Schwarz Violett (Teil 1)

Josef Zorn
127 min readJan 14, 2021

(Unveröffentlichter Roman von Josef Zorn, 2012)

lektoriert von Esther Brandl

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Kapitel — Sturm und Kant

Idiot. Nun habe ich mich tatsächlich verlaufen und bin kurz davor in dieser verregneten Stadt zu ertrinken. Mit Siebenmeilenschritten sprinte ich vom Stadtpark Richtung Schwarzenberg Platz. Das sind keine Pfützen mehr, sondern bodenlose Wassergräber. Wo ist dieses unverlässliche Kino! Ich habe schon mindestens fünf Filme dort gesehen und andere den Weg dorthin erklärt, und nun ein Quantensprung rückwärts. Dunst der Feuchtigkeit steigt mir zu Kopf und mein Orientierungssinn gärt. Ich will gar nicht mehr weiter wollen. Die nassen Haare und die vollgesogenen Kleider kleben an meinem spastisch zuckenden Körper und ich pruste Regen aus meinem Mund wie ein Olympiakrauler. Um ehrlich zu sein finde ich es nun unter dem trockenen Vorbau des Akademietheaters durchaus heimelig. Der Portier übersieht auffällig abfällig meine hochgekrempelten Hosen und schnieft. Der Film läuft jetzt ohnehin schon seit fast zehn Minuten. Ob mein Telefon noch funktioniert?

Marleen beziehungsweise ihre Stimme klingt unerwartet gelassen fast verständnisvoll. Davon abgesehen, dass ich mich wütend und quengelnd wie ein Kleinkind aus der Verabredung winde, bin ich ja freundlich. Ich bekomme Absolution und mache mich auf den Weg nachhause. Ich hätte an ihrer Stelle nicht einen Funken Entgegenkommen gezeigt, nach kurzem zischenden Trotz einfach aufgelegt. Sie repräsentierte schon immer einen elenden Altruismus, welcher mysteriös und zuweilen schlechthin unglaubwürdig war.

Ein gigantischer Regentropfen lässt mich beinahe erblinden. Ich öffne vorsichtig die Augenlider und sehe eine Unterwasserstadt namens Wien und Blitze umrahmen stumm die nautischen Tiefen. Die Hosenbeine hochgezogen wippe ich breitbeinig hin und her, dabei vorwärts durch die Wasserläufe Richtung Bus. Kurz den Mantel ausgebeutelt und Abfahrt. An den automatischen Türen lehnend und zitternd, schlafe ich beinahe ein, während meine Wange sich an das mit tausend Perlen beworfene Fenster presst. Der Wagen brummt, stoppt und ich bin wieder auf Asphalt. Ein paar Meter. Alte Filme laufen zum hundertsten Mal im Privatkino Hirn. Da geben sie aber auch immer die eigenartigsten Vorstellungen. Ungeschickt verzieht sich mein Gesichtsausdruck, gar zerknirscht wird mein Gang wegen einer Erinnerung, die keiner haben will, und schon stehe ich vor meiner Tür. Treppen bleiben trocken, denn ich fahre Lift, langsam. Schlüssel rein, Türe auf, Licht an und ich ziehe mich aus. Ich starre böse in den Badezimmerspiegel und es raunzt.

„Der schöne Abend! Man kann sich auf niemanden mehr verlassen.“

Ich sehe Dinetti, der hinter mir im Halbschatten grinst und dabei absichtlich aussieht wie eine groteske Karikatur von Marleen. Jemand will sich lustig machen und lustig lacht dieser Jemand. Beleidigt drehe ich mich weg vom Mann im Spiegel und lege mich auf den Parkettboden des Wohnzimmers. Meine Glieder sind in alle Himmelsrichtungen gespreizt. Ich hasse oft was Dinetti zu sagen hat. Besser man denkt nicht daran.

Wenn einem zu viel Zeit zur Verfügung steht beschäftigt man sich automatisch mehr mit sich selbst. Nun muss man unterscheiden lernen, ist das, was ich durchlebe eine ernste gesundheitliche Beeinträchtigung meines seelischen Wohlbefindens oder einfach nur krankhafte Langeweile. Und die Unterscheidung fällt mir seit einiger der Zeit sehr schwer.

„Dann mach doch was!“

Das sind ihre Worte. Marleen sagt solche Sachen, meine Freunde, Dinetti sogar und alle denken sie haben die Tipps, die ein Dasein aufwerten, mehr Geschmacksrichtungen für den Herrn Styropor. Ich komme ihnen allen zuvor, klaue ein Auto und fahre mir selber über den Fuß. Wie wäre Sex mit tausend Frauen und nur bei jeder dritten zu verhüten? Das Glücksspiel Leben, lächerlich. Auch ich habe als Kind versucht Eier und altes Obst zu Jonglieren. Die Küche war versaut, die Moral mir entgangen. Wenig später hopste ich einmal gut gelaunt die Kellerstiege hinab der offenen Kellertür entgegen und direkt mit dem Kopf gegen den Türstock aus Beton. Mit pochender Stirn lag ich Rücklinks danieder. Dabei war ich nur aus Fröhlichkeit so hoch gesprungen. Schlechtes Karma? Ich glaube mich auch zu erinnern, dass mein Bruder mich mit seinem roten Waffenrad überfahren hat, als ich noch sehr klein war. Ein Vierjähriger die Arme auseinander und dann der Kopf wuchtig auf den Straßenbelag. Das ist meine Lebensaufgabe, fatale Einschläge auf das Zentrum meiner Existenz abzuschütteln. Was soll ich denn noch machen?

Um ehrlich zu sein, habe ich viele klare Erinnerungen an ähnlich harte Schläge auf den Kopfbereich. Eigenartig, denn gerade diese sollten sich doch als selbstbedingendes Trauma aus dem Gedächtnis radieren. Mit den dumpfen Erschütterungen meiner grauen Zellen bringe ich sehr klar eine Farbe in Verbindung. Schwarz Violett. Die Farbe der Kollision, die der Gehirnmasse zerstörenden Gewalt, die vor meinem geistigen Auge aufleuchtet.

Ich hätte mir einmal fast bei einem Autounfall den ganzen Schädel zertrümmert, Tendenz Schwarz Violett. Ein Dutzend Feuerwehrmänner standen nutzlos um das Autowrack, da wir alle den Bauern mitsamt Traktor erwarteten zwecks Bergung. Sie klopften mir der Reihe nach auf die Schulter und nickten mir ins vom Schock entspannte Gesicht. Dieses war von schweißnassen Haarsträhnen umrahmt und dankte ihnen lächelnd. Etwas Schreckliches, das nicht passiert. Auch dafür wird einem gratuliert. Schwarz Violett.

Ich drehe das Licht im Bad wieder an und habe ihm verziehen. Der Person auf der anderen Seite. Er erinnert mich einfach zu stark an mich selbst. Unmöglich einem Leidensgenossen böse zu sein. Der Wasserhahn gibt Wasser und ich schaue mir zufrieden in die Augen. Kalt wasche ich meine Poren, während Dinetti als Marleen eine Hommage an ihre Predigten flüstert.

„Versprich nicht zu viel. Sei nicht immer so genau mit dir selbst. Lass dir etwas Spielraum. Schaffe dir ein annehmbareres Bild. Sei netter. Das schuldest du mir.“

Ich nicke und so verbleiben wir. Ich liege wieder Hände und Socken ballend in der Unterhose am kühlen Boden. Mit geschlossenen Augen fehlplatziere ich den langen Aschestock der letzten Zigarette des Tages. Der stinkende „Moin Moin“ Kaffeebecher bleibt heute sauber. Ich verzweifle an der Musik, denn es will mir gar nichts gefallen. Keine Alternativen zu Alternative. Ich versuche bei Brahms zu onanieren, doch kann den Rhythmus nicht halten. Etwas in andante vielleicht? Es gelingt eben nicht. Aus. Der Kompromiss heißt Minimal. Langsam glucksendes Geklöppel und ewig hinausgezögerte Synthie-Bässen knarzen durch die einsame Wohnung. Dazu raucht es sich so richtig mit Überzeugung, und man kann sich schnell in unmenschliche Gedankenstränge verlaufen. Wieder einmal spekuliere ich damit neu anzufangen … mit allem.

Wenn man einmal begonnen hat sich verändern zu wollen, sollte man durchhalten und abwarten bis zum Resultat. Dann kann man endlich stolz auf sich sein. Oder aber, was meist passiert, man beweist sich die eigene Unfähigkeit. Eine falsche Erkenntnis schleicht sich ein und man mutiert, völlig aus der Bahn geworfen, werden die größten Abneigungen zum neuen Charakterzug erhoben. „Veränderung“. Was soll das eigentlich sein? Dieses ominöse „Andere“ ist oft tückisch und vor allem gut getarnt als alter Kram, nur eben mit einem Schleifchen. Interessant wird es nämlich erst wirklich, wenn man die tatsächlichen Umstände des wandelnden Lebenswandels betrachtet. Ich sauf zu viel und will klarerweise jemand sein, der weniger trinkt oder es besser verträgt. Ich komme nicht umhin beim Anblick eines hübschen Gesichts oder schöner Brüste laut grölend den Wunsch nach Veränderung zu äußern. Wer muss ich werden um Schönes zu besitze?! Nur Momente sozialer Ablehnung und Reklamehefte. Da bekommt man einfach nie was man will, und denkt, als ein anderer wird es einem nachgeschmissen. Mehr ist es doch nicht.

Hübsche Gesichter. Diese Mädchen mit denen ich mich umgeben durfte, jede Ethnizität, jede Nationalität, jede Bildungsstufe oder Kleidergröße, ich verherrlichte sie alle. Ich liebte es sie urteilen zu lassen und sie in Sicherheit oder besser Selbstsicherheit zu wiegen, mit einer kratzig groben Naivität, die mein ganz persönlicher Charme geworden zu sein scheint. Ihre verliebten Blicke wurden übersehen, ignoriert oder mit wissbegieriger Leidenschaft untersucht. Eine obskure Reaktion auf Zuneigung. Ich wusste und weiß bis heute nicht was an mir liebenswert wäre.

Eine verfluchte Obsession nach der anderen. Die unbedachte Studie der weiblichen Psyche beherrschte mich. Sie haben mich zerlegt bis zur Unkenntlichkeit und ich bin um keinen einzigen Schritt weiter. Manchmal genügte es ihre Hände auf meinem Oberarm zu fühlen, um die Welten aus diversen Angeln zu heben. Was war das für eine Kraft? Wo kommt sie her? Wie sollte man sich ihrer erwehren? Oder sollte man die Hilflosigkeit einfach zulassen? Ist diese meine emotionale Achillesferse eine unerwartete Laune der Evolution oder schon immer Teil der Entwicklung des menschlich-männlichen Geistes? Skandalös, wenn man mich fragt. Nun kann ich artikuliert sprechen, nach Sternen navigieren und zum Teil die eigene Existenz erfassen, doch wenn sie die Augen rollen und mit den Schultern zucken, möchte ich für sie Ländereien erobern. Absurd.

Schon früh wollte ich dieser allumfassenden Sache auf den Grund gehen, doch junge Mädchen wollten meine Verhöre nicht eingehen. Logische, handfeste Fragen bezüglich der Hintergründe ihrer jungen Affektionen wurden mir nie brauchbar beantwortet. Mein Anliegen, das noch dazu von einem akne-gebeutelten Narzissten formuliert wurde, fand selten Entgegenkommen der Damen und wenn ja, dann handelte es sich nicht zwingend um verwertbare Information. Grausam sind die jungen Mädchen dieses Landes.

Ein Blick zurück und es war schon immer da. Man könnte mir amouröse Extreme nachsagen, vielleicht in Verbindung mit einer frühen Entwicklung der Libido. Neugier und ein etwas zu unschuldiges Experimentieren gelten doch nicht sofort als pervers, oder? Was auch immer, ein Mensch, der sich der essentiellen Geilheit des Daseins entzieht, hat entweder endgültig mit dem Fleischmarkt Liebe abgeschlossen oder etwas gefunden, dass ihn ausgleichend anderweitig beschäftigt, sprich ablenkt. Und die große „Ablenkung“ hatten sicherlich schon viele von uns auf der Welt. Zufrieden und wunschlos können wir plötzlich über dem Detail eines Modelflugzeugs flanieren, über Wochen hinweg neue Reisrezepte ausprobieren oder in der Einfachheit einer monotonen Arbeit erblühen. Ohne Sex lebt man produktiver. Zur Hölle mit den Weibern! Sich in Trance fadisieren und eine Banalität in höchste Höhen erheben, das ist Zen. Ein Computerspiel, eine sportliche Herausforderung oder Kunst ist doch letztens auch eine Form von Befriedigung. Die Prioritäten muss man jedoch so setzen, dass man sich das selber auch wirklich abkauft. Dann beginnen die Gegenargumente. Wo bleiben Ablass und die verschwitzten Sonntagnachmittage im Bett? Das zu zweit nackt sein.

Wann kommt Marleen endlich zurück? Egal was ich gerade sinniert habe, ich will jetzt doch mein Mädchen zurück, die Wächterin der Vulva! Dabei weiß ich nicht einmal was mir an ihr fehlt. Manchmal verabschiede ich mich von ihr und merke, dass es für mich nichts zu tun gibt ohne sie. Wie kaputt ist das eigentlich? Oder ist das auch irgendwie gut so? Man geht einen extra langen Heimweg und sinniert. Liebt man alleine am besten? Nein, auch wenn man viel verloren hat, sich betrogen fühlt von ihr, der Welt und ihren Tricks, hat jeder eine soziale Kraft, vielleicht die sogar die Verpflichtung sich seinem geschlechtlichen Gegenüber zu stellen und es auszutragen. You have to be in to win.

Ich muss noch den Sprengplan für das „Demeter“ fertig revidieren, aber Ignorieren hilft. Ich höre wie der Regen stärker wird. Die Fensterbank aus Blech wird verdroschen und die Nadel des Plattenspielers gurkt schaukelnd im Auslauf meiner LP. Das Zimmer ist dunkel und nur Straßenlaternen geben Licht. Ein Blick auf die Uhr und ich raffe mich auf. Der Boden hat ausgedient. Halbnackt schlendere ich ins Schlafzimmer und irgendwie fühle ich mich betrunken. Oder ob ich mich eben gerade verkühlt habe? Marleen wird wohl bald zurücksein. Ich sollte ja eigentlich nicht rauchen im Wohnzimmer. Augen zu, Hannes! Am Weg ins Land der Schäume versuche ich mir eine klägliche Erkenntnis über Frauen aus den Denkmembranen zu quetschen um dem Abend etwas Sinn zu geben.

Es ist so, wenn ich an die Verflossenen zurückdenke, scheint es mir wie eine Reihe von schlechten Szenen eines Laientheaters. Sie lauscht während ich auf meiner Gitarre spielen, sprich die drei Akkorde die ich kenne, hört den etwas lallenden Gesang und mehr braucht es nicht. Sex. Oder ich verliebe mich unsterblich in die Schulterblätter einer U-Bahnfahrerin. Zwei Bim-Stationen haben schon gereicht, um eine komplette romantisch-tragische Existenz zu durchleben. Ohne mehr als zwei Wörter zu wechseln küsst man sich in dunklen Musikbunkern. Auch habe ich bereits Kellnerinnen scharf beobachtet, mit der Intention sie alleinig durch meine Präsenz in den Wahnsinn zu treiben. Manchmal ist man einfach glücklich mit der einen und nach einem Jahr vergisst man wie sie aussieht. Viele kalte Tränen der Abweisung vergieße ich um die andere, nur um mich dann im Sommer darauf vor ihrem eingewachsenen Zehennagel zu ekeln. Dann schlafe ich vielleicht ohne jeglicher tugendhaften Intention mit einer Fremden in einem Bett aus Selbstbestätigung, nur um sie am nächsten Morgen schnellsten loszuwerden. Denn ich esse lieber alleine beim Chinesen-Buffet. Schon bricht mir die Altbekannte das Herz, nur weil sie mich bei der Begrüßung nicht auf den Mund küsst. Du bist am Zerbrechen wegen der Abgeschriebenen und plötzlich ist die Neuste hier. Alles vergessen und die Sonne scheint aus allen Ärschen. Was ist denn wirklich brauchbar aus diesem Trog der Zufälligkeiten? Entweder dominant oder devot, gibt es nur die zwei Seiten und will ich mich entscheiden müssen? Diese ganzen Experimente, die ich gestartet habe und vergaß ordentlich zu dokumentieren. Gelernt habe ich einen Scheiß und doch waren alle wichtig.

Aber um ehrlich zu sein, was muss man denn klären, was könnte man klären? Es gibt nichts zu klären, nichts zu lösen und außerdem hört es ohnehin nie auf. Man könnte keine Aussage über menschliche Beziehungen ordentlich beenden oder beginnen, alles gleitet ineinander. Es gibt keine „Auszeit“ im eigentlichen Sinne. Auch wenn man glaubt man ist seit zu langer Zeit alleine, im Kopf sind sie alle da. Es gab einmal das Miteinander und darum werden meine Mädchen alle auch immer wieder zu mir zurückkommen. Das tun sie ohne es zu merken und ich schaue ihnen mit geschlossenen Augen entgegen. Und wenn ich sie irgendwann nur mehr schemenhaft erkennen sollte, egal, die ungenau fleckigen, leicht verblassten Erinnerungen werden mich weiter bis unter jede Decke verfolgen, bis in jedes Bett, bis ins allerletzte. Ich wollte sie alle immer so behandeln, wie ich es mir von ihnen mir gegenüber erwartet hätte. Soviel zu Selbsttäuschung, ein wackeliger Imperativ. Und dabei wäre ich so gerne mit ihr ins Kino gegangen. Egal, morgen bin ich weg und solche Gedanken ändern sich synchron mit der Postleitzahl.

Kapitel — Der Fall Ani

Ich sitze im Zug zurück nach Wien, Richtung Brno. Einige gottlose Tage wurden in Prag verbracht. Mit einer Stange Zigaretten, zwei Flaschen Becherovka und einem sich langsam ankündigendem Leber-Nierenleiden kehre ich zurück. Ich bin kaputt! Zwei alte, lallende Slowakinnen bohren sich durch meine Schläfen. Sie wirken nett und beeindrucken durch ein unentwegtes Auspacken von diverser Leckereien und Süßigkeiten. Käse, Wurst, Brot und Manaschnitten. Der Heimat so nah. Die zu früh altgewordenen Mädchen bieten mir eines der kleinen Schokoschnittchen an. Ich lehne würgend ab, weiß die Geste zwar zu schätzen, kann dies aber nicht zeigen. Heute bin ich zu nichts fähig. Nicht einmal für Nettigkeiten ist Energie übrig. Innerlich bitte ich um ein leeres Abteil ganz für mich alleine, bin aber zu gebrochen mich hinaus zu stehlen. Ich versuche zu lesen, doch muss zum dritten Mal bei derselben Seite neu beginnen da ich nicht die leiseste Ahnung habe was in der Geschichte gerade geschieht. Es könnte an der wenig herausfordernden Lektüre liegen, doch ich bezweifle es. Kann etwas so anspruchslos sein, dass es meine Aufmerksamkeit zerlegt? Das wäre erstaunlich. Jedenfalls lesen meine Augen unaufhörlich dahin, und es wird auch bei den Schlagwörtern ein, wenn auch erbärmlicher, Impuls zur Hirnsuppe geschickt. Doch die Gedanken köcheln unzusammenhängend vor sich hin und geben sich versalzenen Nichtigkeiten hin.

Blaue Samtbezüge auf den Sitzen und nikotingelbe Wände. Welch ein Zug. Er ist in seiner Gesamtheit bis auf mein Abteil nahezu leer. Außerdem riecht er nach osteuropäischer Depression. Das könnte aber auch eine Projektion meinerseits sein. Der Schaffner kommt. Es ist klar, was nun zu tun ist. Er ist jung und freundlich. Für einen kurzen Moment arbeiten wir hervorragend miteinander. Doch dann bellt er etwas zu laut „Schönen Dank, Herr Erlach. Eine schöne Weiterfahrt wünsche ich.“ Hat der Hund doch meinen Namen auf der Zugreservierung abgelesen. Die Damen starren neidisch erst mich dann ihn an. Sie wollen auch beachtet werden. Seine Stimme erzeugt tatsächlich ein Echo, dass durch meinen Kopf hallt und mir den Schließmuskel zusammenzieht. Wenigstens hat er nicht auch noch ein „Ingenieur“ mit hineingezwängt. Ich muss plötzlich an Marleen denken und ihre nicht wirklich geheime Vorliebe für jene Sorte von Männern wie der Schaffner einer ist. Sie entschuldigt sich immer wenn ihr ein bisschen die Fantasien aus den Augen schreien und ich über ihre wenig subtil schweifenden Blicke schmunzeln muss. Heute wird es nichts zu lachen geben. Sie räumt wahrscheinlich gerade die Wohnung auf, mir zu Liebe, als Willkommensgeschenk. Überraschungen sind ihr Metier. Dann wird sie losfahren um mich vom Bahnhof abzuholen und ich habe ganz ehrlich keine Ahnung wie das ablaufen soll. Irgendwas platzt auf alle Fälle. Im Moment tippe ich auf Schlaganfall. Ich würde gerne einmal in meine Wohnung zurückkommen ohne dass alles umgestellt ist. Alles soll so sein wie an dem Tag an dem ich weggefahren bin. So ein perfektes, vermeintlich unberührtes Zimmer macht mich paranoid. Was auch immer, diese Gedankengang und Vorfurcht auf Marleen verlassen mich langsam. Gut, Stöhnen kann man auch geräuschlos… mir ist derart schlecht.

