ich hoffe sie mag dieses Waldbeerenjogurt, es sieht irgendwie billig aus. Da ist die Wohnungstür. Diese elenden Hosen haben für heute ihre Schuldigkeit getan. Ich krame darin nach dem Schlüssel und bemerke den Nachbarn zwischen dem Türspalt herausglotzen.

„Sind sie der Erlach?“

„Ja, genau, guten Morgen. Was ist denn? “

Die Tür knallt zu. Wieso so unhöflich? So laut können wir nicht gewesen sein heute Nacht. Gut, dass Armin bei einem Kunden in Berlin ist. Er hasst die Nachbarn und sucht jeden Grund mit ihnen rumzustreiten. Dieser Schlüssel, den hat er sicher beim letzten Gelage verbogen, der Depp. Außerdem finde ich ihn immer als letzten bei dieser Unmenge an Schließwerkzeugen an einem einzigen Bund. Moment, werde ich wahnsinnig oder höre ich jetzt schon Hubschrauber? Albern, diese Einsätze. Wenn sie bei einem in der Nähe passieren bekommt man doch ein bisschen Angst. Die Leute sind halt alle irre. Aber vielleicht schaue ich dann gleich mal im Netz ob da was Größeres passiert ist. Erst Mal Schuhe aus. Warum läutet das Telefon? Armins Festnetz habe ich bis jetzt noch nie gehört.

„Susanne!“

Dass ein weibliches Wesen mich innerhalb weniger Stunden zu einem komplett neuen Menschen verzaubert, hätte ich mir nie träumen lassen. Ich muss sie sehen. Als ich lieblos die Einkäufe neben das klingende Telefon stelle, meine ich auch einsilbige Wortfetzen von mehreren Männern direkt vor unserer Eingangstür zu hören. Ich hebe den Hörer sicher nicht ab. Wo ist mein Mädchen?

„Sanne? Wo bist du?“

Mit den Armen in den Hüften und Schmollgesicht wandle ich zurück ins Vorhaus. Ich hätte mich jetzt so auf ihren süßen kleinen Hintern gefreut. Der wartet doch irgendwo hier auf mich. Vielleicht flaniert er im Atelier? Das Schlagen an der Tür wird lauter. Das Klingeln des Telefons bleibt gleich. Ob sie wohl rausgegangen ist um sicher zu gehen, dass ich keinen Blödsinn kaufe. Hoffentlich gibt das mit dem Jogurt keinen Ärger. Schreit da jemand meinen Namen? Das Schloss an der Tür zerspringt und der Türknauf rollt an mir vorbei hin zur farbgetränkten Decke am Wohnzimmerboden. Das ist Sannes Decke. Die hat sie sich umgeworfen, um am Weg in die Küche oder ins Bad nicht zu frieren. Sie uns mehrmals eine Karaffe Wasser geholt. Immer hydriert bleiben. Ganz entfernt vernehme ich militärisch klingende Befehle und krachendes Holz. Was geht mich das an, dieser lauten hektischen Welt bin ich entwachsen. Ich mache die Augen zu und da ist sie. Diese Mähne und eine Stimme, die unter der Decke noch viel unvergesslicher wurde. Nackte Frauen, dafür leben wir. Ich spüre ihre Berührung, ihr verspieltes Talent mich im Bett zu steuern. Dass sie mir passiert ist, macht alles gut. Ich bin keinem mehr böse. Sollte ich denn werden was ich bis jetzt schwerstens verachtet habe, ein glücklicher Mensch?

Unter dem Gewicht eines des spezialeinheitlichen Rammbocks bricht Armins Wohnungstür nach innen offen und zerschlägt mit der entstandenen Wucht den antiken Kleiderschrank aus Fichte. Die ofenfrischen Einkäufe detonieren am Boden. Ich stehe nicht mehr alleine im Flur. Vier bis fünf Spezialeinheiten, WEGA wie sie sich nennen, zertrampeln die Reste der Mehlspeisen und stürmen auf mich zu. Das alles verhilft mir zu einem Aha Erlebnis. Da war ja doch noch die Kleinigkeit des Terroranschlags gewesen, die versuchte Sprengung eines öffentlichen Gebäudes der Stadt Wien. Das hätte ich wohl nicht ganz so erfolgreich verdrängen sollen.

Schwarz Violett und meine Wange reibt an dem Linoleum des Wohnzimmerbodens. Blut läuft mir von der Augenbraue direkt über die Wimpern, so dass es kitzelt. Ich wehre mich nicht. Jeder Widerstand würde schreckliche Schmerzen mit sich bringen. Sie legen mir Handschellen an und führen mich den langen Weg zurück nach unten ins Hauptparterre. Dabei finde ich leider immer noch keine Spur von Sanne oder ihrem Hintern. Tja, nun ist es geschafft, mein Leben ist kollabiert, sauber und effizient, so wie ich es gelernt habe.

Weder die Paranoia des Einsamen, die mich wohl vor eher vor den Polizeieinheiten gewarnt hätte, noch eine halbwegs menschlich-adäquate Aufmerksamkeit ist mir geblieben. Amors Steckschuss macht blind. Wie es so weit kommen konnte? Keine Ahnung, ich weiß nichts von den polizeilichen Ermittlungsmethoden und überhaupt, mit dem was ich nicht weiß könnte man zehn Hangars füllen. Vielleicht hat ja Armin jemanden gerufen nach meinem letzten Anfall, sprich, jener allzu realen Auseinandersetzung mit Dinetti, meinem imaginärem Freund. Was soll ich sagen, wenn sie mich fragen ob ich einen Komplizen hatte? Das zu erklären wird lustig.

So viele Leute sind auf der Straße. Der große Metallwagen ist trotzdem ganz für mich alleine. Die Gesichter, an denen ich vorbeigeschleppt werde, sind mir alle fremd. Halt, da ist die Verkäuferin des Konfitüren-Ladens, die ihre Hände vor dem Mund zusammenschlägt. Keine Angst, ich werde niemanden verraten, dass Sie mir Backwaren verkauft haben. Ich spüre einen Tropfen auf den Wimpern. Bald regnet es wieder. Ins Kino schaffe ich es heute wohl nicht mehr. Ich sollte Sanne Bescheid geben.

Ende

Teil 1 des Buchs Schwarz Violett

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Josef Zorn

Fiction, knotty essays and fun little articles ENG/DE