Der Duft von Ani verfolgt mich immer noch und deshalb stecke ich auch in unvorhersehbaren Abständen mein Gesicht unters T-Shirt wo der Geruch am stärksten ist. Da auf meiner Brust lag ihr Kopf und ihre langen Haare flossen über meine Schultern. Mit geschlossenen Augen in meiner textilen Minihöhle finde ich plötzlich keinen guten Grund wieder ins Abteil aufzutauchen. Minuten vergehen und langsam fühle ich mich doch albern. Ich glaube, ich werde dieses Mädchen niemals vergessen. Früchte, Hanf und ein Hauch Koriander begleiten mich noch kurz beim Verlassen der Dunkelheit. Die Reisenden starren. Ich grinse ohne Zähne zu zeigen und finde mich damit ab, dass Ani mich in kürzester um den Verstand gebracht hat. Der Grund für meine Konzentrationsschwäche beim Lesen lässt sich nun schon erahnen. Sex dröhnt noch im Zerebrum. Einen Satz klar zu Ende zu denken ist schier unmöglich nebst dieser Vision einer tschechischen Lolita. Eine solche Hilflosigkeit habe ich noch nie erlebt. Ein Gedanke an sie und meine Hose spannt. Leider quält mich mein Gewissen, und das tut es erstaunlich effektiv. Mein Magen grölt und beginnt zu schmerzen. Bei jeder Erinnerung mehr.

Gestern ist mitschuldig am Heute und an diesem Zustand. Ich erwachte um die heutige Mittagszeit umgeben von Straßenlärm und einer erfrischenden Brise. Ich war erleichtert. Das heißt, meine Hose war im Schritt lauwarm feucht. Genauer gesagt war ich erleichtert, dass es niemand anderes gewesen war, der sich auf mir erleichtert hatte. Ich lag nämlich an der Moldau unter einer Brücke und hatte mir im Suff in die Hosen gepisst. Ich wand mich mit einem unfreiwilligen Knacken der Halswirbel zur Seite und sah einen Mann in weißen Leinenanzug plus blauer Papierrose im Knopfloch auf einem verrosteten Schubkarren dösen. Er wurde von mir sogleich als Pjotr, der russische Touristenführer, identifiziert. Weitere Erinnerungen sollten folgen, doch das verlangte nach Zeit. Also erhob ich mich erst gelassen aus dem Haufen von Altkleidern, die ich nachts zuvor geschickt zu einer Matratze geformt zu haben schien und atmete einige Male vorsichtig tief durch. In der Annahme einen unheiligen Gestank zu verbreiten, doch keinesfalls davon beschämt tapste ich unschuldig einige Zentimeter vorwärts und versuchte meine Umgebung zu verarbeiten. Als mich mein Kamerad zur Übernachtung eingeladen hatte ahnte ich noch nichts von seinen Wohnverhältnissen ebenso wenig wie er. Später erzählte er mir, dass wir von seiner Schwester aus der Wohnung geworfen wurden. Dahingestellt, da ich mich nicht schlecht ausgeruht fühlte und diesen Morgen hauptsächlich zur Lösung eines Falles nutzen sollte. Ja, ich befand mich in einem Krimi und die vorangehende Nacht war die aufzurollende Kette von Ereignissen, die vermeintlich zu einer Tat oder gar mehreren geführt hatte. Der Vorabend war nicht nur das fehlende Stück des Puzzles, sondern das Puzzle an sich. Nun hieß es nur noch den Deckel der Verpackung zu finden, bildlich gesprochen, um nur eine ungefähre Ahnung zu erhaschen. Ich war fast euphorisch getrieben inmitten meines barbituriaten Enigmas.

Pjotr und ich hatten offensichtlich schwer getrunken und die Nacht zuvor war kurz und lau gewesen. Anscheinend hatten wir auch größere Mengen Autoseitenspiegel in einem Einkaufswagen gehortet. Diese hübsche „Installation“, wie es Armin mein Künstlerfreund genannt hätte, strahlte neben mir im ersten Sonnenlicht. Als Pjotr mich anhustete durch seinem schwarzen alles verschlingenden Oberlippenbart und nach Zigaretten fragte, schossen mir Bruchteile der Unterhaltungen mit ihm durch den Kopf. Gefasel. Betrunkenes Geschwätz. Aber da war noch eine dritte Person gewesen. Ich griff in meine Manteltaschen und fand anstatt Tabak für meinen Kameraden ein verpacktes, knallrotes Kondom keiner bestimmten Marke. Eine Telefonnummer zog sich diagonal von der einen Ecke in die Gegenüberliegende. Sie war leserlich und mir bekannt, doch konnte ich sie nicht ein- geschweige jemanden zuordnen. Grinsend mutmaßte ich einen flirtesque-produktiven Abend. Marleen hätte das vielleicht nicht unbedingt sehen sollen, aber ich stolz war ich doch. Da bemerkte ich, dass dieser Mantel keinesfalls der meinige sein konnte. Ähnlich, doch keine Knöpfe bei den Handgelenken und irgendwie anders im Schulterbereich. Ausschlaggebend war die Erkenntnis, dass dieses feine Stück mir um zwei Nummern zu klein war. Der Fund eines Schülerausweises in der Innentasche schloss die leicht ungeschickte Beweisführung ab. Ich trug den Mantel eines Mädchens.

Nun stellte sich die nächste Frage. Welche Rolle spielte das Präservativ in dieser Verwechselungsgeschichte? Schweigend urinierte ich in die Moldau in einer eifrig bestimmten, fast heroischen Pose. Das Wasser glitzerte wie ein ölbeschmierter Seelöwe. Das dachte ich jedenfalls in jedem Moment. Egal, auf alle Fälle sollte ein einfacher Anruf auflösen, was da noch unklar verblieb, und die Aussichten auf meinen eigenen Mantel standen auch nicht minder schlecht. Pjotr reichte mir auf eine kurze mäßig lallende Bitte hin sofort wortlos sein Mobiltelefon und starrte dann weiter hockend in das Feuer, das er entzündet hatte. Eine Kaffeekanne war auf der Flamme platziert. Keine Ahnung woher er plötzlich die Kaffee und Utensilien hatte diesen zuzubereiten. Vielleicht hatte es die erboste Schwester uns nachgeschmissen, halb aus Wut und halb als Versorge. Ja wie es aussah machte der verrückte Russe uns Frühstück.

Ich wählte die Nummer. Wahrhaftig regenerierend wirkte ein jedes tutende Rufzeichen. Ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit packte mich, mit dem Knistern der Feuerstelle im Nacken und der Aussicht auf ein kleines Abenteuer mit offenbar leicht sexuellen Untertönen. Breitbeinig stand ich gegen den Wind unter der Palackého Most Brücke, offensichtlich noch restbetrunken und unbesiegbar. Sodann vernahm ich eine unverständliche aber neutrale Frauenstimme auf der anderen Seite der Leitung. Es war tschechisch also schwieg ich vorerst. Die Stimme sagte ungefähr so etwas wie: „Sie befinden sich in der Mobilbox von…“ Ein Pfeifton schmerzte. Ich merkte dass es MEINE Stimme war, die MEINEN Namen murmelte, sich für MEINE Unabkömmlichkeit entschuldigte und folglich zeichnete MEINE Mailbox MEIN hirntotes „Häh?“ auf. Die ganze ursprünglich sexy Sachlage implodierte. ICH hatte also der Armen meine Nummer zugesteckt. Mit anscheinend fruchtlos gebliebenen Avancen hatte ich mich zum Idioten gemacht und ein Visitenkondom mit Nummer darauf war die einzige verbleibende logische Option gewesen. Wirklich? Mein betrunkenes „Ich“ hatte ich immer charmanter eingeschätzt. Obwohl, es hätte eigentlich auch funktionieren können. Aber breche ich diese zum Scheitern verdammte Schapps-Idee gleich präventiv ab indem ich der armen Person den Mantel stehle. Dieser war ja schließlich reichlich besudelt worden. Was hatte ich mir nur dabei gedacht. Diese Peinlichkeit wurde dann direkt nach Pjotrs ersten Tasse Kaffee von einem mittelschweren Kreislaufzusammenbruch abgerundet. Mir wurde schwarz vor Augen.

Tunnel! Ein klemmender Schmerz zieht sich von meinen Gehörgängen durch bis in die Nebenhöhlen. Schwarz Violett. Ich schaue mit tief hängenden Lidern hin zu meinen Mitreisenden, zu denen sich, wie ich im flackernden Notlicht erkenne ein junges Mädchen mit Brille gesellt hat. Wir verlassen den Tunnel und keiner im Abteil rührt sich. Die Kleine ist in ein Buch vergraben und die Damen starren verträumt ins Nichts, wie Puppen im Regal. Mir hat es sowas von die Ohren verschlagen. Ich halte die Nase zu, drücke mir Luft in den Kopf und der Ausgleich schlägt mit einem kurzen schleimigen Glucksen die Ohren wieder frei. Ich blicke mich um, doch keinem sonst scheint der Tunnelunterdruck ähnlich unangenehm aufgefallen zu sein. Bin ich denn der einzige dem es die Ohren verschlägt? Das ist pure Ungerechtigkeit!

Pjotr erzählte mit leisem Bariton von einer elenden Menschheit als ich wieder zu mir kam. Er sprach von Solidarität, die sich langsam auflöste. Es begann mit einem gemäßigten Fluch auf seine Schwester, doch dann folgte eine stille herzbetäubende Rede über Feigheit in Menschen und ihrer Unfähigkeit Fehler einzugestehen. Sprach er von mir? Ich verstand nur jedes zweite Wort weil er immer wieder seine Muttersprache in den Bart brummte. Es wäre nicht nur Stolz, der uns hemmt, meinte Pjotr, sondern Angst vor dem Alleinsein mit dem Imperfekten an sich und in ihnen. Darum ist niemand ernsthaft bereit seinem Gegenüber wahres Leid zu gestehen. Und falls doch ist es kontrolliertes Jagen nach Mitleid. Pjotr spuckte lebensmüde ins Feuer. Ich wusste dass er Recht hatte. Ist niemand mehr fähig sich an Gemeinsamkeiten des Denkens zu erfreuen? Ist es zu eintönig ohne Konflikt? Wieso sollte man verständnisvoll und offen sein, seine eigenen Ideologien unterordnen? Dies werde mittlerweile als Schwäche angesehen und sei das wirkliche Ende der Solidarität. Das las ich jedenfalls aus Pjotrs traurigen Worten.

Ich erinnerte mich langsam, dass er seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte in seine edle etwas zu weite Abendgarderobe gewickelt war. Als kulinarischer Führer eines 6 Sterne Hotels in der Prager Altstadt war ein fein fabrizierter Anzug Pflicht. Pjotr sprach während der Arbeitszeiten nur über die Herkunft von Leckereien wie jener Gänseleber oder dieser Jakobsmuschel. Neureiche ohne brauchbare Geschmacksknospen quälen ihre verfetteten Verdauungsorgane mit Speisen der Götter. Steinbeißer-Filet mit Sesampanier, gedünstetes Safrangemüse mit Trüffelöle und so weiter. Ein Lebensinhalt aus kulinarischer Überspitztheit. Doch dort am Feuer saß der Russe nun mit milchigen Augen, verkrusteten Lippen und sprach von einer höheren Moral, die über Cuvée und Lungenbraten hinaus geht. Man konnte unschwer erkennen dass in diesem Oberkellner der oberen Zehntausend ein Philosoph ums überleben kämpfte. Ich meine mich sogar an unsre feuchten Augen zu erinnern, als wir uns im übermannenden Weltschmerz suhlten. Es mag vielleicht auch der mystischen Wirkung meines tschechischen Katers zu verdanken sein, dass ich sein Gerede als ergreifend empfand. Manchmal verabschieden sich die Gehirnzellen mit einem Lächeln und der Erleuchtung nahe scheint das postkollaterale Gemüt.

Ich hatte Pjotr zwei Tage zuvor in einem Café nahe dem Bahnhof kennen gelernt. Ich hatte mich nach einem Fußballergebnis erkundigt um den Frust in der Fremde zu überspielen. Schon hatte er seine ganze Mittagspause im Gespräch mit mir verbracht. Mein Auftrag und somit Reisegrund hatten sich als kurze Konsultation herausgestellt und mir war ein ganzer Nachmittag und Abend zur Unterhaltung in Praha geblieben. Als ich dies erwähnt hatte, überwältigte mich dieser hilfsbereite, haarige Tartar mit einem solchen Entgegenkommen und Vertrauen, dass es schon etwas unheimlich hätte scheinen müssen. Zwei oder drei Vorschläge zur Abendgestaltung später hatte er mich für sich gewonnen und ich war ihm seither nicht von der Seite gewichen. Er erinnerte mich stark an Dinetti, nur dass Pjotr echt war und nicht ausgedacht.

Neben dem Knistern des Plastikreifens im Feuer schien dieses erste Treffen Jahre her zu sein und Pjotr war keineswegs beeinträchtigt vom Gelage des Vortags. Er zählte munter alle Lokalitäten und Diskotheken auf, die wir in der Nacht zuvor besucht hatten. Leider war ihm die Dame, die ich mit Latexprofilaktika erobern hatte wollen, nicht im Gedächtnis geblieben. Obwohl ich ihr nicht unbedingt in meinem zerstörten Zustand vor die Augen treten wollte, völlig ahnungslos was mein Verhalten ihr gegenüber betraf, benötigte ich aber meine Geldbörse zurück, Handy sowie Zugfahrkarten. Auf die unsichere Annahme hin dass das Mädchen im Gegenzug vielleicht meinen Mantel mitgenommen hatte reagierte Pjotr wenig hilfreich mit einem brutalen Schulterzucken. Er hatte aber gleich eine Ahnung wen es diesbezüglich zu fragen gelte. In der Touristenbranche hatte Pjotr einige Freunde. Es muss zunächst klargestellt werden, diese Leute sind irrsinnig. Touristenführer, die Könige Prags und ich hatte eine ihrer Nächte miterlebt. In Gruppen aus internationalen Vertretern ihrer Tourismus-Loge und unschuldiger Ausländerinnen zogen sie tagtäglich Spuren der Verwüstung durch Prags Untergrund. Ich schob die unglaublichen fast surrealen Anekdoten über die Geschehnisse des Vorabends auf Pjotrs schlechtes Englisch, doch dem rauchenden Krater in meinem Hirn zufolge, war vielerlei im Bereich des Möglichen.

Einem Touristenführer in dieser Stadt steht durchaus ein weiter Horizont an abenteuerlichen Wahnsinnigkeiten auf Abruf, gerade hinsichtlich der Abendgestaltung. Für das informierte Kollegium bedeutet die Stadt billigen Alkohol, Musik und natürlich Frauen. Letztere werden gehandelt wie Essstäbchen, ausgepackt, eingesaut und weggeworfen. Dem Leiter eines Pub Crawl reicht meist die scheinheilige Frage oder Feststellung: „Du warst doch heute Nachmittag bei der Führung?“ In Englisch brummt der lange ausgefeilte tschechische Akzent am besten. Und dann fordert das Spiel schon seine unkomplizierten Opfer. Dynamitfischen wirkt dagegen wie Quantenmechanik.

Nach einem kurzen Telefonat trafen wir uns jedenfalls mit Kai, einem der erwähnten Touristenleiter. Ein Arschloch aus Baden Baden, gut situiert, beherrscht fließend vier Fremdsprachen und schien ein derart hedonistisches Leben zu führen, dass es die Vorstellungskraft meines einfachen Gemüts schlicht zu sprengen drohte. Gott, wie ich ihn verabscheute. Immer eine dezente, aber zur Perfektion geeichte Bräune, blonde Locken und scheinbar ein Regenbogensortiment an Fred Perry Polohemden. Er saß lautstark obwohl alleine am Tresen der gleichen Bar in der ich ihn mit Pjotr das erste Mal getroffen hatte kurz bevor die Dunkelheit überhand genommen hatte. Sein hochdeutsches Gesicht schoss hoch von seinem dampfenden Teller und explodierte sofort scheußlich überdreht in unsere Richtung.

„Zwei Bulgarinnen im Bett!“

Mehr sagte er zunächst nicht. Das war seine geifernde Begrüßung.

„Mit zwei Bulgarinnen im Bett aufgewacht. Ich sage euch, die machen jeden Scheiß mit, die dummen Fotzen.“

Kai grinste mir breit mit Gulasch verschmierten Mundwinkeln ins Gesicht. Er war stark beeinträchtigt von den bunten Pillen, die er anstatt sie zu verkaufen meist selber einwarf. Unkontrolliert zuckte er mit den Lidern. Ich sah ihm direkt in die Augen, Pupillen wie Nadelspitzen und fühlte mich bestätigt, Amphetamine machen diesen Menschentypus einfach unsympathisch. Und darauf hin musste ich mir die gröbsten Angebereien anhören und gute Miene machen. Kai hatte Informationen und der einzige Weg diese zu beziehen war die Luft anzuhalten und den verbalen Dung durchzustehen bis man auch mal ein Wort in das Gespräch zwängen konnte. Er schüttete mich zu.

„Bei uns zu Hause sind seit einer Woche ein halbes Dutzend Frauen! Ohne Scheiß! Ich habe keine Ahnung, wo die hergekommen sind. Keinen Schimmer, wie sie heißen, was die machen, aber eins sag ich dir: Wenn sich Weiber bereits zum Frühstück anstellen um dir einen zu blasen kann es nur ein guter Tag werden!“

Pjotr kaute unbeeindruckt an einer Brezel und gab vor Kai schlecht zu verstehen. Ich würgte einen zustimmenden Ton zwischen den Zähnen hervor, mit aufgerissenen Augen, als ob ich genau wüsste wovon er spricht. Versaut sein ist in Ordnung, doch keine Lebenseinstellung! Das Traurige ist, dachte ich, dass er mehr Drogen in einem Monat in sich hineinschaufelt, als ich mir im letzten Jahrzehnt zugemutet hatte und Kai mich mit großer Wahrscheinlichkeit noch überleben wird. Der zwei Meter große Zuchthengst mit einem Jaguar Baujahr ’72 hielt mir mein eigenes kleines Leben vor Augen und ich konnte nichts dagegen tun. Während ich mit Krebs kämpfen werde ist er wahrscheinlich dabei seine empirisch gefestigte Doktorarbeit über die abnorm hoch entwickelte Libido der Osteuropäerinnen zu schreiben. Hass, Neid und Respekt kneteten mir durch den Magen, während ich schwer konzentriert versuchte mich nicht mit Kai zu vergleichen. Glücklicherweise konnte er mir die Adresse der Kellnerin aufschreiben, welche, wenn man seinen Ausführungen wirklich glauben hätte sollen, unter meinen betrunkenen Liebesbezeugungen etwas gelitten hatte. Er rechnete mir keine Chancen bei ihr aus, verlor schnell das Interesse am Thema, das ihn ja nicht betraf, und kehrte zurück zum Serviettenknödelmassaker. Da gab es noch ein unterbrochenes Gespräch über Analperlen. Ich wusste er würde an jenem normalen Tag mehr Spaß haben als ich mir in den letzten zwei Jahren gegönnt hatte. Leute wie er haben ein Leben wie im Elysium.

Der Fahrtwind des holpernden Regionalzugs bläst mir durch die Rohre der einfachen Lochtoilette auf die entblößten Genitalien und Anus. Es fühlt sich eigenartig an, die maschinelle Geschwindigkeit an dieser verwundbaren Stelle meines Körpers so direkt zu spüren. Die Zigarette brennt langsam ab, und ich stell mir die Landschaft vor, wie sie vorbeizieht in der Nacht, hinter meiner dunklen Reflexion im Fenster. Ich zittere leicht und ein kurzzeitiges Aufbäumen des Wagons lässt plötzlich den verdreckten Papierspender von der Wand fallen. Ich starre auf die flatternden Recyclingblätter am Boden und schüttle resignierend den Kopf. Ein emotionaler Schwächeanfall will mich weinen machen. Gut, dass Ani die Ausmaße meiner Erbärmlichkeit nicht kennt.

Sie öffnete die Tür und erkannte mich sofort, lächelte sogar. Sie hielt mir erleichtert doch wortlos meinen Mantel hin. Wir tauschten umgehend. Ein Arm behangen mit unzähligen Armreifen schloss an eine zarte Schulter an, aus dem ausgeweiteten Kragen eines „Sepultura“ T-shirts lugte. Ihre Jogginghose war massiv und etwas speckig. Die langen, glatten, blonden Haare waren irgendwie an ihrem Hinterkopf zusammengeknotet mit Hilfe von Bändern, Klammern und ich glaubte sogar zwei Bleistifte im Gewühl zu sehen. Strahlend grüne Augen. Sie war hübsch auf eine besondere Art, wie ein junge Faye Dunaway. Mein Vollrauschplan mit der zugesteckten Kondomnummer wurde auf einmal nachvollziehbarer, machte plötzlich selbst nüchtern mehr Sinn. Was wenn es funktioniert hätte?! In so einem Fall sollten alle Mittel recht sein. Der Fall Ani. Ich kratzte mich am Haaransatz und öffnete ein wenig meinen Mund. Nichts kam. Ich habe noch nie so lange mit einer Person geschwiegen, ohne auf Schwafeleien auszuweichen oder mich in absurde Behauptungen sprich komplette Blödheit zu verirren. Ich fragte peinlich berührt ihren Namen. Mein Tschechisch hinkte und sie antwortete schnell.

„Was hast du gestern noch getrieben, Hannes?“

Sie sprach deutsch mit einem entzückenden Akzent. Sie nickte mir unterstützend entgegen als ob sie einem Kind gegenüber stünde. Sie lächelte. Das ist immer gut.

„Ich bin Ani, die Kellnerin vom Big Bear. Das Pub wo du mich Anträge zum Heiraten gemacht hast, und mich bei Sperrstunde ewig umarmt. Wolltest nicht mehr loslassen…?“

Der letzte Satz war wie eine tatsächliche Frage formuliert. Ich zwickte die Augen zusammen, fletschte die Zähne aus nachträglicher Scham. Warum war sie nicht böse mit mir, oder wenigstens etwas ungehaltener? Ich hatte schließlich ihren Mantel gestohlen und das Vergessen ihres Namens ist bei einer Frau auch selten optimal. Vielleicht hatte ich die Nacht zuvor doch irgendwie Charme produziert. Kein Wunder, ihre anziehende Erscheinung spaltete sogar mein schlechtes Gewissen vom Festland ab sodass es ungehört davon trieb. Nur ihr Gesicht, ihr ganzer Kopf fiel mir irgendwie unbehaglich auf, doch weswegen? Da waren Piercings in Nase und Lippen, doch das war es nicht. Sie hatte jene gewaltigen grau-grünen Augen, sehr appetitliche von einem spitzen, dünnen Kinn umrahmte Lippenproportionen. Etwas passte hier nicht zusammen. Da erinnerte ich mich an den Schülerausweis.

„Komm da herein, du Spinner! Du bist ja den Verstand verloren. Immer trinken, trinken, trinken. Wenn du nicht aufpasst, vergisst du dein ganzes Leben.“

Ich wackelte unfähig mit dem Kopf dankend für den Ratschlag und betrat eine verrauchte Wohnung. Barfuß stürzte sie in drei Sätzen zurück an ihren Wohnzimmertisch, auf der eine riesige Wasserpfeife thronte, wie ein grünes Saxophon aus Glas. Der Fernseher lief ohne Ton und Musik brummte aus den beeindruckend sperrigen Boxen in den Zimmerecken. Muddy Waters sang von Zigeunermädchen, während ich beim Schuhe ausziehen in Bob Marleys aufgerissenen Mund starrte der mich hinter seinem dick qualmenden Joint auszulachen schien. Auf der anderen Seite verdrehte Che Guevara seine Augen. Offensichtlich wollte er nichts mit der Sache zu tun haben. Ich runzelte die Stirn, versuchte zu kommunizieren.

„Ja, das war etwas chaotisch gestern.“

Ani saugte derweil an der Bong, stieß einen gigantischen Rauchschwall aus und begann danach wieder zu nicken um ihre Aufmerksamkeit zu signalisieren. Sie lehnte sich zurück und sah mich durch zu Schlitze gewordenen Augenlidern an. Langsam erkannte ich eine Problematik, die unterschwellig im Raum lag.

„Wo ist dein Freund, der Russe, der immer gestern gelacht?“

Unbeholfen stand ich mitten in einem pubertierenden Zimmer mit meinen unnützen Händen. Ich suchte Hilfe bei den Beastie Boys am Kleiderschrank die jedoch uninteressiert an einer Straßenecke in Brooklyn hockten.

„Pjotr heißt der Kollege, ja, der ist in die Arbeit gegangen… sag Ani, wie alt bist du eigentlich?“

Dieses unheimlich gelassene Mädchen erhob sich und streckte ihre Glieder, wobei der Bauchnabel dabei einen Blick auf mich, den Besucher, erhaschte. Sie schlurfte an mir vorbei Richtung Badezimmer wobei sie den Mund eigentümlich verzog. Ich hörte wie ein außerordentlich dicker Klumpen Grind in die Toilette gespuckt wurde, worauf die Spülung folgte. Die Antwort was sehr beiläufig und unbefriedigend.

„Chab ich dir gestern schon gesagt.“

Ich begann mit den Zähnen zu knirschen und versuchte mich zu erinnern wann ich das letzte Mal mit einem Menschen gesprochen hatte, der womöglich halb so jung wie ich war. Als sie sich zurück zum Tisch manövrierte klopfte sie mir auf den Hintern. Ich entschied mich noch kurz zu bleiben.

Bevor ich die heikle Sachlage vernünftig einschätzen und meinem Alter gerecht entschärfen vermochte, hatte ich schon Bekanntschaft mit der zweifach gekühlten Wasserpfeife gemacht, zwei Flaschen Rotwein dekantierten lässig vor sich hin und das Fernsehprogramm war aufs ausführlichste diskutiert worden. Wir einigten uns auf ihren Vorschlag, Wiederholungen von Kommissar Rex zu sehen. An und für sich machte es keinen Unterschied, da der Ton sowieso nicht aufgedreht wurde. Die neckische Streiterei war dennoch lustig. So beobachtete ich zwei Burgtheaterschauspieler die zu stampfender Blues Rhythmik einem deutschen Schäferhund nachliefen. Nach kurzem und oberflächlichem Austausch über unsere jeweiligen Herkunftsländer und deren Sprachen — Ani war gebürtige Slowakin — wurde geklärt, dass sie gottseidank nicht mit ihren Eltern zusammen in jener Wohnung wohne, was mir eine peinliche Überraschung ersparte. Sie meinte, dass sie bereits seit einem Jahr in Prag arbeite, ein bezahltes Praktikum als Behindertenbetreuerin in einem der Vororte. Sie war jung, alleine und fand diese Tatsachen nicht im Geringsten beeindruckend. Langsam verstand ich mein gestriges Ich sehr gut in seiner amourösen Tendenz, denn ihre selbstsichere Lethargie machte die ohnehin gutaussehende Ani noch ein Stück attraktiver. Nach einer Stunde waren wir zu benebelt um ein ordentliches Gespräche zu führen. Ani lehnte seitlich auf dem Sofa und starrte die Wange auf ihre Handfläche gestützt abwesend ins Fernsehbild. Ich saß direkt hinter ihr und es war als ob sie vergessen hätte, dass ich noch im Raum war. Ihr Rücken war mir zugewandt und ich traute mich nicht auch nur eine Bewegung zu machen. Die heilige Stille galt es zu erhalten. Doch da war ihr Nacken. Lang gestreckt ragte er die leicht geschwungene Haltung des Oberkörper weiterführend in den Haarknäuel ihres Kopfes. Zwei Ketten, eine aus Silber und eine aus Holzperlen lagen still über ihren fragilen Schlüsselbeinknochen. Mit einer für Außenstehende schwer auszumachende Vorwärtsbewegung, etwa wie das sich der Sonne Entgegendrehen von Blumen, näherte ich mich diesem zierlichen Flaum ihres Genicks. Da vernahm ich ihr körpereigenes würziges Duftgemisch zum ersten Mal. Im Prinzip roch sie nach Essen und Marihuana doch eine andere verzaubernde Essenz konnte ich nicht zuteilen. Auf alle Fälle wollte ich mehr davon. Ich berührte mit meinem Nasenrücken ganz vorsichtig den Punkt wo ihr Kiefer auf den Hals traf. Im ersten Moment kam es mir vor als würde sie es nicht bemerken. Doch dann eine Reaktion, ein leichtes Neigen des Kopfes, in meine Richtung. Ihre Hand fasste nach hinten und packte meinen Hinterkopf, zog mich zu ihr. Dann drehte sie mir ihr Gesicht mit bereits geschlossenen Augen entgegen. Kuss. Der Geschwindigkeit mit der jene Intimitäten abliefen erhöhte sich exponentiell. Da lag sie auch schon am Rücken vor dem Fernsehapparat und ich lehnte mit dem Oberkörper auf ihren in der Luft wippenden Beinen. Ich glich dabei einem im Pflug gespannten Ochsen. Ihre Jogginghose hing lose am rechten Fuß und baumelte mir vor der Nase. Meine Jeans waren nicht einmal bis zu den Knien runtergezogen. Keine Zeit! Ihr Schmuck klimperte leise und ich schwitzte wie ein Schwein. Sie war nicht laut, gespielt verrückt oder wand sich unnötig, sie genoss es einfach. Ich fühlte mich wie ein Sexualverbrecher, als ob ich Gesetze brechen würde und gleichzeitig brannte ich, wie Feuer. Kleine Schweißperlen tropften von meiner Nasenspitze auf ihren Bauch und zwischen ihre Schenkel. Ich riss versehentlich eines ihrer Fußbänder ab, doch sie kümmerte sich nicht darum. Marleen hätte mich wohl ohne Umschweife enthauptet wenn sie uns so erwischt hätte. Ich blickte keuchend auf und sah, dass im selben Augenblick unseres Liebesspiels eine Sexszene im Fernsehen flimmerte. Ich musste wegen des blöden Zufalls lächeln wie ein Affe. Ani ließ ihren Kopf neugierig nach hinten kippen. Das Kinn durchgestreckt fing sie nun auch an zu glucksen, als sie das auf den Kopf gestellte Bild des leidig fornikierenden Pärchens aus den Achtzigern sah. Ein schlecht ausgeleuchtetes Bündel aus Pornoschnauzer, schlecht nachsynchronisierten Gestöhne gepaart mit gelber Reizwäsche, literweise Make-Up und Dauerwellen so weit das Auge reichte. Ich küsste den von Ani freigelegten Hals worauf wir einander plötzlich statisch und mit aufgerissenen Augen ansahen. Dann platzten wir vor geilem Gelächter, wälzten uns am Boden hin und her wobei wir jaulend wie Hunde das coitale Laienspiel im Fernsehen imitierten.

Ich fahre in den Bahnhof ein und schlucke den zähen Schlick hinunter, der sich während der Erinnerungsstarre in meinem Mund gebildet hat. Ich täusche eine ganze Minute lang vor Marleen noch nicht zu sehen. Mein Gesicht muss erst wieder aufwachen um lügen zu können. Ich suche anscheinend nach irgendetwas in meinem Rucksack und mein besorgter Ausdruck überzeugt hoffentlich. Sie läuft winkend neben meinem Fenster her. Züge halten. Das halte ich für schlecht, doch wenn sie immerzu fahren würden, könnte niemand einsteigen und schon wurde mir das Konzept zu albern. Mit Gedanken dieser Art schlumpfe ich kurz durch den Wagon und eine zischende Hydraulik öffnet Schleusen und den Weg nach draußen. Und da steht sie auch schon. Das geht mir jetzt doch zu schnell.

Marleen umarmt mich und hat keine Intention jemals wieder loszulassen. Ich seufze kurz und schon bin ich wieder frei. Ich küsse ihre Lippen und voller Hingabe umschlingt mich diese Frau erneut. Dieses Gewissen ist hoffentlich nicht chronisch. Ihre Intensität an Freude ist mir im Moment äußerst unangenehm. Hoffentlich merkt sie das nicht. Vor meiner Abreise hatte sie nur böse Blicke für mich übrig. Und jetzt könnte ich ihr meine Koffer auf den Rücken schnallen und sie glücklich jauchzend auf allen Vieren nach Hause in den 5. treiben. Oder überspielt sie ihre Ahnung, dass ich gedanklich noch immer zwischen den Beinen der schönen Ani bin. Ach, ist das verworren. Mit dem prompten Entschluss ihr alles zu erzählen, sehe ich mich jedoch überfordert. Ich lächle, und es ist glaubhaft. Gut, ich sage ihr einfach, dass ich müde bin. Ich möchte auch viel lieber wissen, was bei ihr denn so los war. Endlich spricht sie und ich kann mich geistig zurücklehnen. Unmittelbares Desinteresse an Marleens Geschichten. Es ist zwar nicht so, dass sie über komplexe oder furchtbar dumme Dinge sprach, doch springt sie ständig ohne jegliche Dramaturgie von einem Themen zu einer erregten Aussagen, dann zu tiefsinnigen Fragen hin zu unnötigen Details zu lauen Anekdoten. Unnötig sie in ihrem Rhythmus stören zu wollen.

Von Ani hatte ich mich gar nicht mehr richtig verabschiedet. Frühmorgens noch einmal Sex, der sehr förmlich ausfiel, da weniger spannend in der Vertrautheit eines Betts. Als ich mich innerlich selbst verfluchte und im Gegenzug wieder gratulierend auf die Schulter klopfte, erzählte sie quergelegt über ihre Liebe für Details. Sie plapperte ohne Pause und driftete dabei immer zwischen slowakisch, deutsch und tschechisch. Da ich ohnehin nicht genauer nachfragte korrigierte sie sich auch nicht in jenem sprachwissenschaftlichen Dreikampf. Ich glaube sie sprach hauptsächlich von Speisen und ihren optisch reizvollen Eigenheiten. Zerronnener Eidotter, spiralförmige Sahne in der Zucchinisuppe, geschmolzener Käse auf Kalbsfleisch und der feine Staub geriebener Muskatnüsse. Ani war in ihren Ausführungen verschollen. Als sie mir langsam aber sicher den schlimmsten Heißhunger meines Katerdaseins einredete, bemerkte ich ihre eigentümliche quergelegte Stellung im Bett. Ihr Kopf lag auf meinem Bauch und ihre hübsch bemalten Zehen spielten mit der Lautstärke des Wecker Radios auf ihrem Nachtkästchen. Ich fragte sie ob jene gekrümmte Lage denn gemütlich wäre und da wurde sie aufgeregt wie das Schulmädchen das sie war. Sie schaute mich ernst an und gab ihren Worten damit einiges an absurden Nachdruck.

„Ich chabe entdeckt dass ich seit Jahren, seit immer schon falsch herum in meinem Bett schlafe.“

„Wie, falsch herum?“

„Naja, die falsche Seite mit Kopf. Die Füße müssen zur Wand nämlich auch beim Fenster. Chab ich mal probiert und jetzt schlaft mir besser. Du schaust einen neuen Menschin.“

Ich nicke gespielt fasziniert und etwas geruhend. Danach taumelte Ani flink aus dem Bett und zog sich an. Erst ein schwarzes, kurzes Kleidchen und dann lange Stoffstutzen, ebenfalls schwarz. Sie stieg aufs Bett in dem ich noch lahm und nackt verteilt war. Breitbeinig baute sie sich über mir auf und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz während ich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zu ihr hochgaffte. Ani erwiderte dies indem sie mich mit einer Haarspange im Mund angrinste. Sie thronte über mir wie ein alles erregender Fleischtotem der ultimativen Weiblichkeit. Mit einem weiteren Satz gelangte sie zum Fenster. Sie riss den Vorhang auf wobei sie die Augen geschlossen hielt. Ich musste mein Gesicht abwenden, denn es war ein wolkenloser hell strahlender Vormittag. Nun folgten ihrer morgendlichen Ankleidungsroutine noch das Anlegen zweier Armreifen sowie diversen grünen Jadeschmuckes und schon verschwand sie aus dem Zimmer. Plötzlich trat sie leichten Schrittes wieder ein und ließ dabei eine Zahnbürste sehr penibel genau durch den Mund kreisen. Da stand sie auch schon wieder in der Pose des fragilen Kolosses über mir und starrte ins nichts, die Zahnhygiene ehrend. Ich meinte in meinem eigenen Rachen diverse Dünstungen der letzten zwei Tage zu schmecken und fuhr mir peinlich berührt mit der Zunge über die Zähne. Wenig später, als ich mich wortlos anschickte, meine Hose zu finden, sagte sie plötzlich, dass sie mich für sauber hielte, sauber und rein. Das kam etwas unvorhergesehen. Ich denke in ihrer deutschen Übersetzung verlor sich die wahre Bedeutung etwas, doch mich hatte noch nie jemand in irgendeiner Form rein genannt, und fassungslos zog ich mir die Socken vom Tag zuvor an. Nie hätte ich mich selbst so gesehen. Hier war nun unerwartet eine außerordentliche, lang gesuchte Person aus dem Nichts meiner durchzechten Nächte geboren. Und sie beschrieb ihr Gefühl mir gegenüber was mich wehrlos schlug. Viele Menschen vor ihr hatten es verweigert zu sagen wie sie mich finden. Schlussendlich hörte ich wie sie dem Ganzen einen Wehrmutstropfen beifügte.

„Aber vielleicht sehe ich nur gerne das in anderen was ich selber sein möchte.“

Dann drehte sie sich weg und ging ins Badezimmer und verschloss die Tür. Ich glaube, dass sie wusste was ich dachte. Ich dachte nicht nur es zu wissen, ich ging davon aus. In meinem Blick war alles gewesen was sie wissen musste. Alles was ich hätte sagen können. Aber ich ging lieber, zog mich einfach an, nahm meine Sachen und konnte die Haustür gar nicht schnell genug hinter mir schließen. Ich hatte Angst! Worte in irgendeinen Kontext zu bringen wäre schlichtweg unmöglich gewesen. Ich war dumm geworden. Dumm für sie und dumm gestorben. Dumm auferstanden und nun konnte ich einfach nicht mehr mithalten. Mit erstaunlich schlechter Laune rief ich Pjotr an und ließ mich zum Bahnhof kutschieren. Dieses Mädchen liegt mir im Magen und daneben ein fettes Stück verdorbener Reue.

Kapitel — Dinetti und Gesellschaft

Die Plastikriemen jucken schrecklich. Mein ganzer Hinterkopf fühlt sich an wie von Insekten untergraben. Mit einem kontrollierten Aufschrei werfe ich meinen Kopf nach hinten, sodass der Baustellenhelm hinten mir auf den Betonestrich scheppert. Ich habe keine Hand frei mich zu kratzen, da ich in der einen die Grundrissrollen und meine Werkzeugtasche halte und in der anderen eine zwei Kilo schwere Taschenlampe. Während ich die Wände ableuchte und an den Trägerübergängen nach Rissen suche, reibe ich meinen juckenden Haaransatz wie ein Kater an einer aus der Wand vorstehenden Stahlfixierung. Ich bahne mir den Weg durch das stockdunkle Kellergewölbe des ausgehöhlten Luxushotels „Demeter“ und finde enorme Baumängel. Über das schlampig gegossene Mauerwerk, das deutlich abgesackte Fundament und einige gefährlich verzogene Streben lache ich verschmitzt. Statische und bauphysikalische Ungereimtheiten wohin das Auge reicht. Jeder kleine Baufehler gibt mir mehr professionelle Bestätigung. Das muss alles weg. Die ersten Kontrollbesuche bei den neuen Projekten sind immer spannend. Man kann über die Arbeit irgendwelcher Baumeister lästern und seinem eigenen Echo in den bröckelnden Gewölbe nickend zustimmen. Man sitzt Gericht über die Sünden der Achtziger und der frühen Siebzigern und keine Gnade soll ihnen widerfahren. Ich bin die letzte Instanz. Das Gebäude, das mich in sich rumschreiten fühlt, erkennt Fugenmaße schwitzend den Ernst der Lage. Manche betteln regelrecht, versuchen heruntergekommenes Mitleid zu wecken in ihren traurig leeren Zimmern mit den brutal herausgerissenen Zwischenwänden und den verzweifelt verstaubten Fenstern, die an grauen Star erinnern. Ausgenommen wie ein Heilbutt zeigt mir das „Demeter“ ihre ehemals glänzenden Hallen und samtenen Salons, die wohl irgendwie noch Verwendung hätten finden können, doch der Meister ist hier. Das Leid hat ein Ende.

Etwas abwesend stapfe ich die Zementstiegen des Kellers hinauf und zwänge mich wieder durch den schweren eisernen Türstock zurück in die modrige Küche. Gigantische Fettspuren erinnern an die ehemalige Chrome-Maschinerie dritter Güteklasse. Im Gang zur Frühstückshalle kann man den alten Klebstoff riechen der einst den billigen Filzboden an das verzogene Linoleum pappte. Reste eines großen Wandspiegels kleben auch noch an den Foyerwänden. Ich bleibe vor einer der größeren Scherben stehen und bewundere das Namensschild in meiner Projektion. Ich lese die spiegelverkehrte Schrift. Wie passend, meine heutige Tagesverfassung scheint auch verdreht, rückwärts zu laufen. Gestatten, Ing. Johannes Erlach, ich lasse Häuser kollabieren, sprenge Gebäude in die Luft, ganz legal und werde gut dafür bezahlt. Ich bin zwar verschlafen, aber dieses Hotel ist als nächstes dran. Nach kurzem Geknirsche auf zerbrochenem Glas neben der ehemaligen Rezeption lasse ich das still verlebte „Demeter“ ein wenig auf mich einwirken.

Um meine Vermutung zu bestätigen wandle ich in Richtung der ehemaligen Bar. Dort sitzt Dinetti breitbeinig in einem der letzten schwer gepolsterten Foyersessel und stößt ein Stück Wandverputz zwischen seinen schwarzen Lackschuhen hin und her. Vertieft in dieses Spiel und leicht schwitzend krallt er sich für Balance an den Armlehnen fest. Sein gelber Helm ist viel zu klein für seinen gewaltigen Speckschädel, und auch der edle Maßanzug scheint unter seinen überwältigenden Umfängen leiden. Diese gewaltige Wampe spannt den Stoff der Hose bis zum Äußersten und steht dabei unansehnlich unter der Gürtellinie hervor. Direkt darüber quillt sein hängender Männerbusen. Da Dinetti vom Dreck abgelenkt scheint meine ich ihn erschrecken zu können. Als ich mich hinter ihm aufbaue, bereit ihm eine Kachel über den Helm zu fetzten fängt er leider an zu.

„Das ,Demeter’. Drecksloch. Und der Besitzer erst, das war ein falscher Hund, sag ich dir. Dieser präpotente Freizeitindustrielle, der hatte ernste psychische Probleme. Trinker und Pädophil, mit Kindern, das sagen jedenfalls die Leute. Das waren keine Leichen im Keller. Der hatte schon eher Ausschwitz unterm Bett. Gesichtszüge eines schwer Darmkranken hatte der.“

Dinetti hebt den Helm um sich mit dem Krawattenende über seine verklebte Halbglatze zu wischen. Dinetti gefällt mir heute kein bisschen, aber ist kommt immer bei meinen Rundgängen in den Objekten. Manchmal ist es besser als alleine durch die toten Zimmer zu wandern, manchmal. Er spricht nur leider ständig von den Dingen mit denen ich mich gerade gar nicht beschäftigen möchte.

„Zweimal im Jahr ist er nach Thailand aber nicht zum Tauchen, du verstehst? Moralisch verkommen, sogar für einen Geschäftsmann. Als ob’s in Wien nicht genug gute Puffs gäbe!“

Nickend breite ich die alten Blaupausen des Südflügels auf einem Tresen der überlebt hat aus und beim ersten Blick schüttle ich den Kopf. Es lässt sich nicht vermeiden in Dinettis verächtlichen Ton einzustimmen.

„In der Qualität seiner Architekten hat er wohl auch ganz schön gespart. Schau dir diese unausgegorene Planung an, da ist keine einzige überlegte Angleichung. Als ob mehrere Leute unabhängig voneinander an den Stockwerken gearbeitet hätten. Da hat jemand in einem Schritt von Legobausteinen zum Millionenbauprojekt gewechselt. “

„Ja? Alles Pfusch, oder wie? Na sicher, das sind diese Privatés, die ständig an der Donaucity rumwichsen. Die haben den finanziellen Weitblick von Pantoffeltierchen, die verfluchten roten Bauagenturen. Schieben sich gegenseitig die Aufträge zu und bauen Kartenhäuser.“

Mir entwischt ein beistimmendes, halbseitiges Lächeln. Dinetti hat doch in Wirklichkeit keine Ahnung. Er wühlt stur mit den Fingern in seinem Zahnfleisch. Dann scheint es als ob er mit seiner Zunge Kaulquappen durch seine Mundhöhle jagt. Nervöse Ticks sind ein auffallendes Charakteristikum bei diesem Dinetti. Das Eigenartige ist jedoch, dass ich mich nie daran gewöhnen konnte. Mir ekelt vor seiner oralen Fixierung. Und schon spricht er mit fingervollem Mund.

„Wie war Prag eigentlich?“

Das Fingernägelbeißen gibt dem Knöchelknacken die Klinke in die Hand. Das Zähneknirschen kommt sicher auch gleich.

„Ich hatte eigentlich damit gerechnet dich dort zu sehen, Dinetti. Was ist passiert?“

„War es nicht schön ohne mich. Komm schon, Hannes, für mich wäre doch ohnehin keine Zeit gewesen, zwischen dem Komasaufen und deinen Eskapaden mit Prager Oberstuflerinnen.“

„Verdammt nochmal, wieso fragst du mich überhaupt, wenn du ohnehin immer alles weißt.“

„Du müsstest aber mittlerweile wissen, dass ich alles weiß.“

Ich winke ihn ab, den Idioten. Niemand macht mir die Gedanken schwindelig wenn ich arbeite. Oder sind das wieder seine doppeldeutigen Seeigelsprüche, die man sich eintritt und dann ewig mit sich herumschleppt, bis dann der Eiter kommt und sich alles entzündet. Jahre später kennt man sich dann immer noch nicht richtig aus. Was meint Dinetti denn wirklich?

„Moment, hast du fetter Intrigant wegen der Ani vorhin von Pädophilie gesprochen? Willst du mich verarschen?“

Er zeigt mir seine gelben Zähne. Einfach ignorieren. Alles ist gut solange ich ihn nicht wieder dabei ertappe wie er mit der Hand im hinteren Teil seiner Hose rumwühlt nur um das anale Vordringen der Finger sofort beschnüffelnd zu evaluieren. Trotz des physischen Abscheus, den er beizeiten in mir auslöst, ist er irgendwie ein Freund. Ich denke ja. Man lernt ja an vieles mit der Zeit schätzen und meistens oder fast immer ist er anders. Ich rede weiter nach dieser langen Pause mit angehaltenem Atem.

„Prag war völlig in Ordnung. Ich habe dort einige schöne wenn auch äußerst verwirrende Tage verbracht.“

„Soso.“

Ich starre auf den Plan. So lasse ich mir nichts einreden und Zeit dabei die Zigarette im Mundwinkel anzuzünden.

„Sie war jung, eine kleine Schwärmerei, völlig harmlos.“

„Was auch immer du sagst, Hannes.“

Jetzt brennt das elende Ding und ich blase den Rauch bis an den Plafond. Langsam trottet Dinetti auf mich zu, Dreck knirscht unter seinen Sohlen. Wie eine Lokomotive in Zeitlupe repetiert er Schritt um Schritt. Er malt sich einen Moment meine amourösen Abenteuer, lächelt klein und schief bis er mir ins Gesicht prustet.

„Dein Glück möcht ich haben. Du bist DER Mann. Weiber links und rechts, Respekt.“

Ich ignoriere das falsche Lob und versetze die Mauer Atom für Atom mit meinen in die Ferne schielenden Augen.

„Weißt du, irgendwie hat sich in Tschechien was verändert. Ich kann nicht mehr richtig denken. Als ob ich nie zurückgekommen wäre aus Tschechien, und jetzt suche ich dieses unsichtbare Etwas, dass mir zuvor noch nie gefehlt hat.“

„Hannes, bist du verliebt?“

Diese völlig gerechtfertigte Annahme ärgert mich und ich drehe mich zu ihm.

„Blödsinn, war ich noch nie. Wer fragt denn so was!“

Sein Wurstgesicht öffnet sich und dampft mir faulig entgegen.

„Wenn du ein Tetristeil wärst, welches wärst du?“

Einzelne blonde Härchen in Dinettis aufgedunsenem Gesicht zucken nervös. Ich kann auf dieses esoterische Rätsel hin nur meine Stirn in Falten legen. Er wedelt mit der Hand um den Zigarettenrauch aus seinem Gesicht zu treiben und ist auch schon verschwunden. So lässt er mich stehen. Ich gehe langsam zu dem vergilbten Schild auf dem die Hausregeln und Notausgänge des Hotels beschrieben sind. Zwei Meter vor dem Rahmen bleibe ich mit den Händen in den Taschen und zugekniffenen Augen stehen. Meine Lippen pressen den feuchten Filter der Smart zusammen und mir ekelt vor dem Nikotin- Speichelsaft der ausläuft. Notausgänge braucht hier keiner mehr.

Gut und Böse, für mich eine Frage des Arbeitsaufwandes. Gutes, das Produktive, das Uneigennützige also das ewig Altruistische zu schaffen verlangt viel Zeit und Ehrgeiz. Neben der Hauptressource in Form der menschlichen Nächstenliebe, setzt das Gute die Beschäftigung mit der darauf bezogenen Materie voraus. Es verlangt Hingabe zum Entstehenden. Wohingegen Schlechtes einfach passiert, in einem Moment, da kniet man dann vor den Trümmern, hilflos, wenn auch nicht zwingend schuldlos. Böses ist unüberlegt, schnell und gnadenlos. Einfach zu einfach. Beim Verlassen des „Demeter“ läuft mein Blick durch diesen gigantisch leeren und präapokalyptischen Vorraum und ich versuche mir schöne Metaphern auszudenken. Metaphern für die Parallelen, die mein Geisteszustand und die verdammten Bauruinen aufweisen. Wie bereits hunderte Male zuvor komme ich auf nichts Befriedigendes. Niemand braucht malerische Vergleiche von den „seelischen Fundamenten auf Schwemmland“ oder „den brüchigen, moralischen Säulen der Existenz“. Ich versuche mein Auto schnell aufzuschließen wobei mich leider mein Seufzen ablenkt. Wen interessiert denn Gut und Böse? Jammern ist meine Königsdisziplin.

Marleen, hörst du mich? Ich liege neben dir. Dein Rücken ist mir zugewandt und eng an meinen Bauch gedrückt. Ich bin nackt und du trägst lediglich meinen hässlichen, kratzigen, grauen Wollpullover. Ich schlafe und träume. Ich träume von Sex, nicht genauer definierbar. Vielleicht ist es Ani, vielleicht eine serbische Bulldogge. Der Inhalt dieses Traumes ist für immer verloren. Niemand wird jemals davon erfahren und nach meinem ersten Schluck Kaffee ist es wahrscheinlich nur noch der Funken eines Gefühls.

Ich öffne langsam die Augen und da ist sie plötzlich, mächtig und höchst eigenwillig. Niemand sah jemals eine solche Erektion. Sag, schlafe ich noch? Ich spüre wie die feuchte Hitze zwischen deinen Beinen lockt. Im geistigen Zwielicht penetriere ich. Oh, vermeintlich Schlafende, ich klebe auf dir und du drehst dich auf den Bauch. Da liege ich auf dir. Vier geschlossene Augen. Stille, nur Reibung. Die Stöße verändern mich. Das Tier gibt nach kurzer Zeit einen kleinen Grunzer von sich, ist noch einige Sekunden ganzkörperlich bebend und durchgestreckt über dir aufgebaut, mit dem Kinn in den Himmel gereckt und sich auf seine zitternden Arme stützend. Dann fällt es langsam in sich und neben dir zusammen. Wir schlafen weiter.

Früh morgens ruft Armin an. Er erzählt mir mitten ins Frühstück dass ein Kollege von mir aus der Firma sich beinahe aus dem vierten Stock seines Wohnhauses am Küniglberg gesprengt habe. Direkt im Reihenhaus gegenüber befindet sich zufällig Armins altes Atelier das mittlerweile nur noch als ein Depot fungiert. Er wohnt und arbeitet eigentlich in einer Wohnung am Ring. Armin sei nur in den Dreizehnten gefahren um sich einen größeren Fehldruck aus den Augen zu schaffen und im Privatdepot zu verstauen. Die Explosion habe wie ein Autounfall auf der Straße geklungen, meint Armin. Außerdem hat sie die Hand des Hobbybombers abgerissen. Die ganzen Gehwege seien voller Splitter gewesen, dort wo sonst die Kinder immer zur Schule gehen. Ich ließ ab von meinem Spiegelei. Rohrbomben?! Teils Sprengstoff und Ausstattung aus unserer Firma! Zwölf Stück und gebaut in den eigenen vier Wänden. Dieser untersetzte Freizeitterrorist wollte laut seinen eigenen Aussagen Detonationen unter Wasser untersuchen, draußen in den Teichen des Tiergartens. Das wurde jedenfalls erzählt als sich die Traube von interessierten Nachbarn und Menschen um den verschütteten Tatort samt dem schockverstummten Täter vergrößerte. Ich kenne das Gebäude und muss an das steril moderne Stiegenhaus der Millennium-Küniglberg-Wohnblöcke denken. Giftig blau leuchten die Lichtschalter an matten weißen Wänden. Keine Spur von optisch ansprechender Baustruktur, nicht eine Kante oder Zierde zu viel. Ein Bau wie der daneben und der daneben, aus einem Guss und sicherlich das Langweiligste seit Golfturniere. Ein neutraler Klotz mit Zimmern für Leute, die nicht wenig dafür zahlen, auf keinen Fall ästhetisch von ihrem Lebensraum angeregt zu werden. Während Armin erzählt stelle ich mir vor wie Armin sich im vierten Stock dem Wohnungseingang am Ende vom Gang nähert. Die hängt verdreht in den Angeln, Rußstreifen an den Mauern und ein Mann mit verkohltem Körper und blutenden Stumpf statt rechter Hand bricht taumelnd hervor. Der hilfsbereite Armin winkt am anderen Ende des Gangs zur Beruhigung. All das erzählt er mit seiner gelassenen weltmännischen Stimme und ich spüre kleine Spritzer Galle meine Speiseröhre hochschwappen. Ich bin zu perplex um mehr als Einsilbiges zu antworten. Ich weiß nämlich auch von wem er da spricht. Botschek heißt der Mann, der neue Assistent vom Kollegen Geissler und war eigentlich meistens in der Logistikabteilung. Der sprengt sich in Luft? Ich kenne ihn flüchtig, denn er wollte immer in mein Team und damit zur richtigen Feldarbeit. Diese Geschichte lässt wohl darauf schließen, dass seine Intentionen wohl nicht allzu professionell orientiert gewesen sein dürften.

Natürlich stolpert gerade Armin in die ganze Sache aus Versehen. Als ob er nicht genug spannender Abenteuer gesammelt hätte, es nicht reiche, dass er das Leben einer Romanfigur von Paul Auster führt. Er ist ja nur ein erfolgreicher Künstler, macht Drucke und Installationen, hat bereits diverse internationale Auszeichnungen erhalten, einmal mit dem Dalai Lama gefrühstückt, eine Zunami Katastrophe überlebt und in Afrika eine Frau vor dem Ertrinken in einer Kläranlage gerettet. Er ist in zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen. Das volle Programm, Scheidung der Eltern, die eigene Scheidung, Drogenprobleme der Geschwister und der eigene Alkoholismus. Das bildet Charakter. Ich musste natürlich in dieser nüchtern liebenden Familie aufwachsen, harmonisch und monogam. So habe ich mich zum durchschnittlichsten Menschen der Welt entwickelt. Blind wie ein Maulwurf bin ich durch die Welt geeiert bis heute und habe immer noch nicht die Sonne gesehen. Jedes Mal stehe ich Armins Fundus von Erfahrungen sprachlos gegenüber und kann nur Marleens langweilige Meinungen widergeben, da mir einfach nichts Spannendes passiert. Armin würde darauf wahrscheinlich ganz ausgefuchst antworten.

„Jeder bemängelt sein eigenes Leben, Hannes. Du hast auch schon verrückte Sachen erlebt.“

Und das mag durchaus sein, aber von ihm solche Worte des Trostes zu hören, ist pure Ironie. Wir sind die besten Freunde seit ich denken kann, und trotzdem hält mir sein verflucht spannendes Dasein immer mein eigenes mediokeres vor Augen. Es ist nicht unbedingt klassischer Neid, doch ist es Fakt, dass er durch seine Kunst anerkannt ist und er folglich mit gesellschaftlichen Vorzügen ausgestattet. Sein Wesen wie sein Verhalten sind dadurch gerechtfertigt und für andere Menschen sofort von ähnlicher Faszination wie sein Schaffen. Seine offene Art, das an sich unspektakuläre Ausmaß seiner Arroganz und die misanthropischen Anwandlungen dann und wann werden vom Gegenüber, dem Fan oder sonst wem, dann aber als exzentrische Besonderheiten interpretiert, als interessant, als Inhalt einer farbenreichen, sich im entstehen befindenden Biographie. Züge wie sie doch auch Picasso gehabt haben könnte. Ohne sein Talent wäre der auch nicht mehr als ein weiterer geiler, alter Wixer geworden. Talent ist eben das Stichwort. Ich kann mir keine Eskapaden erlauben. Ich arbeite für ein Abrissunternehmen, plumpe Arbeit, die wohl eher in die andere Richtung der ästhetischen Produktivität geht. Und das obwohl ich Kunst vergöttere. Das ist doch unfair. Ich habe keine Künstlerseele hinter der ich mich verstecken kann. Meine Anwandlungen von Exzentrik sind nichts Besonderes sondern nervig. Es gibt durchaus Personen, die mich um meine vernichtenden Möglichkeiten der Arbeit beneiden, doch deprimiert mich der Gedanke an diese nach Zerstörung geifernden Typen, siehe Botschek. Und wer macht mich auf diese tiefgehende Tatsache wohl auch noch aufmerksam, Armin ohne den ich wahrscheinlich kein einziges Mal einen schönen Gedanken zusammengebracht hätte. Mein erster Schluck Kaffee schmeckt bitter.

Armin erzählt weiter und von einer Ausstellungseröffnung irgendwo am Getreidemarkt und deutet ohne sich direkt nach meinen Terminen zu erkundigen darauf hin dass Marleen und ich auf der Gästeliste vermerkt seien. Etwas kalt lasse ich meine Antwort in der Schwebe, doch diese subtile Anmerkung kommt nicht durch bei ihm. Er kennt mich einfach zu lange und umgekehrt. Ich erinnere mich, dass wir Freunde sind, beschämt bereue ich meinen stummen, trotzigen Kommentar und bin froh jemanden wie ihn in meinem Leben zu haben. Manchmal bin ich nicht „das kleine ich bin ich“ sondern „das kleine ich wär’ gern“. Armin meint, dass er so gegen acht nach seinem Interview für den Standard direkt zur Ausstellung kommen könnte. Ich sage zu, räuspere, bedanke und verabschiede mich. Ein Interview und ein Bild in der Zeitung macht aus jedem Arschschloch ein Schokoladenfondue. Doch man muss einfach sagen, Armin ist echt, echt und gut, echt gut. Wenn er nicht randaliert finden sich in ihm Künstler und Mensch traumhaft in Symbiose. Wie ging dieses Zitat aus einem seiner älteren Interviews?

„Ich möchte diese konkreten Fragen hinsichtlich meiner Kunst nicht allzu genau beantworten, denn wenn ich das täte, müsste ich mich zuvor darauf besinnen was es eigentlich ist, dass ich schaffe, was ich dabei vielleicht richtig mache und dergleichen. Ich würde das gewisse Etwas das mich treibt dadurch zerstören, mich in Verallgemeinerungen verwickeln und schließlich mein Talent durch Selbstreflexion erdrosselt haben.“

Plötzlich frage ich mich, wie es wäre wenn meine Freunde und Kollegen über mich interviewt werden würden, und vor allem worin das mediale Interesse an mir läge. Nobelpreis oder Totschlag? Irgendwie erschreckend, dass nur eines davon wirklich in Frage käme. Plötzlich verbindet mich eine Form von Solidarität mit Botschek. Ich denke kurz daran ihn im Krankenhaus oder im Gefängnis zu besuchen doch der Gedanke ist schnell mit einem selbstverlachenden Prusten zerstreut. Ich rufe mit gespielt-gleichgültigem Ton durch die Wohnung.

„Marleen, heute gibt’s Gesellschaft!“

Wer zum Teufel ist das? Verdammt, der nickt jetzt schon zum zweiten Mal in meine Richtung. Es stehen hier dutzende Vertreter der oberen Zehntausend auf iranische Millionenteppiche. Alle sind in ihre Cocktailkleidchen und Sportjacken gerollt, die fetten Ärsche und Bierbäuche bezwingend und stehen öde im Empfangssaal der Akademie. Sie übertreffen sich gegenseitig geschickt im Interesse heucheln und scheinen ganz heiß auf ein nettes Schnattern. Warum muss der Fremde gerade mich aussortieren. Mit Freude würde das christlich-soziale Prachtexemplar politischer Inkompetenz neben mir jemanden die riesigen Stücke Lachsröllchen ins Auge rotzen, die ihm im Mundwinkel kleben. Auch bietet sich die spannende Möglichkeit sich der kulturellen Elite auszusetzen, miteinander Zwieback und Kohlrabi am Vorderzahn zu schaben und vielleicht eine Diskussion über die beschränkten Einrichtungsmöglichkeiten für Sushi-Restaurants anzuzetteln. Schreit dies alles nicht förmlich nach kommunikativen Opfern für diesen kleinen Mann? Er winkt mir nun definitiv zum zweiten Mal. Ich bleibe weiter im Hintergrund erfahrungsgemäß ausgerüstet mit einem Sektglas voller Wodka-Martini. Die einzelnen Gespräche zwischen den alten Bekannten genieße ich mit von sicherer Entfernung. Ich wollte heute unberührt von hirnverbrannten Gesprächen bleiben, doch zur Zeit bin ich ohne Deckung. Marleen war schon früh verloren gegangen, wahrscheinlich irgendwo schrill kichernd in den oberen Schauräumen. Armin wird verschluckt von einem Sumpf aus Glückwünschen. Das Gespräch mit dem „großen“ Unbekannten wird nahezu unausweichlich. Kenne ich dich? Kein Ausweg in Sicht. Es gibt ja Tricks Namen im Gespräch aus dem Weg zu gehen. Ein Plan entwickelt sich innerhalb Hundertstel von Sekunden. Eine freche Offensive ist nun der einzige Ausweg. Ich setze ein flatterndes Gesicht auf als ob ich den mir vollends Unbekannten erst jetzt erkannt hätte. Erst hebe ich die flache Hand hoch über den Kopf und lässig schwanke ich auf den kleinen, blonden Winker zu, welcher übersinnlich zu Grinsen beginnt. Ich stürze mich ins soziale Gefecht.

„Servus, wie geht’s? Schön Sie zu sehen.“

„Hey Hannes! Danke, alles klar bei mir. Gestern gerade zurückgekommen aus Südamerika, Peru, Alter. Das war bewusstseins-erweiternd.“

Natürlich bin ich mit dem Winkenden im weißen Billabong-Pullover per Du. Nun weiß ich nicht wer da vor mir steht und habe auch nicht die leiseste Ahnung wo, wie lange und vor allem warum der Kollege auf Reisen war. Die einzig geniale Antwort formt sich zäh wie Torf.

„Ach… und, war es schön?“

„Naja, du weißt, dort ist alles irgendwie anders. Aber über so lange Zeit verändert man sich dann auch. Man weiß am Ende gar nicht mehr wer man ist. “

Großes Gelächter. Gott, will ich hier raus, doch ich bin mitten im Satz.

„Und gleichzeitig lernt man sich aber über das Fremde selbst besser kennen.“

„Ja, es klingt vielleicht abgedroschen, aber du hast völlig Recht.“

Hauptsache du nickst. Aber was rede ich denn da bitte? Ich weiß nicht wer du bist! Du bist der Fremde, du elender durch-den-Raum-Winker. Vielleicht verwechselst du mich mit jemand anderem! Das wäre köstlich absurd. Zwei Leute unterhalten sich mit persönlichem Tenor alter Freunde und haben sich in Wirklichkeit noch nie gesehen. Höflichkeit gone mad. Egal, es folgt mein semi-intellektueller Gegenschlag.

„Ja, natürlich, von den politischen Umwälzungen und der Armut bekommt man als dick gefressener Mitteleuropäer ja oft gar nichts mit.“

Höre nicht hin, mein Hirn! Ich komme ins Stocken als sich ein verwirrter Ausdruck in seinem Gesicht breitmacht! Oh Gott, vielleicht war er ja im Dschungel um mit Naturvölkern zu leben oder auch mit der reichen Familie im privaten Kokainpalast bedient von lobotomierten peruanischen Sklaven. Keine Ahnung was der in scheiß Südamerika macht. Bevor dieser kommunikative Drahtseilakt ins Schleudern gerät bemerke ich dass mein guter Freund Armin frei steht. Er ist das Nitroglycerin jeder gesitteten Diskussion. Ich sehe meine Chance mit ihm diese ermüdende Heuchelei zu beenden, denn es gibt keine Konversation die Armin nicht inhaltlich zerlegen, entkontextualisieren und letztlich wie ein verletztes Junges an sich reißen könnte. Ich packe ihn am Arm und schiebe ihn quasi dem kleinen fremden Winker in den Hintern.

„Hey Armin, du auch hier?“

„Das ist meine Vernissage, du Ei.“

„Na dann, kennst du unseren lang vermissten Südamerikaner schon?“

Sie wären zusammengeführt, ich mache eine Pause und bete, dass der Zwerg sich von alleine vorstellt. Doch Martin zerstört mein wackeliges Konstrukt neurotischer Höflichkeit.

„Na logisch, wir haben uns gestern schon beim Aufbau gesehen. Er hat dich übrigens die ganze Zeit schon gesucht, Hannes, gibt ja viel zu erzählen, nicht war? Ich muss kurz mal aufs Klo. Bis später.“

Die Pest soll über dich kommen. Wieder stehe ich mit der Augenbinde vor der durchlöcherten Wand. Armin, der schon zwei Stunden lang mit meiner Mutter über Geburtsschmerzen diskutiert hat, dass Frauen da nicht übertreiben sollten heutzutage mit Kreuzstich und allem, lässt mich hier stehen mit einer menschgewordenen Repräsentation meines asozialen Selbst. Der Moment, so nebenbei nach dem Namen zu fragen, ist in ungreifbare Weite gerückt. Was passiert hier? Ist mein Hirn so kaputt? Ich habe keine Ahnung wer da vor mir steht. Ich klammere mich an einen Strohhalm. Rückzug.

„Ich muss auch weiter. Meine Freundin brennt mir sonst noch mit einem anderen durch, du verstehst.“

Stupse ich tatsächlich gerade scherzend mit der Faust an seine Schulter?

„Die Marleen? Sag ihr alles Gute.“

Er kennt mein Mädchen? Und er weiß tatsächlich von ihrem Geburtstag morgen? Jetzt zweifle ich langsam wirklich an meinem Geisteszustand. So kann das nicht enden. Egal, ich hol mein letztes Ass aus dem Ärmel, beziehungsweise mein Mobiltelefon aus der Tasche. Jetzt will ich die Wahrheit!

„Weißt du was, ich glaube ich hab deine Nummer gar nicht… mehr.“

Ich halte ihm meinen japanischen Kommunikator hin.

„Schreib sie mir doch kurz rein. Ich hol mir noch ein Bier.“

Er nimmt das Telefon, geschafft. Mit zwei Bier komme ich zurück und er hält mir seine Nummer samt Namen hin, direkt vor mein angespanntes Gesicht. Gerald. Die Enttäuschung ist schwer zu unterdrücken. Ich habe mir schon etwas spannender klingende Identitäten ausgemalt wie Moses oder Balduin. Aber Gerald bleibt Gerald. Ich habe immer noch keine Ahnung wer dieser Idiot ist, doch nun hab ich die Oberhand, drücke ihm gönnerisch eines der Biere in die Hand, verabschiede mich mit einem selbstgerechten Nicken und wurschtle mir elegant einen Weg durch die Leute. Nichts kann mir noch passieren. Ich kann sogar später noch erzählen ich hätte Gerald getroffen, der jetzt aus seinem Südamerikaaufenthalt zurück sei. Das perfekte Verbrechen. Fein raus.

Schon erschreckend, Ich bin derartig oft mit mir selbst beschäftigt und mit irgendwelchen analytisch-emotionalen Resümees, dass ich mir keine Namen oder Gespräche mehr merken kann. Meine nach außen gerichtete Wahrnehmung schaltet sich zu oft auf Stand-By. Das starke Trinken und die Paranoia kümmern sich dann um den Rest. Wie hieß er nochmal, Georg? Jedenfalls wird das zu einem ernsthaften Problem. Bald geht es mir wie Armin vor fünf Jahren als er in die Klinik musste, Gott bewahre. Und alleine der eben vollzogene ewige Gedankengang bestätigt mir meine Vermutungen, also dieser sich selbst. Wie bin ich jetzt plötzlich zum DJ-Pult gekommen? Vielleicht ist es auch besser so, den gesamten Speicher richtig formatieren. Die Leere würde mich sicher auch ruhiger schlafen lassen. Nun denn, ich brauche dringend einen Drink. Auch wenn es wieder eine Weile dauern wird bis ich vergesse wer ich bin.

Um mich herum brennen die letzten Zigaretten langsam ab, Ascheflöckchen umkreisen mich während meine beiden Händen taumelnd versuchen den schmerzenden Schuh auszuziehen. Ich bin mir fast sicher einen Kieselstein am großen Zeh zu spüren. Armin lehnt neben mir am leeren Buffettisch und hat selbigen betrunkenen desorientierten Blick aufgesetzt wie ich. Er schenkt meinen Verrenkungen keine Aufmerksamkeit, nur die letzten Besucher der Ausstellung verdienen seine kritischen Musterungen. Der Störenfried im Schuh stellt sich als eine zu dicke Naht am Sockenende heraus und perplex versuche im blubbernden Rausch zu verstehen was das nun für mich bedeutet. Armin rutscht mir der lehnenden Handfläche an der Tischkante ab und knallt mit dem Ellbogen in die Hors d’oeuvre.

Ein bekannter Wiener Baumeister watschelt mit seiner neuesten weiblichen Errungenschaft auf uns zu und kichert ins sein importiertes Kölsch. Die Begleiterin, der im wahrsten Sinne des Wortes die Dummheit aus dem Gesicht schreit stellt sich mit einer sehr unangenehm quietschenden Stimme vor. Obwohl ich immer noch beschäftigt bin mir den Schuh überzustreifen glaube ich zu hören wie sie erwähnt nie Pornos gemacht zu haben und dies unterstreicht mit einem gellenden Lachen, das an einen pubertierenden Elch erinnert. Der Baumeister prahlt brabbelnd mit seinen Autos und seinen neuesten Anschaffungen für eben jene. Armin scheint wie aus Geduld geschnitzt und lässt alles über sich ergehen, antwortet freundlich, lacht an den richtigen Stellen und nicht dann, wenn sich die beiden Einzeller selbst bloßstellen. Wie kann er auf solch banales Geschwafel überhaupt eingehen. Ich könnte das nicht. Das Ding ist, ich weiß genau, dass er kein Heuchler ist, und er verkauft sich nicht, auch wenn ich ihm das des Öfteren spaßhalber schon vorgeworfen habe. Auch er ist diese Etikette leid und geht nickend durch eine geistlose Hölle. Doch er ist schlicht und einfach höflicher als ich, höflicher als ich es jemals sein werde. Wieder etwas was ich irgendwie beneide. Das glückliche Paar zieht sich zurück wahrscheinlich in ihre Protoplasmatanks um vor immer zu Leben.

Armin und ich dringen bis in die Räumlichkeiten des harten Kerns der Kunststudenten vor. Armin und ich sitzen zwischen Tonnen von Gesichtsbehaarung und machen uns einen rechten Spaß aus deren hitzig geführten Debatten über politische Ideologien und ihren Einfluss auf den „kreativen“ Prozess. Wixer. Irgendwo höre ich wie eine Unterhaltung über VALIE EXPORT eine Drehung ins Nichts macht und plötzlich geht es darum dass Kreisverkehre dem einen zu kommunistisch seien. Ich habe verlernt Zynismus zu identifizieren und habe meistens keine Ahnung was geredet und ob es ernst gemeint wird. Einer behauptet, dass immer noch die konservativen Mächte des Landes die Freiheit beschränken und sich in das kulturelle Blühen der neuen Talente einmischen. Armin jault nach einem dankbaren Schluck aus der ein Liter Jägermeisterflasche kurz auf und meint:

„Ohne diese sogenannte konservative Elite könntet ihr alle scheißen gehen! Wo kommen die Kunstförderungen denn her? Aus der Nougat- und Küsschen Kasse der VöST-Arbeitervereinigung, nein, diese schwabbeligen BAWAG-Lobbyisten sind es die eure Lofts zahlen. Wir alle können uns glücklich schätzen dass die Superfundzombies und die anderen alt eingesessen Geldtitten unseres Staates in Österreich bleiben und dabei noch das Verlangen danach verspüren, sich mit Kunst zu umgeben. Einmal abgesehen davon dass sie bei den Ausstellungen auf sündteure Trüffelöle bestehen und Unmengen der edelsten jahrzehntealten Cognacs vertilgen. Das bedingt sich gegenseitig. Man braucht schließlich beim Fressen auch was Nettes zum Anschauen nicht wahr? Dafür male ich heutzutage meine Bilder, nur dafür. Verdauungsfördernde Kunst. Das Schlimme ist, dass die Hälfte dieser einflussreichen Säcke sogar selber mal in diversen autonomen Strömungen mitgemacht hat: Punks, Aktionisten, Volvofahrer, Hippies, Dadaisten, Pillenpioniere, Swinger und Antichristen. Ja und jetzt sind sie alle gesetzt und beweisen viel Ahnung wie man bei der endlosen Parade an Kunst- und Filmeröffnungen verbal verdaut. Die alten Wilden wandern doch auch nur mehr von Buffet zu Buffet. Gott sei es gedankt falls ich es einmal soweit schaffen sollte, und lasst mich umgehend an Stacheldraht ersticken. Nein, schaut euch doch an! Freundschaft? Das heißt heute Facebook. Ihr präpotenten Affen hängt Mama noch am Busen mit einer inexistenten Revolte, ihr Pseudoanarchisten mit Bausparvertrag. Gegen was wollt ihr rebellieren? Die schlimmen Kunstmörder tragen euch doch alles nach! Und ihr redet von Beeinflussung?! Glaubt ihr in Libyen gibt’s eine Akademie für angewandte Kunst oder ein MUMOK im Kongo? Ihr müsstet dem einen, dem Obmann, den gestopft reichen, von dort und da samt seiner weltfremden Gummifrau eigentlich die Füße küssen. Die sind es die euren Müll kaufen. Ihr habt ja wirklich gar keine Ahnung. Bitte, bitte seht euch im richtigen Maßstab, meine Freunde. Ihr macht keine Kunst… ihr macht Kunst in Österreich!“

Armin stemmt gegen die Tischkante und bricht fast wieder zusammen beim Versuch aufzustehen. Der hochrote Kopf, die abstehenden schwarzen Haar und sein zerlumpter Anzug, eng wie ein Überbleibsel vom Firmunterricht, erinnern nun sehr stark an einen tragisch gescheiterten Maler, doch ich sage nichts. Er würde es lieben und nur weiter Plattitüden in die entsetzten desillusionierten Gesichter der Kunststudentenelite brüllen. Er stützt sich auf mich und hustet mir einsilbig und ungehalten ins Ohr.

„Hannes, ich fühle mich alt, so alt. Niemals werde ich so alt aussehen wie ich mich fühle. Bitte lass uns gehen.“

Kurz nach dem Verlassen des Depots durch den unteren Ausgang, Richtung Lehargasse sehe ich Marleen auf uns zu stöckeln. Jetzt erst merke ich, dass sie den ganzen Abend hindurch verschwunden war. Bevor ich eine schlechtformulierte Frage samt Fahne an sie richten könnte, knattern ihre lallenden Vorwürfe auf mich herein. Ich habe offensichtlich einen gewissen Gerald komisch behandelt und um Mitternacht war ich am Klo statt bei ihr bereit für den Geburtstagskuss. Eigentlich grinst Armin, aber er muss sich mit ganzer Kraft an mir festkrallen um sich vom gestörten Gleichgewichtssinn nicht übermannen zu lassen. Wie lange sie nicht schon beim Wagen wartet? Keine Ahnung! Was wir denn immer für Blödsinn machen? Wieso Blödsinn? Irgendwie sieht sie seltsam aufgesetzt aus, die verärgerte Stimmung der lieben Marleen. Auch ihr ganzes Erscheinungsbild scheint so zerwühlt, sodass ich die ganze Heimfahrt über still ihr Profil zu lesen versuche und etwas wie ein winziger Verdacht aus meinem Rausch erwächst. Bevor die volle Paranoia einsetzt schlafe ich am.

Ich schreite aus dem Haupteingang einer Boutique der Hölle bis zum Platzen voll mit guten Vorsätzen. Mit sicherem Schritt des Erfolgs und einem tausend Euro Kleid unterm Arm walze ich durch die Straßen der Altstadt. Meine Beziehung ist quasi gerettet. Jedoch, es sei Anlass zur Vorsicht geraten, denn heute wird Marleen dreißig Jahre und ein kleiner organisatorischer Fehler, ein vielleicht unüberlegtes Wort oder überhaupt ein kleiner Temperatur- oder Stimmungsschwank könnte das Ende des Fortbestands der Welt so wie wir sie kennen bedeuten. Ich übertreibe… vielleicht. Ich will dieses Prager Frühlingserwachen hinter mir lassen. Auch ohne Geständnis soll mir dieses Mal noch verziehen sein. Natürlich bilde ich mir jetzt auch ein, eifersüchtig sein zu müssen, weil die Schuld meiner Denknudel die abnormsten Streiche spielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemanden wie mir etwas derart Außertürliches passiert wie eine Affäre, lässt natürlich den Gedanken, dass mir meine hübsche Freundin treu geblieben sein sollte, als völlig irrsinnig erscheinen.

Nein, so etwas würde Marleen niemals tun und trotzdem war ich gestern besessen davon. Aus einem kleinen Fleck in meiner Vorstellung der einer Mücke glich, bastle ich mir etwa tausend Elefanten. Auch jene feigen Gedanken neulich im Zug sind doch nichts mehr als flüchtige Katerphantasmen. Vollkommener Selbstbetrug. Über Nacht verliebt man sich nicht in ein slowakisches Mädchen. Einverstanden? Meine Marleen hat heute Liebe, Sensibilität und den aufwendigsten Grad an Zuwendung verdient. Ich werde mich bessern. Keine Exzesse ohne meine Schönste. Sie wird mein neues Ich wie ein wohltuendes Summen in sich aufnehmen. Endlich in einer perfekten Beziehung. Ich bin jetzt bereit dafür. Götter der Liebe werden sie uns nennen, glücklicher als Lottomillionäre und schön anzuschauen wie Gazellen. Die Zeiten der laschen Zuwendung und emotionalen Embargos sind vorbei. Ab heute teile ich mit Marleen das Leben und zum ersten Mal lasse ich mich darauf mit ganzem Herzen ein. Die Dinge scheinen klarer zu werden, der Horizont ist wolkenlos und ich gefährlich emotional.

„Ich möchte Schluss machen.“

Das war durchaus verständlich formuliert von Marleen und trotzdem halte ich ihr immer noch das Geschenksäckchen hin. Die Temperatur in unserem Eingangsflur scheint nun auf arktische Grade zu fallen. Langsam lasse ich dann doch die Arme sinken, das Chanel-Kleid entgleitet meinem Fingern ganz und ich habe keine Ahnung wie ich jetzt reagieren soll. Mein Blick haftet scharf auf der antiken Kommode, aber auch die weiß keine Lösung. Marleens Intonation war schließlich so gewählt, dass es mehr nach einem Vorschlag klang, zwingend, doch vielleicht bloß ein Angebot. Kann ich einfach meine Meinung beisteuern, einfach Nein sagen? Äußerst kultiviert von ihr, diesen Schlag ins Gesicht in eine Andeutung von freien Willen zu verpacken. Tatsächlich bin ich nun diplomatisch überrumpelt auf die Schlachtbank genagelt. Ich sammle meine gesamten rhetorischen Kräfte.

„Ja, warum denn?“

„Hannes, schau, ich komme mir seit langem echt böse vor, wie eine Art Betrügerin oder so. Ich will kein schlechtes Gewissen mehr und mir endlich selber wieder ins Gesicht sehen können!“

Wieso Betrügerin? Was meint sie damit? Marleen spricht in abgehakten, gepressten Einheiten, als ob sie sich an die Zeilen eines vorbereiteten Gedichts erinnern müsste. Nur Schillers Glocke fiel ihr sicher schwerer.

„Sag mir bitte einfach was du meinst, Marleen“

„Keine Ahnung. Es bot sich einfach an die Dinge unausgesprochen weiterlaufen lassen, unsere Arbeit, die Routine, die Geheimnisse …“

Die Geheimnisse?

„Außerdem sind wir auch so früh in unserer Beziehung in die gemeinsame Wohnung gezogen. Es hat ja auch lange funktioniert, aber du hast das auch nicht länger verdient. Du bist mir echt wichtig, Hannes, aber niemand von uns beiden sollte weiter leiden.”

„Moment! Ich leide nicht. Ich habe nie gelitten.“

„Ich habe ein Verhältnis! So, das ist es. Das musste raus.“

Das musste raus? Gratuliere, du noble Heldin des Verrats, das klingt ja nach einer enormen Erleichterung für dich. Wie wäre es mit einem großen Früchteeis zur Feier des Tages nach diesem deinen enormen emotionalen Schritt vorwärts? Ich muss was sagen.

„Ach.“

Marleens Körpersprache deutet nun unübersehbar darauf hin, dass sie schnell möglichst ihre vorbereitete Ansprache beenden möchte. Der Blickkontakt wird als erstes abgebrochen. Sie will wohl ungestört mit ihrem Geburtstagesablauf fortfahren und ohne mich wie es scheint. Diese eiskalte Taktikerin! Sie liefert nun gnadenlos die harten Fakten.

„Er heißt Ilay und kommt aus Haiti. Wir treffen uns seit fast einem Jahr regelmäßig.“

Dort schlug er ein, der Komet der Schmach. Ein Krater ist geschlagen dort wo sich früher mein Stolz befunden haben könnte, wie Forscher spekulieren.

„Du warst die ganze Zeit dermaßen ahnungslos, und ich konnte es dir aus Mitleid nicht gestehen. Dann kamen deine Auslandsaufenthalte, fast wie bestellt. Himmel, ich wohne teils schon bei ihm. Wir haben Pläne, und kurzum, jetzt liebe ich Ilay. Ich weiß, das klingt furchtbar, aber du hast mir, mitunter gestern, wieder bewiesen, dass das es nicht funktioniert. Ich bin kein Kindermädchen.“

Lerne ich denn ständig die gleiche Art von Frauen kennen? Nicht zwingend die Gleiche, doch jeweils immer eine Weiterführung desselben Typus in verschiedenen feminin-brutalen Entwicklungsstufen. Die allererste Freundin mit den hypersexuellen Neigungen spiegelt sich sechs Jahre später in der Liebschaft mit einer psychisch leicht vorbelasteten Norddeutschen wieder. Und auch das erste durch frühreife Ablehnung gebrochene Herz in der Pubertät schmerzt doch ähnlich wie der eben entdeckte Betrug. Es ist derart vertraut und macht gleichviel traurig dass ich bis heute niemals richtige Liebe gefunden habe. Und das Schlimmste ist, immer wenn ich mich entscheide, nach vorhergehenden inneren Unsicherheiten, mich endlich auf eine Beziehung einzulassen, mich zu Reife und Ernst durchringe, bohrt mir das Liebesleben die Ellbogen in die Nieren. Ich hatte das alles schon! Man denkt man wäre darüber hinaus, der große Erfahrungsschatz, den man durch die Jahre errungen hat, würde einen beschützen oder abgehärtet haben, aber hier stehe ich gebrochen, schwer in Regression und möchte meiner Mutter die Schuld geben. Wie erbärmlich ich stumm und zuckend vor der Mörderin Marleen stehe. Und sie glaubt tatsächlich weitersprechen zu müssen.

„Ilay ist sehr erfolgreich im Export tätig. Er besitzt glaube ich sogar zwei internationale Speditionen. Er hat mir versprochen dass er mich mitnimmt nach Port-au-Prince.„

Ich muss sie unterbrechen auch wenn ich resignierend klinge.

„Was um alles in der Welt lässt dich denken dass ich das hören will? Versucht du mich derart mit seinem beruflichen Erfolg zu blenden, dass ich vergesse um was es hier eigentlich geht und ich mit ihm Squash spielen gehe? Vielleicht kann ich ja ein paar gute Tipps zum Spekulieren an der Börse erhaschen. Ja, er klingt traumhaft der Ilay, und eine Spedition hat er, sagenhaft! Weißt du was, ich habe in Prag mit einer sechszehnjährigen Tschechin geschlafen und ich glaube fast, obwohl ich sie ziemlich sicher nie mehr Wiedersehen werde, ich habe mich im Zeitraum eines Abends mehr in dieses Mädchen verliebt, als mir jemals möglich erschien. Mehr als ich jemals für dich empfunden habe, mehr als ich jemals für dich empfinden könnte.“

Sie rollt ihre Augen!

„Ach Hannes, das sagst du jetzt aus welchem Grund auch immer, und klingst dabei so… erbärmlich. Ich glaube dir die Geschichte doch ohnehin nicht, und mich jetzt billig verletzten zu wollen ist doch äußerst, naja, sagen wir Kindergarten.“

Kindergarten? Zeit zu plärren.

„Du hast mich gerade verlassen für irgendeinen Arsch, den du länger kennst als meine Eltern! Erst hab ich das schrecklichste Gewissen, quäle mich meine Zuneigung für dich wiederzubeleben, kaufe dir als Zeichen des neuen Anfangs einen scheißteuren Fetzen und jetzt glaubst du mir nichts davon. Schön hast den vorbereitet, deinen fliegenden Übergang. Leider muss man mir armen Idioten das jetzt noch klarmachen, ach, die Strapazen die man auf sich nimmt für eine Luxusaffäre. Ja klar, man muss an die eigene Zukunft denken. Sag, aus welchem Teil der Hölle kommst du überhaupt?! Im Exportgeschäft liegt die verdammte Zukunft. Natürlich, gehen wir alle nach Haiti!“

Meine Schläfen pumpen Magma. Ich spucke beim Schreien Gallefäden teils mit Absicht.

„Ich glaube das nicht, Marleen. Ich kann es nicht glauben. Da stehst du so frisch und lässig. Du bist schließlich eine aufgeschlossene moderne Drecksau, du hast den Überblick, Baby, denn Emotionen sind die Abfallprodukte des Lebens. Die zahlen sich nicht aus. Du reißt mich ab wie ein stinkend vollgesogenes Pflaster nach dem Baden?! Ist es wenigstens schmerzlos für dich? Bitte sag Ja. Du machst nicht kündigst wie eine überarbeitete Sekretärin. Aber Hauptsache du kannst auf deine verschnöselten Fashion-Feste gehen, weiter deine vorderen Hirnlappen zerkoksen und mich nur Fair-Trade Kaffee trinken lassen. Ich habe für dich um die zehn Sportarten angefangen und wieder aufgebgeben, meistens gerade wenn ich Gefallen daran gefunden hatte. Du berechnende, elende… dabei wollte ich… Wer verletzt hier billig? Du verletzt hier billig!“

Eigentlich lustig. Es tut richtig gut rumzuschreien. Hab total den Faden verloren und während Marleen sich ihre Schuhe anzieht beschimpfe ich sie jetzt einfach nur noch aufs Derbste. Jetzt weiß ich jedenfalls, warum sie so nett war am Bahnhof. Da standen wir einander gegenüber und innerlich waren wir beide derart mit unseren Affären beschäftigt ohne zu merken, dass wir beide Flaschen sind. Man müsste umgehend Gedankenlesen lernen. Ich glaube ich würde vor Lachen sterben.

Sich missverstanden fühlen und die daraus resultierende Rebellion sind wichtig für die Entwicklung eines Individuums und dessen Individualität. Das ist wahrscheinlich der ganze Sinn an der Pubertät. Es verlangt viel Streit, unfaire Behandlung und einem Batzen Egomanie bevor man klarere und reifere Gedanken zu formulieren vermag. Irgendwann sollte man diese eigenbrötlerische Welt hinter sich lassen, seine präpotente Paranoia in den Griff bekommen und sich eher in die andere Richtung aufmachen, ins Verstanden werde, ins Verstehen. Auch das ist essentiell für die gesunde Entwicklung des Geistes. Von einem solchem scheine ich mich mittlerweile weit entfernt zu haben. Ich werfe meiner Exfreundin fluchend Schuhlöffel durch das Stiegenhaus nach. Dann höre ich noch einen letzten vernichtenden Aufruf aus dem Mezzanin tönen

„Und am Montag will ich dass du ausgezogen bist!“

Man müsste zur richtigen Zeit das richtige Stereotyp verkörpern. Es spielt keine Rolle mehr wer man denn nun wirklich ist. Ich war doch nur das was sie haben wollte… Das heißt wohl momentan bin ich auf Eis gelegt. Mein Wesen vorübergehend nicht konzipiert. Sie will mich ja nicht. Es wird mir gesagt ich solle einfach ich selbst sein, doch um ehrlich zu sein halte ich das für viel zu problematisch. Mir solche Wesensfreiheit zu nehmen könnte sich als gefährlich erweisen. Was würde ich plötzlich alles über mich realisieren, wenn ich zur Abwechslung mal ich selbst wäre. Ganz ehrlich, bei diesem Gedanken graut mir vor den schieren Möglichkeiten. Der ganze Frust und Hass und diese bodenlose sexuelle Geilheit freigelegt durch unbedachte Natürlichkeit. Keiner würde meine Anwesenheit nur für eine Sekunde ertragen wenn ich ich selbst wäre. Marleen wäre vor allem mittlerweile in der Luft zerrissen worden, wortwörtlich.

Das Handy fiept in zehnminütigen Abschnitten und ich sehe fern um den Anschein von Stabilität zu wahren. In Wirklichkeit flimmert die gesamten Misserfolge meines Lebens vor dem geistigen Auge und die Doku über den ersten Weltkrieg an der französischen Front nehme ich kaum wahr. Gestern wurde ich verlassen und heute muss ich packen. Es hat eigentlich wenig Sinn sich dermaßen zu ärgern, doch schießen jetzt pausenlos die Bilder von demütigenden Liebesdingen durch meine Sinne. Mein Tag ist mittlerweile durchzogen von kurzen Pausen entgeisterten Starrens. Filme mit der immer gleichen Dramaturgie und den sich ständig wiederholenden Einrücken führen dazu dass meine Mimik sich zusammen presst. Mein saures Gesicht implodiert. Ich erinnere mich beschämt an einen unerwiderten Kuss vor meiner Volksschule und heißes Blut fährt mir in die Wangen. Für die Menschen um mich, wenn da welche wären, erröte ich grundlos. Ich bemitleide mich oft zu einem unmenschlichen Ausmaß und halte mich für ach so unannehmbar, doch dieser nicht-enden-wollende Strang an Motiven meiner Unzulänglichkeiten ist fern ab von gesunde Selbstkritik. So sammelt er sich an, der hyperemotionale Komposthaufen aus Scham und Neid. Man erschauert im Ganzen wenn dann und wann ein Hauch jenes modrigen Gestanks wieder ins Bewusstsein weht. Überhaupt wiederspricht meine Art und Weise mich an Dinge zu erinnern dem eigentlichen Zweck. Keine vertraute Strecke aus Erfahrung wird abgerufen sondern Gedanken wummern unzusammenhängend, betäubend stark und ausschließlich visuell. Es sind Momentaufnahmen des vergangener Räume und Gesichtern versetzt mit einem emotionalen Blitzgewitter, Berührungen, Stimmen und einzelne Wörter. Jedoch erweist sich die informelle Deutung oder zeitlich präzise Platzierung dieser Momente meist als unmöglich. Nach längeren Zeiträumen wird dieser Sumpf aus Erinnerungen immer verzerrter gar mystisch im Zusammenhang.

„Der Brief eines Soldaten im Elsass 1915 liest folgendes. Der Deutsche ist ein furchtbarer Gegner, gelenkt von eisernem Willen. Keinesfalls sollte man ihn unterschätzen.“

Die hatten es auch nicht leicht. Wie tief kann man sich eigentlich in sich selbst verlieren? Und ab wann wird dieses apathische Sofakoma geistig gesundheitsschädlich? Manchmal mischt sich meine Traumwelt in diesen Akt der Existenzverwirrung. Es fühlt sich an als ob ganze Abschnitte meines Lebens verfälscht werden. Wer weiß ob meine schönsten Erinnerungen nicht das Produkt vergangener Schlaffantastereien sind, mein Hirn mir zur Beruhigung aus Mitleid ein paar wärmende Schwärmereien vorgelegt hat. Ich sehe Ani, wie sie sich ihre Siebensachen abstreift, Höschen und Strümpfe. Geplättet liege wieder im Bett vor ihr, bin fassungslos und so unbeschreiblich glücklich. Oder ist diese Erinnerung auch schon mutiert. Ist das alles wirklich passiert? Um den Horror zu vertreiben nehme ich den Anruf entgegen. Man verlangt nach mir in der Fremde.

Kapitel — Vor der Flucht

Senf- und Maggiflecken feiern auf den rotweißroten Tischtüchern Geburtstag. Ein Alleinunterhalter singt Reinhard Fendrichs „Macho Macho“ beim opulenten Gartenbuffet am Prater und zwinkert mir dabei zu. Anscheinend sieht er in mir ein Prachtbeispiel des besungenen Typus was mir unangenehm aufstößt ohne etwas gegessen zu haben. Ich wurme mich schnell weiter durch die Bierbänke vorbei an den verschwitzten Rücken, die über unverdaulich angefüllten Grillteller buckeln. Dinetti sitzt am Tisch in der Mitte des Gastgartens umringt von sommerstimulierten Touristen und Studenten, alle überreizt und laut. Eine äußerst unangenehme Platzierung hat er gewählt, wie mir scheint, doch offenbar sitzt er mit voller Absicht im Zentrum des Fleisch- und Schlagerchaos. Oder ist es der letzte freie Tisch. Der Sachverständige sollte dann auch bald kommen. Dinetti kann ich dann nicht mehr brauchen. Ein Nicken muss als begrüßendes Signal reichen. Im Vorbeigehen überhöre ich ein Gespräch zweier äußerst dicker Steirer die mehr oder minder Kristallzucker als den Antichristen proklamieren. Scheinbar macht die Regierung einem auch das bewusste Essen unmöglich. Ich beschleunige meinen Schritt um dem Pleonasmus dieser Situation zu entfliehen. Dinetti ist der König aller Vollproleten. Seine goldenen Ringe und Ketten schimmern durch die dichten schulterlangen Haare, und denen auf Brust und Fingerknöchel. Seine knochige Stirn glänzt fröhlich und gebräunt in der Pratersonne. Zwischen Vollbart und den schwarzen Locken sitzt eine pinke Wayfarer. Die dichten Kotletten und der Goldzahn harmonieren heute besonders schön mit dem Ruderleibchen und den kurzen, selbst schief zugeschnittenen Jeanshosen. Er raucht Memphis und Flip Flops runden das Spektakel gelungen ab. Sein rundum zufriedener Ausdruck thront wenig proportional auf drei Schichten Torso die im Takt seiner wilden und aufgesetzten Gestik tanzen. Bier schuf diesen Körper. Sein schmaler Kopf, die Hühnerbrust und seine schlaksigen Glieder erwachsen aus dem kugelrunden Bierbauch. Er winkt mich zu sich wie einen Kellner und grinst. Ich lasse mich herab und vertiefe mich uninteressiert in die Speisekarte. Während ich ihm leise von meiner Trennung erzähle schnappt ein Überschallkellner meine Spritzerbestellung auf. Dinetti atmet tief ein und für die paar Sekunden die er benötigt einen Gedanken zu fassen hält er die Luft an.

„Erlach, es ist besser so. Sie war zu dünn. Außerdem wenn sich eine ständig nett und interessiert gegenüber jedem Menschen verhält wie sie, muss das doch einen Haken haben. Eine unberechenbare nervöse Henne, die dich mit ihrer weltgewandten Art ständig klein gemacht hat. Sei froh, dass noch was übrig ist von dir. Wenn ich dich jetzt fragen würde ob du auch nur einen spaßigen Moment mit Marleen verbracht hast, was wäre deine Antwort.“

„Ja, ich bin ein armer Idiot und unfähig irgendetwas in meinem Leben richtig zu machen. Aber Zeit habe ich nun wirklich keine für dich und deine Ansprachen. Ich habe einen Termin und bis dahin bist du verschwunden.“

„Verstehe.“

Dinetti bewegt sich kein Stück. Er fixiert einen Mann am Nachbartisch. Dieser bekommt zweimal die wuchtige Handtasche einer vorbeirollenden Frau ins Gesicht. Sie bemerkt nichts von dem Schaden den sie verübt. Das perplexe Opfer gibt nicht einmal einen Mucks von sich macht zwar ein erschrockenes Gesicht lässt aber die brutale Täterin einfach weiterziehen. Dinetti schmunzelt.

Ich möchte einmal sehen, dass ein von Grund auf höflicher Mensch plötzlich konsequent und ruchlos für seine Prinzipien einsteht, auch wenn dies Unhöflichkeiten mit sich zöge. Stell dir vor, eine kompromisslose alte Dame wehrt sich mit Stockhiebe gegen unfreundliche Billa-Kassierer.“

Dem Nachbarn wird eine Lüngerlsuppe serviert und der Schlag auf die Nase ist vergessen. Das dampfende Schälchen wird zelebriert wie eine Hostie. Erst verrührt er vorsichtig den Schlag und bereitet sogleich kleine Weißbrotfetzen zum versenken vor und nimmt dann seinen Lederarmband ab. In sich hineinlächelnd, führt er langsam den ersten Löffel zu den Lippen. Dinetti und ich starren ihn an.

„Ich dachte immerzu dass er sowieso nicht für die Ewigkeit währen könne dieser Glücksfall einer Beziehung. Jeden morgen neben Marleen mit ihrem perfekten Körper aufzuwachen ließ mich ungläubig die Zimmer nach versteckten Fernsehshow-Kameras absuchen. Täglich hatte ich damit gerechnet abgeschossen zu werden. Drei Jahre der Verleugnung, drei Jahre habe ich achselzuckend die Lüge hingenommen, dass ich außerhalb meiner Liga spiele.“

„Du vermisst doch nur den Sex.“

Sei doch still, Dinetti. Stumm verweilen meine Augen auf der Lüngerlsuppe des Gastes rechts von mir. Zum Vegetarier hätte ich nicht das Durchhaltevermögen. Vielleicht ist es wirklich nur das Körperliche, das Fleischliche, das mir jetzt so derart fehlt. Schwer zu glauben dass jemand einmal bereit war diverse Intimitäten meines Körpers in den Mund zu nehmen.

„Natürlich ist es nur das, Hannes! Man fühlt sich um seine kleinen geilen Freuden gebracht, die aber wirklich rein gar nichts mit echter Zuneigung zu tun haben. Du willst nicht wieder von Vorne anfangen, das elende Herumsuchen, sich an das Fremde gewöhnen, dieser ganze Tanz. Das wird dir jetzt klar. Faulheit ist keine Sehnsucht.“

„Du hast doch keine Ahnung. Warum bist du eigentlich immer noch hier?“

Ich verzweifle etwas unter den vergilbten Kastanienbäumen. Der höfliche Mann nebenan erhöht seine kulinarische Aufnahme-geschwindigkeit. Es schmeckt. Wenn ich jetzt, in diesem Moment, anfangen müsste ein Gesamturteil über mein Leben abzugeben, würde das wohl eher schlecht ausfallen.

„Kümmere dich darum.“

„Um was soll ich mich denn kümmern?“

„Um dein und mein Wohlbefinden! Psychisch und physisch.“

„Dinetti, geh doch einfach.“

„Auf lange Sicht machst du dich sonst kaputt. Stell dich nicht als abgelaufen hin. Du klingst wie deine ehemalige Hausmeisterin, nur ohne Oberlippenbart.“

„Ganz ehrlich, meine ehrenwerte Klette. Ich glaube nicht, dass ich den Willen aufbringen kann etwas Neues anzufangen. Ausgebrannt, ja, das trifft es. Klingt beschissen und abgedroschen, aber ich bin ausgebrannt.“

Kurz hält der Suppenkasper inne, schaufelt die Innereien nicht mehr in sich hinein und räuspert seinem leeren Platz gegenüber entgegen. Über die beiden Tischplatten hinweg weht uns dabei ein Hauch von Suppenwürfel in die Nasen.

„Vielleicht hast du Krebs.“

War das ein Scherz? Ich überlege ob ich diese Aussage ernstnehmen soll, doch das ungerührte Weiteressen des Tischnachbarn beruhigt mich etwas. In einem Schluck trinkt Dinetti mein Glas Sommerspritzer halb leer und mein Blick schwenkt argwöhnisch auf meine Zigarettenschachtel. Aus umgelenkten Trotz weigere ich mich mir eine anzuzünden. Dinetti lacht leise durch die Nase mit dem Glas im Anschlag. Er sieht mir ernst in die Augen bevor er Befehle rülpst.

„Du zahlst.“

Natürlich zahle ich. Dinetti schüttet den Rest nach, keucht und steht auf.

„Du solltest wirklich wegfahren. Wo anders ist es nämlich schon anders, du vielleicht nicht, aber die anderen, die sind anders. Hier nützt du in deinem Zustand niemanden. Pass auf dich auf.“

Und er ist weg, so unvermittelt wie immer. Egal, Dinetti gibt es ohnehin nicht wirklich. An seiner Statt lässt sich nun dieser junge Aufsteiger Hohlmeier nieder. Den Ekel unterdrückend schlängelt sich der schlaksige Anzugträger an einem dicken Meidlinger Ehepaar vorbei und für einen Moment sieht es aus als ob er ohnmächtig werde. Er ist schließlich Magister Hohlmeier aus dem Büro für internationale Beziehungen der Stadt Wien, Abteilung für Bauwesen. Der soll ruhig ein bisschen leiden in der Pratersonne. Die Begrüßung beschränkt sich auf ein Nicken. Mit perfekter Haltung und einem Finger an den Lippen überfliegt die eigenartig pedantische Person die Weinkarte. Literweise Haarpomade lockt langsam einige Wespen an und reflektiert dabei alle Farben wie ein Regenbogen aus Benzin. Gekleidet in eine kesse Anzug-Jeans-Kombination, Markennamen von denen ich wahrscheinlich noch nie gehört haben würde, weist er mich nebenbei als kleinen dreckigen Bauernjungen aus. Die grauen Designerbrillen sitzen leicht wie ein Weberknecht auf Hohlmeiers professionell gepeelter Nase. Ich observiere seine Mimik, und es scheint als ob er die Namen der Weinsorten still auf- und abbeten würde. Seit Minuten ist kein Wort gefallen, ich bekomme Zustände und fixiere ihn in meiner Anspannung. Ich muss etwas sagen.

„Haben Sie das vom Kollegen Botschek gehört?“

Ohne aufzublicken nickt er in Zeitlupe und kaut im Affekt sein Salzstangerl doppelt so langsam.

„Da denkt man, man kennt jemanden.“

Hohlmeier blickt auf und erstarrt in Stumpfsinn. Das klang jetzt falsch! Zeit zu stammeln.

„Also ICH kannte ihn sowieso nicht richtig.“

Das Kauen setzt sich fort.

„Im Grunde habe ich ihn wahrscheinlich nur zwei oder dreimal getroffen… in der Kantine oder so, am Klo.“

„Herr Ingenieur Erlach, diese Dinge sind mir noch etwas zu frisch um sie hier mit Ihnen zu diskutieren, Sie verstehen. Ich würde gerne über den Auftrag und deren Finanzplanung sprechen. Was haben wir denn zu erwarten?“

Sehr einnehmend diese Professionalität. Man hat keine Zeit für blöden Tratsch, Business! Wenn sein gesamtes Auftreten nicht so komplett abgeschleckt glitschig wäre, könnte er mir vielleicht sympathisch sein. Es ist bestellt und kurzerhand falle ich tief in ein bürokratisches Koma. Vor meinen Reiseantritt muss die ganze Welt noch kurz auf den Angel gehoben werden. Es wehen tausend Formulare, weiße, rote und auch gelbe Blattbögen an mir vorbei. Alle werden willenlos von mir unterschrieben. Danke für deine Hilfe, oh du mein Hohlmeier. In Gedanken werde ich dich immer duzen und du kannst es lediglich erahnen. Nach einer kurzen Pause, in der er die Blätter ordnet und dann für eine Weile den Kopf nach der Kellnerin verdreht. Als er sie nicht finden kann sammelt er sich kurz.

„Herr Ingenieur Erlach, fühlen Sie sich privat und gesundheitlich in der Lage eine mehrmonatige Reise anzutreten? Das sollte gut überlegt sein. Nicht dass das Datum sich mit anderen Terminen überkreuzt, Sie verstehen. Gibt es familiäre Probleme, Schulden oder Gott bewahre einen ernsten gesundheitliche Umstand von dem wir wissen sollte?“

Oh ja, natürlich, ich versuche seit Tagen meine Depression einzudämmen mithilfe von Benzodiazepin und Unmengen von Billig-Scotch sodass ich meist um zwei Uhr morgens aufwache und mich voller nüchterner Panik übergebe. Ansonsten fühle ich mich fit, wenn ich nicht gerade weine wie ein Schulmädchen. Aber hinsichtlich der Reise, keine Sorge, ich suche nun ständig neue Plätzchen mit Suizid zu liebäugeln. Ich wurde kürzlich von meiner Freundin verlassen und wie prophezeit kastriert aus der Wohnung geworfen. Brauchen Sie den Kugelschreiber noch, ich würde ihn mir gerne in die Schläfen wuchten. In Wirklichkeit sage ich nichts davon, nicke nur gelassen und sehe zu wie Hohlmeier seine gebackene Forelle in Zitronensaft aus der Flasche ertränkt. Gibt es denn noch etwas zu besprechen?

Argwöhnische Gedanken huschen mir durch den Kopf. Es scheint als habe dieser menschenfremde Streber nicht das kleinste Problem in dieser Welt. Ein unwissend glücklicher Schnösel unter vielen. Einmal angenommen es würde alles so laufen wie ich es will, plötzlich bin ich glücklich. Jahre meiner angehäuften Unzufriedenheit hinter mir gelassen um mein Leben als ein Hohlmeier neu zu beginnen. Vergiss es, Glück ist nicht zu vertrauen. Um ehrlich zu sein, ich würde es hassen dieses reine Dasein voller Lifestyle und Karriere. So wie ich die Hohlmeiers hasse, die fähig sind Durchfall gegen Diamanten zu handeln. Unser aller Traum vom Geld und vom schönen Stück ewigen Lebens hat sich in seinem androgynen Gesichtchen manifestiert. Sie werden von den schönsten Frauen geliebt, Göttinnen für die unsereins eigene Gliedmaßen in Häckseler stopfen würde nur für ein. Trotzdem werden sie von den Hohlmeiers betrogen mit der Sekretärin oder sonst wem. Ich war stets zufrieden und nahm es mir gerne heraus jene bestimmte Klasse von eingebildeten Menschen zu verachten, doch es wird immer klarer, dass ich um keinen Deut besser bin. Zwar habe ich noch keine 5000 Euro Rolex, doch an Hohlmeiers Handgelenk blitzt die Erinnerung, dass wir alle keine Zeit mehr verlieren dürfen. Nimm was du kriegen kannst und schieß dir den Weg frei. Ich spüre wie übermannender Respekt sich mit dem Abscheu vermischt, den ich für ihn empfinde. Und man redet sich ein, während wir das Internet nach Pornos und Kaufkatalogen durchblättern, dass die reichen Typen, die, die alles haben, die all DAS haben, können doch in Wirklichkeit gar nicht glückliche Menschen sein. Ja, und mit Sicherheit fehlt denen etwas. So beschwichtigt man sich in er eigene Mittelmäßigkeit, alles Unsinn! Die haben alles und sind auch selig dabei, wunschlos glücklich in einem Ausmaß wie wir es nie sein könnten. Nur eines kennen sie nicht. Diese süße Melancholie. Keiner fühlt sich so gut schlecht wie ich heutzutage. Darin bin ich der Beste. So endet meine hohlmeierische Analyse. Er mag ein wenig nervös geworden sein, da ich ihn stumm und mit Augenschlitzen durchleuchtete, während ich meine Schlüsse über Leute wie ihn ziehe, aber er ließ es sich nicht an kennen. Da steht er schließlich drüber. Außerdem ist er mein Ticket in die neue Welt.

Die Firma schickt mich nach Bolivien! Meine Aufgabe wird es sein reiche Abbruchfirmen der Region zu beraten. Das kann nur ein Debakel werden. Ich schüttle die breite Hand des Hohlmeiers und bin kurz davor zu salutieren. Nach einem weiteren Seiterl zur Feier des Tages rufe ich Armin an. Bei ihm wohne ich vorübergehend. Dann geht es auch schon für die Feiertage auf Land ins Elternhaus. Siehe da, ein Plan für die nächsten Wochen. Perfekt, jetzt heißt es schön beschäftigt bleiben. Ein gestresstes Hirn braucht keine Liebe. Am Weg zum Praterstern sehe ich ein beachtlich großes Stück Hundekot den Schotterweg zieren. In einem behände ausgeführten Ausweichmanöver umtanze ich es. Jemand zuvor hatte nicht so viel Talent und musste die stinkenden Reste seines Fehltritts wohl an der Gehwegkante abschaben. Aber was ist das? Ein Schuhabdruck mit einem Dolce & Gabbana Logo zeichnet sich ab im Hundehaufen. Ein kleines Lächeln entkommt mir. Ob das wohl Hohlmeiers Abdruck ist? Schadenfreude ist gute Medizin. Und schon trägt mich die Bim in die Zukunft.

Ostern. Mein Vater und ich sitzen im neuen Altenheim Stockeraus auf einer kleinen Holzbank, die ansonsten als zierendes Möbelstück einsam im Korridor ihr Dasein fristet. Jetzt gehört sie uns. Wir warten vor den grauen Lifttüren auf Mutter mit der glücklichen Besuchten. Wir blicken in den klinisch weißen Hallen umher. Große, auflösende Fenster mit einem furchtbaren, Lebenswillen-zersetzenden Ausblick. Uns beiden ist nicht allzu behaglich dabei, doch Vater setzt sein Gesellschaftsgesicht auf und grüßt und grinst in alle Richtungen. Eine erstaunlich frisch wirkende Insassin kommt bestimmt auf ihn zu, und er beginnt auf seinem Platz nach hinten zu rutschen. Innerlich schießt Panik in ihm hoch, denn Mitmenschen sind nicht wirklich sein Gebiet. Jedoch kein Ausweg und die Dame mit dem schweren Augenekzem nimmt seine Hand. Mit erhobenen Brauen spricht sie.

„Schöne Feiertage wünsche ich und… Gesundheit!“

Sie wiederholt sich spastisch nickend und todernst.

„Gesundheit!“

Höfliche Floskeln des ehemaligen Ernährers beweisen erneut wie sozial umgänglich er vorgeben kann zu sein. Wie ungewohnt. Ich schmunzle mir ins Fäustchen. Die verwirrend wirre Dame geht ab und Vater schaut mich verschmitzt an.

„Hast du gehört? Gesundheit, das klang mehr nach einem Vorwurf.“

Mit einem Vorstrecken der Unterlippe und kaum wahrnehmbarem Nicken gebe ich ihm Recht. Er beugt sich zu mir vor und flüstert.

„Irgendwie makaber. Hier ist es wie im Kabarett. Nur, es ist alles wirklich, alles echt. Man will hier ja nicht einmal jemanden die Hand geben. Da kannst du dich auf was freuen, nicht mehr lange und ich huste dir wegen der Tuberkulose meine Lungenflügel ins Gesicht. “

Wir sehen einander an, ich entsetzt mit offenen Mund und Vater mit einem Grinsen, das seine Augen zu Schlitzen presst. Dabei unterstreicht ein Nicken das Gesagte. Natürlich ist er nicht krank. Er spielt wieder einmal den Prädementen vielleicht nur um mich auf die Möglichkeit vorzubereiten, dass er tatsächlich bald zum verwirrten Greis werden könnte. Oder mein Ernährer hat es gerne mich zu demütigen. Das Blöde ist, dass es funktioniert. Die Sorgenachse zwischen Eltern und Kind hat eine Drehung von 180 Grad hinter sich. Nun lege ich die Stirn in Falten, wenn ich mehr als eine Woche nichts von meiner Mutter gehört habe. Sobald sie auf Urlaub fahren, male ich mir nun die Unfälle auf den Hochstraßen im Piemont aus, Naturkatastrophen in den verträumten Schweizer Dörfern ihrer Tour oder überhaupt ein brutal italienscher Überfall mit Todesfolge. Dann und wann verdrängt der Gedanke an Pflege, die meine Lieben benötigen werden, alles andere und ich bekomme Angst. Angst vor Unfähigkeit, Angst vor meiner eigenen Egozentrik. Vater erkennt diese Ängste offensichtlich und spielt gnadenlose mit meiner neuen Bürde. Die lang erwartete Vergeltung.

Bing! Bevor ich meinen Vater einen unsensiblen Hund schimpfen könnte, öffnet sich der Aufzug und eine Horde braver Verwandte, die sich einmal im Jahr dazu durchringen die unsichtbaren Familienmitglieder zu besuchen, schieben die bemannten oder besser befrauten Rollstühle — ja, Männer haben besseres Timing beim Sterben — in den Speisesaal. Dort ist der Gipfel der Depri-Stimmung, geballt und genug für alle Anwesenden um aus den Vollen zu schöpfen. Weiß und das noch dazu unwahrscheinlich grell scheinen die neuen Wände zu schreien. Man möchte blind sein, nur als Kontrast.

Und da wird sie auch schon als eine der letzten von Mutter aus dem Riesenlift gekarrt. Tante Andi. Eine alte Freundin unserer Familie. Meine Großeltern sind alle schon verstorben, doch sie, die ehemalige Hilfe meiner Oma, ist die einzige die uns noch geblieben ist. Die halbe Familie, mein Onkel, meine Mutter, meine Geschwister und ich wurden von ihr gewickelt und groß bekocht. Wir sind mit ihrer einsilbigen und pragmatisch einfachen Art aufgewachsen. Ein ruhiges Gemüt vom Lande, das in ihrem Leben wohl einiges durchstehen musste als alleinstehende Mutter in einem Dorf voller christlich-banaler Einzeller. Solange ich denken kann ist sie da gewesen und selbst heute vor ihrem Rollstuhl an dem der Katheder runterbaumelt bin ich noch überzeugt sie ist physisch und geistig zehnmal stärker als ich. Mit unserer Hilfe befördern wir sie in ihr Konservenzimmer und dann ins Bett. Sie sieht zwar schrecklich alt aus, doch gleichzeitig nicht derartig verlebt und leer gesaugt wie die anderen der spätreifen Schlafwandler. Sie jammert nicht. Sie jammert nie, doch glaube ich einen Moment lang diesen einen peinlich berührten Blick zu erhaschen. Das Zimmer riecht nach Urin und unverdautem Stuhl welchen ich kurzerhand auf den zitternden Fingern und dem Schlafrock der Bettnachbarin auszumachen meine. Tante Andi schämt sich fremd. Außerdem hat sie mich bei der zeitintensiven Begrüßung nicht erkannt und rastlos wiederholt sie nun diesen Umstand und dass sie nicht glauben könne wie anders ich aussähe. Dieses Mantra schließt sie immer mit einem vernichtend ehrlichen Finale.

„Hannes, du siehst so schlecht aus.“

Mehr ist es nicht. Keine Konkretisierung, keine Chance zu erfahren was Tante Andi zur nettesten Hasswahrheit geführt hat. Ich lächle und versichere ihr jedes Mal, dass ich es bin und dass ich etwas müde sei. Kopfschüttelt lässt sie das nicht gelten. Wir bombardieren sie mit belanglosen Fragen über ihre Fernsehgewohnheiten und ihren Gesamtzustand. Sie antwortet erstaunlich unberührt, fast lässig. Dass sie beispielsweise manchmal Schwierigkeiten habe zu atmen und durch die Diabetes droht blind zu werden schneidet sie im räuspernden behäbigen Gespräch nur nebenbei an während mein Vater ihre Magazine auf dem Nachttisch stapelt. Sogleich kommt sie auf meine fürchterliche Unkenntlichkeit zurück. Ich versuche nett zu bleiben was wenn man es genau bedenkt eigentlich ein extremer Ausnahmefall. Nur die Narrenfreiheit der Todkranken erlaubt brutale nicht zu vergeltende Ehrlichkeit. Obwohl ich die steinernen Mitbürger des Landes normalerweise sehr gerne beobachte, fällt es mir schwer mich hier zu entspannen. Halbbionische Körper gestützt von Schläuchen und Verbänden rasseln ohrenbetäubend hustend an Tante Andis offener Zimmertür vorbei. Dass Menschen kurz bevor sie sterben noch einmal so unglaublich laut aufleben. Vielleicht habe ich tatsächlich ein schlechtes Gewissen als gesunder Mensch einfach ohne Krebs hierher zu kommen und das behütete Reich der Dinosaurier zu stören. Weiter wehen die Gesichter vorbei und ähneln brüchigem Straßenbelag. Vor den trockenen Ästchen, die sie mal Glieder nannten schieben sie Gehhilfen her. Die Männer beunruhigen mich am meisten. Sind sie hohlgefressen? Wenn ich an meine eigene Eitelkeit denke, die mir jetzt in meinen Dreißigern schon das Selbstbewusstsein foltert, wird mir fast übel. Die Vorstellung meine Gesichtszüge nicht mehr lenken zu wissen und hilflos zu verschrumpeln ist zu viel für mich. Die Scham die mit der Abhängigkeit von anderen einher geht bleibt wohl keinem erspart. Leicht mitleidig fühle ich wie sich mir mein Magen umdreht. Ich sehe den Ausdruck in ihren Augen und den Tonfall in den Stimmen, die erahnen lassen wie peinlich einigen das Leben in Windeln geworden ist. Tief drinnen schämen sie sich Bürden geworden zu sein und geben auf. Das Bild der Bettnachbarin scheint diese Mutmaßung geradezu in unsere Gesichter zu schreien, den Raum damit überriechend aufzufüllen. Es brennt sich ein wie das Bild des Loading Screens eines Computerspiels in den Geist eines kleinen Kindes.

Tante Andi ist das neue Altenheim leid. Sie beteuert in dem letzten Heim zuhause gewesen zu sein und schaut wehmütig durch riesige Schaufenster ihres Zimmers auf das gegenüberliegende Gebäude. Eben jenes war der alte Wohnkomplex. Bemalt in den scheußlichsten Farben, aufwärts gestaffelt von dicken unförmigen Betonbalkonen und gespickt mit diversen Satellitenschüsseln. Alles in allem haben wir hier einen furchtbaren Notbau der Siebzigerjahre vor der Nase. Man meint den typischen Wohnblock einer heruntergekommenen Vorstadt in Süditalien zu betrachten. Doch die alten Leute scheinen das vertraute Gebäude zu vermissen. Wir ringen um ein paar vorteilhafte Worte die für die neue Unterbringung sprechen und sichern ihr mit gestriegelten Worten zu dass es sich hier doch genauso nett sterben ließe. In Wahrheit ersuchen wir sie doch nur um Absolution, dass sie uns doch bald das Verlassen dieser deprimierenden Anstalt zuzugestehen möchte. Tante Andi erlöst uns plötzlich unerwartet mit den Worten, sie sei müde und dass sie die Besuche am Gründonnerstag schon etwas zu sehr angestrengt haben. Dies bestätigen meine Eltern indem sie es nachplappern und mit einem ertragbar belasteten Gewissen erbitten sie doch noch eine weitere Versicherung ihrer Müdigkeit, nur um sicher zu gehen. Ich habe seit zehn Minuten kein Wort mehr gesprochen. Ich bin ohnehin der große Unbekannte hier. Ich küsse sie trotzdem zum Abschied genauso wie ich es zur Begrüßung tat und wieder lasse ich sie äußerst perplex erschauern. Ich bin aus ihrem Geist in einen Fremdling entwachsen. Ich wünsche ihr einen schönen Abend wobei ich versuche meine letzten Grüße und ehrlich liebevolle Anteilnahme in meinen Blick zu legen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie bald sterben wird. Da flimmert ein kurzer Moment der Klarheit in ihren Ausdruck und sie lächelt mich an. Wir verabschieden uns von einander zum letzten Mal und es ist ergreifend.

Vater und ich sitzen auf Fiats Ledersitzen, er hinter dem Steuer und ich auf der Rückbank hinter ihm. Der Parkplatz ist voll. Dinetti, die ältere Dame mit Krankenschwesteruniform, schlurft an der Windschutzscheibe vorbei und winkt neckend. Einfach ignorieren. Ich habe keine Zeit zur Reflexion. Wir im Auto warten ungeduldig auf die restlichen Mitglieder unserer Familie da wir sehr hurtig aus dem Heim geflohen sind. Meine Geschwister besuchen noch Verwandte ihrer Lebenspartner und Mutter begleitet sie. Vater sieht prinzipiell keinen Sinn darin und hört im Auto lieber Radio Stephansdom. Ich bin auf seiner Seite und realisiere wie befreiend es ist nie wieder lästige Besuche bei Marleens Großonkel tätigen zu müssen. Das kleine Sahnehäubchen des Scheiße-Soufflees meiner beendeten Beziehung. Sicherlich war dieser Onkel nicht der einzige geifernde Nazi im Heim doch habe ich noch nie einen überzeugteren getroffen. Er rang mir bei Besuchen immer unter der Androhung dass er ansonsten vielleicht sterbe würde moralisch verwerfliche Versprechen ab. Zum einen sollte ich längst verschwundene Parteien wählen und zum anderen Marleen vor den Fängen der russischen Juden schützen. Wie einem Kind wurde ihm nichts davon abgeschlagen und ein Löffel Obstgarten stellte ihn meist ruhig. Dieser abstoßende Stück Demenz wird mir keinesfalls fehlen. Vater riss mich lauthals aus meinen Gedankengang.

„Rauchst du?“

Mit einer frischen Zigarette zwischen den Fingern und dem Feuerzeug in der anderen Hand, antworte ich erst spät aus Verwirrung.

„Ähm, generell oder jetzt gerade?“

„Sehr witzig, nein, was machst du? Rauchst du da hinten?“

„Noch nicht. Wieso?“

Keine Antwort? Eine gute Nase hat er, das muss ich zugeben. Ich kurble das Fenster langsam hinunter, warte kurz und mache es wahr. Tabak brennt. Der kräftige Herbstwind fährt in die Glut und verteilt ein wenig Asche ums und ins Auto.

„Hannes, ich hab das eigentlich nicht so gern.“

„Was?“

„Ich muss es nicht haben, dass du im Auto rauchst.“

„Dann lass mich nicht erst die Zigarette anzünden bevor du was sagst.“

„Ich hab doch gesagt, also gefragt ob du rauchst!“

„Ja, du hast gefragt und aus. Darauf lässt sich nicht auf deine geheime Intention schließen, Herrgottnocheinmal. Ich dachte schon du willst auch eine. Du bist mein Vater, hast du vergessen wie es funktioniert mir Dinge zu verbieten? Sag doch einfach, in meinem Auto wird nicht geraucht.“

„Sehr empfindlich heute. So schlimm ist es ja nicht. Mach aber das Fenster auf.“

Eine saftige Brise zieht mir einen Scheitel. Für einen Moment halte ich inne und stütze meinen Kopf auf mein Handgelenk. Es gibt manchmal einfach nichts zu sagen, auch wenn man platzen möchte. Vater nimmt den Rückspiegel in die Hand und verstellt ihn so um mich darin zu sehen.

„Hannes… ist dir nicht gut? Was ist denn passiert?“

„Marleen ist nach Haiti. Sie hat wohl irgendwie vergessen mir Bescheid zu geben… Aber es ist alles in Ordnung. Ich gehe dafür nach Südamerika und werde versuchen einige kleine Familien zu gründen. Ja, vielleicht adoptiere ich ein Dorf und bemale Tonkrüge. Und einen davon schicke ich dann der lieben Marleen, voll mit giftigen Schlangen und Spinnen. Moment, war sie nicht gegen irgendwelche tropischen Früchte allergisch? Egal, vielleicht kaufe ich mir auch einfach ein Boot. Ich wollte immer schon ein Boot.“

„Was redest du denn?“

„Deine um-ein-Haar Schwiegertochter hat mich verlassen und aus der Wohnung geworfen. So ist das nämlich.“

„Wirklich? Wann war das?“

„Vor zwei Wochen oder so.“

„Da hast du aber nichts davon erwähnt.“

„Ja, die Reise nach Bolivien zu organisieren hat ganz schön Zeit gekostet. E-Mails aus aller Welt entschlüsseln und bearbeitet zurückzuschicken. Dabei spreche ich kein Wort spanisch. Dann habe ich das Demeter-Projekt an einen Kollegen abgegeben. Das war schön dieses riesen Baustellenklo los zu werden. Naja, das und viel Online Poker haben ein bisschen geholfen mit dem Trennungs-“

Ich sage jetzt sicher nicht Schmerz.

„ — mit der Trennung. Ich wollte nicht daran denken. Da muss man beschäftigt bleiben.“

„Das wird schon wieder.“

„Was?“

„Wird schon wieder!“

Er klopft mir tröstend mit verdrehter Geste auf den Oberschenkel.

„Das kann jetzt aber nicht dein Ernst sein. So tröstest du mich? Mit einem Versprechen auf etwas das vollends unmöglich ist. Die kommt nicht wieder zurück! Die hat jetzt ausgesorgt! Wie soll das bitte wieder WERDEN?“

„Ich sage dir eins, so ein gebrochenes Herz hat manchmal etwas Reinigendes an sich. Man fühlt wieder dass man lebendig ist, wie nach einem Schlag ins Gesicht. Alles wird dir nun wieder schärfer, sinniger und realer erscheinen. Die Wunde pocht und regt an. Du hast keinen romantischen schönmalenden Schleier mehr vor den Augen. Marleen war ein emotionales schwarzes Loch für dich. Du bist der doch nachgelaufen wie ein Küken seiner Mama. Sei froh und glaube mir, du musst sie nur vergessen. Außerdem war sie viel zu mager die Frau.“

Wenn Vater wie Dinetti redet wird mir immer unwohl. Anscheinend war diese Frau jedem egal außer mir. Nach diesen letzten Wochen bin ich denn überhaupt noch verletzt oder suhle ich nur in dem bisschen Aufmerksamkeit, das noch abfällt. Es ärgert mich, dass es mich immer noch ärgert. Die Zigarette, die erste des Tages, macht mich schwindelig und mit halboffenen Augen starre ich aus dem Autofenster. Der Wind spielt mit einem kitzelnd langen Nasenhaar und bestätigt aus irgendeinem Grund dass Marleen nicht wichtig ist, sie es nie war. Ich hatte nur den Vorteil meine Probleme schön auf jemanden projizieren zu können. Sie ist immer eine Ablenkung gewesen. Durch sie konnte ich die eigene Selbstreflexion ruhen lassen, da ich meist mit ihr und der verbalen Selbstverteidigung beschäftigt war. Darum ist Dinetti auch immer öfter gekommen. Stets habe ich mir alles schön zurechtlegen wollen. Im Laufe der Zeit aber hat sie sich mich zurechtgelegt. Ich habe in einer Welt aus Kompromissen gelebt. Nicht der Verlust von Liebe macht mich zornig, sondern dieses infantile Gefühl in diesem Wettkampf der intimen zwischenmenschlichen Beziehungen verloren zu haben. Diese unangenehme Erkenntnis über mein erbärmliches Liebesleben springt mir nun ins Gesicht wie heißes Fett aus der Pfanne. Vater brummt derweil im Vordersitz vor sich hin und versucht sich etwas in meine Richtung zu drehen.

„Georg, äh, Kathrin, ich meine, Hannes, fährst du wirklich nächste Woche schon nach Amerika?“

Diese stammelnde Verwechslung der Namen seiner Kinder war kein Scherz, sondern eine offenkundige Manifestation der familieneigenen Zerstreutheit. Auch ich sprach Marleen nicht selten mit dem Namen meiner Tante an oder zuweilen sogar mit „Mutti“. Momente an die ich mich nur ungern zurückerinnere.

„Bolivien, Vater. Ich konsultiere dort eine Firma, werde wohl einige Zeit fort sein.“

„Toll! Hört sich ja spannend an. Aber fühlst du dich auch fit genug? Du scheinst mir ja etwas kaputt zu sein. Ich möchte, dass du auf dich aufpasst.“

Ich nicke obwohl er es nicht sehen kann.

„Wann geht’s denn los?“

Ich muss daran denken wie sehr mein Vater Dinetti ähnelt. Ich spreche selten über ihn und der Moment wäre richtig. Außerdem ist die einzige Möglichkeit zu beweisen dass mein Vater nicht eine weitere von Dinettis Erscheinungen ist, ihn direkt auf Dinetti anzusprechen. Es ist Zeit.

„Vater, ich habe eine imaginäre Person in meinem Leben. Ich spreche mit ihr wie mit einer realen Person und mittlerweile hat sich wohl etwas wie Freundschaft entwickelt. Dinetti ist der Name. Du brauchst dir keine ernsthaften Gedanken über meinen geistigen Zustand machen da ich es auch nicht tue. Die Situation hat noch nie bedrohliche Ausmaße irgendwelcher Art angenommen.“

„Wie bitte, was für eine Situation, wer ist eine imaginäre Person?“

„Dinetti. Ich dachte ich muss dir von ihm erzählen. Dinetti und du sprecht oft von sehr ähnlichen Dingen.“

„Wie? Wer ist Dinetti?“

„Dinetti ist mein Ansprechpartner wenn ich die echten Leute nicht mehr aushalte. Ein richtiger unsichtbarer Freund, den nur ich sehen kann. Wie es Kinder auch haben, nur bei mir ist das erst etwas später gekommen.“

„Naja, in gewissen Momenten spricht jeder mal mit sich selbst.“

„Gut, aber ich sehe Dinetti fast täglich und wir führen zuweilen lauthals Gespräche, auch in öffentlichen Plätzen. Ich nenne ihn beim Namen und seine Existenz ist gleichberechtigt. Es ist normal geworden. Eine psychologische Gewohnheit, ein Tick und das seit vielen Jahren.“

Vater bleibt stumm räuspert sich leise.

„Wie sieht er denn aus?“

„Er kann alles sein. Frau, Mann, Kind, dick, dünn, ein jeder.“

„Was etwa auch Tiere? Sprichst du mit Tieren Hannes?“

„Nein, Dinetti ist ein Mensch.“

„Warum erzählst du mir das Ganze? Willst du in Behandlung? Befiehlt dir dieser Dinetti etwa manchmal Dinge zu tun die du dann nicht weiter beherrschen kannst?“

„Nein, nein, natürlich nicht.“

Vater schafft es irgendwie sich mit dem Gesicht zu mir zu drehen. Er stiert mich durch das Loch in der Hartgummikopflehne an.

„Du kannst nicht erwarten, dass ich mir bei so etwas keine Sorgen mache.“

„Ich wollte wissen ob es komisch klingt.“

„Natürlich klingt das komisch!“

„Es fühlt sich aber nicht komisch an.“

„Woher weißt du denn wer bei diesen vielen Gesichtern wirklich Dinetti ist und wer nicht.“

Ich muss schmunzeln.

„Ich weiß es einfach. Obwohl manchmal bin ich mir nicht sicher. Es ist schon vorgekommen dass ich wildfremde Leute ganz vertraut angesprochen habe. Das hat sich oft aber sehr lustig entwickelt. Meistens erkenne ich Dinetti. Es sind immer Individuen handelt die erscheinen und komplett auf mich konzentriert sind. Vorhin ist Dinetti als alte Krankenschwester am Auto vorbeigegangen.“

Etwas beunruhigt schweifen Vaters Blicke hastig über den Parkplatz.

„Hör mal, ich habe keine Lust mitanzusehen, wie mein Sohn zu einem wunderlichen Irren mutiert, noch dazu vor mir. Wissen denn andere davon? Armin, Marleen oder deine Mutter?“

„Ich weiß nicht. Ich schätze Nein.“

Vater hält kurz Ausschau nach Mutter und bleibt für eine Minute stumm.

„Und du fühlst dich nicht krank? Ist Dinetti auch keine psychische Belastung?“

„Keineswegs. Wenn dann scheint es mir manchmal mehr wie eine Art Selbsttherapie.“

„Machst du dich lustig über mich?“

„Gott nein. Ich wollte dir das anvertrauen.“

Eine weitere Pause folgt und er scheint sich irgendwie damit abzufinden. So wie er es immer tut. Auch wenn ich ihn im Allgemeinen für keinen toleranten Menschen halte ist es erstaunlich wie viel Geduld und Verständnis mir dieser Mann in der Vergangenheit entgegengebracht hat. So dass ich mir nun auch nichts Anderes erwarte. Eigenartig ist nur eine gewisse Ahnung der Abgrenzung die von ihm ausgeht. In seiner Körpersprache und Tonfall wird eine Distanz erkennbar. Ist er gerade dabei seinen irrsinnigen Sohn in seiner Gesamtheit abzulehnen?

„Dein Dinetti ist also geschlechtslos?“

„Dinetti ist tausend Archetype in einem. Er ist mein Arbeitskollege, ein Freund, meine Schwester, ein flüchtiger Bekannter, das ungeborene Wunschkind oder eine geheimnisvolle Fremde. Dinetti ist meine Welt, besser gesagt, die Einwohner dieser Welt, und sie sprechen zu mir. Und meistens sprechen sie die Wahrheit.“

Vater atmet schwer und hat nun keinen Blick mehr für mich übrig.

„Für mich klingt das wahnsinnig.“

„Paranoia, Illusion und Wahnsinn, das ist alles nur eine Frage der Phantasie. Verstehe doch, ich bin in gewisser Weise stolz auf Dinetti. Ich habe meinen Geist nach außen gekehrt. Und alle die Gesichter ändern sich mit meinem Gemütszustand. Ich erkunde mein Ich im direkten Dialog. Wie ein sprechendes Spiegelbild, mit einem Eigenleben. “

Vaters Blick zeigt wenig Verständnis. Das alles klang normaler in meinem Kopf. Seine Sorge wird meine Sorge und schon sind wir zu dritt im Auto. Erneut ist mein Vater Dinetti und umgekehrt. Ich sage nichts mehr und krame in meinen Hosentaschen um ein Stück Sicherheit zu finden. Mein Handy zeigt dreizehn unbeantwortete Anrufe. Wer hat da schon den Überblick?

Es ist sechs Uhr fünfundvierzig und kastrierend kalt. Mein Kreislauf bleibt im Bett liegen während ich bereits das Fenster der neuen verfliesten Küche öffne. Das Elternhaus wurde renoviert und ich fühle mich nicht mehr annähernd zuhause hier. Sogar die ein zwei Besuche pro Jahr werden langsam zur Plage. Der alte Apfelbaum im Hof greift zum Himmel und stimmt mich kurz etwas versöhnlicher. Die kalte Morgenluft ersetzt kurzum die Tasse Kaffee. Der Dunst der benachbarten Brauerei steigt über den Hügeln auf und weiter unten am Bach kanalisiert sich der drängende Gestank zu einer reißenden Böe. Diese vermischt sich wiederum mit den Verwehungen der alten Molkerei stadteinwärts. Mit „milchig herbes Erbrochenes“ wäre dieses Bouquet zu galant umschrieben, doch so riecht die Heimat. Ich werde auch Wien bald in Gedanken zurücklassen, was auch moderat erfolgreich funktionieren sollte. Einzelne Details lassen sich jedoch nicht ausradieren, stehen nun ohne Kontext und in der weißen Unendlichkeit meiner Ignoranz ganz alleine da: Marleen. Wie aufdringlich. Meine mutigsten Reden. Ja, wenn sie da mal dabei wäre. Sie würde mich fürchten und respektieren lernen wenn meine harten und gerechten Worte über ihr einschlügen. Sie müsste sich gelähmt von blendender Übermacht unterwürfig an meine Beine klammern und reuig um Verzeihung betteln. Wenn ich sie stellen könnte mit all den über die Jahre angehäuften Argumenten. Meine geplant spontanen Antworten würden siegen. Alles wurde so einstudiert um nicht einstudiert zu klingen. Keine Chance. Jede Möglichkeit, jede rhetorische Ausflucht habe ich einkalkuliert. Sie würde brennen! Ein Monolog von Beschimpfungen und Hasstiraden, der sie stumm zu einem einsichtigen Zwerg schrumpfen lassen würde. Nein! Sie ruft mich gerade an. Zitternd und geladen wie eine Stalinorgel hebe ich ab.

„Guten Morgen, Marleen.“

„Hallo Hannes.“

„Noch gar nicht in Haiti?“

„Wir bleiben noch etwas länger, gibt noch viel zu tun, mit der Wohnung, aber egal. Hör zu, ich habe hier noch diese französischen Gedichtbände hier rumliegen.“

Mein Baudelaire. Das wohl einzige Stück Kultur dass ich je geliebt habe.

„Ja und?“

„Könntest du die mir bitte abnehmen? Die sind so ein blödes Format und passen nicht in die neuen Regale. Du hast sie damals gekauft, also bitte sei so gut und hol sie so bald wie möglich ab.“

„Neue Möbel? Du verlierst auch keine Zeit. Ich hoffe du hast auch mein Arbeitszimmer ordentlich desinfiziert.“

„Jaja, deine alten Hausschuhe hast du auch im Schrank gelassen. Die muss ich hier echt nicht herumliegen haben, die abgerissen Dinger.“

„Einverstanden, ich erlöse dich von all diesem unheiligen Zeug, mache ich spätestens übermorgen, aber hör mir jetzt zu, bitte, hör mir einfach kurz zu…“

Welt, höre deine Löwen brüllen und sieh’ die allumfassende Vergeltung die nun folgen soll. Um etwas Privatsphäre zu haben bin ich in die stockdunkle Speisekammer geflohen und leise mache ich mich bereit zu stammeln.

„Ich möchte dich nur um etwas bitten, hörst du, nur ein kleiner Gefallen. Pass auf, wie wäre es wenn du dir das mit der Trennung, der Wohnung und Ilay nochmal überlegst? Das war doch etwas voreilig oder? Das musst schon auch zugeben.“

„Ach Hannes.“

„Halt, nein, pass auf, lass mich ausreden. Das ist doch noch nicht vorbei. Wir hatten doch auch nette Zeiten. Weißt du noch Medulin?“

„Hannes!“

„Ja, ich bin hier. He, ohne dich hier bedrängen zu wollen, überleg doch einfach. Es kann gar nicht so abrupt aus sein, das weißt du doch auch. Wenn ich aus Bolivien zurück-“

„- Vergiss es Hannes, bitte, tu das nicht. Sag einfach nichts mehr!“

„Warte, hör mir zu, ganz unverbindlich, gehen wir nach der Reise auf einen Kaffee? Komm! So etwas muss man abklingen lassen, nicht amputieren. Du hast mich sicher auch noch irgendwie… also, da gibt es doch noch kleine Flämmchen?!

„Keine Flämmchen, kein gar nichts. Sei nicht peinlich. Lassen wir es ruhen. Fahr fort, denke nach oder auch nicht, lerne neue Leute kennen. Sei nicht dumm.“

Meine Stimme bricht wie eine Weihnachtskugel.

„Also bitte! Neue Leute, das willst du doch nicht wirklich? Die aufregenden Spannungen zwischen uns sind doch offenbar noch vorhanden, oder, die darf man nicht ignorieren.“

Ich glaube das war jetzt gerade ein Schluchzen, das aus meinem Rachen kroch.

„Ich schaffe das nicht allein, Marleen! Nein, warte, warte, ich meine eigentlich, es ist ein Lernprozess. Ich habe nun einiges verstanden, wir sollten aktiv… wir treffen uns einfach -“

„Wiedersehen Hannes, beruhige dich und hol bitte dein Zeug ab, Danke.“

„Warte noch, Marleen! Wir hatten noch kein letztes Mal Sex!“

Es tutet für eine Minute in mein Ohr und ich kann mich weder überwinden aufzulegen noch zu blinzeln. Neben den Kartoffeln und Zwiebeln trocknen meine Augen aus. Das Gegenteil von Weinen, das passiert wohl wenn man weit darüber hinaus ist von Trauer zu sprechen. Ich sehe nunmehr keinen Grund diesen Lagerraum zu verlassen, denn ich fürchte in einem Spiegel oder einer Fensterscheibe die Armseligkeit meiner Reflexion zu sehen, und diese könnte mich schließlich in Stein verwandeln. Der Löwe kaut am eigenen Schwanz und wartet in der Höhle auf einen erlösenden Herzinfarkt.

Kapitel — Hunde

Ich schwimme oder besser gesagt tauche ich seit Mittag im Meer von Arica Chile. Unspektakuläre 6 Stunden habe ich mit dem alten Ford Bus von La Paz bis hierher gebraucht. Der Kühler hat gehalten. Ich muss auch sagen La Lisera Beach ist mit jedem Erdrutsch in der Peripherie angenehmer geworden. Keine Touristen so weit das Auge reicht und die abgesperrten Gefahrenzonen geben mir irgendwie das Gefühl noch bei der Arbeit zu sein. Schnell wieder unter Wasser in die heilige Ruhe. Man bläst die ganze Luft aus seinen Lungen bis einen die Schwerkraft in Zeitlupe auf den Grund zieht. Ein sandiger Aufprall ertönt rasselnd wenn der Kopf auf die Sandbank trifft und dumpf klingt es in etwa wie eine Autotür die drei Straßen weiter zugeschlagen wird. Und man hört plötzlich nichts mehr, man ist abwesend, untot und doch spüre ich wie das Wasser sanft jede Vibration des Ozeans an meine Haut und ihre aufgestellten Härchen trägt. Der Nordpazifik ist wild wie sich das gehört und bricht stetig seine harten Wellen über mir. Das stört den Schwerelosen in Nirwanas Sphären wenig. Mein Herz klopft im ganzen Körper und passt sich dem Rhythmus der um mich aneinander klackenden Steinchen an. Mir fällt ein dass ich zuhause bereits öfters versucht habe diesen akustisch befriedeten Zustand zu imitieren. Man stelle sich direkt unter den Duschkopf, so dass der nasse Strom genau über die Gehörgänge fließt und jene somit verschließt. So ist der Korken in die überreizten Sinneswahrnehmungen gedrückt und das kleinste Summen lässt den gesamten Kopf erbeben. Das Rauschen ist weit weg. Du bist weit weg. Der Hinterkopf wird empfindlich wie eine Klitoris. Man zerläuft. Im Meer ist dieses Gefühl um Unendlichkeiten intensiver. Im steinigen Sand aufgelaufen steigen und fallen meine Glieder unkontrolliert mit der Strömung und mein Haar treibt im Unterwasserwind. Ich zwinge mich noch etwas länger in der Ursuppe zu verweilen, doch ein Zucken schlägt aus, durchs Gebein. Es will wohl wieder geatmet werden.

Meine Beziehung zum Meer war nicht immer so. Als Kind wurde ich einst von einer schweren Welle überrollt und geschlagen von Mutter Natur zurückgelassen. Das Meer fürchtete ich lange und löschte es aus meinem Leben. Der Strand und die Gischt würdigte ich keinen Blickes mehr. Das ging auch vorbei, wie alles in der Kindheit schnell vorbeigeht. Interessant ist nur, wie sich damals schon dir mir eigene, typische Reaktion auf Schmerz und Enttäuschung herausbildete. Ich ignorierte. Ich habe auch nie um die Gunst einer Frau oder eine bröckelnde Beziehung gekämpft. Eine nicht kontrollierbare Ablehnung war die Antwort auf alles. Ich wollte sie strafen, die unerwiderten Lieben, die enttäuschten Hoffnungen, die Träume und Faszinationen, die unabhängig und verletzend wurden. Ich strafte mich immer nur selbst damit. Letztlich hielten mich dann die Bequemlichkeit und die Feigheit solcher Entscheidungen gefangen. Ich vermisste das nur stärker, was ich aus meinem Leben löschen wollte. Wie ich es liebe, das Meer. Das ist noch heute so, genau wie ich auch heute noch meine liebsten Menschen aktiv ignoriere.

Es ist drei Uhr nachmittags und die ärgste Hitze ist vorbei. Ich lasse mich Rücklinks auf mein fußmattengroßes Handtuch fallen. Es staubt. Die Sonne trocknet mich innerhalb von Sekunden und zurück bleibt meine Haut die krustig versalzen spannt. Glücklicherweise ist der selbstgebrannte Tequila noch schön kalt in seiner ehemaligen Milchverpackung. Seelig winke ich dem freundlichen Fischhändler nach, der neben den Spirituosen, Speiseeis und dubiosen Fischteilen auch seine Säckchen voller Touristenunterhaltung im Angebot hatte. Ich meine natürlich die billigen Amphetamine und Koks des Landes. Produkte für alt und jung, wobei mir seine Kokablätter dann doch eher wie Oleanderzweige aussahen. Mir reicht der Tequila. Zufriedenheit und ein unerklärbares Gefühl von Sicherheit fährt mir durch die Knochen oder war es doch nur der Schwarzgebrannte? Wasser kondensiert und läuft kühl in meinem Bauchnabel um sich zu sammeln. Ich rauche eine halbe Handvoll der lokalen Bidis und werde dabei himmlisch schwindelig. Vor jedem Schluck Tequila lecke ich das getrocknete Salz von meiner Haut. Die Sonne fährt mir unter die Augen, die vom Meerwasser jucken und ich reibe sie im Affekt so lange bis eigenartige Farben und Flecken auf der Innenseite meiner roten Lieder umhertanzen.

Schwer betrunken wanke ich auf das Asian-Fusion Restaurant zu auf dieser einen Straße, die mir am Weg zum Strand schon aufgefallen ist und die nach irgendeinem Revolutions- oder Emanzipationsdatum benannt ist so wie fast alle Straßen in Südamerika. Der Kellner springt von seinem Stuhl auf als er mich sieht und wischt sich kurz gebückt den Mund mit der kleinen fettigen Schürze um seinen Schritt. Kauend winkt er mich mit kreisenden Händen in den zehn quadratmetergroßen Gästeraum. Die Einrichtung erinnert nur entfernt an das Land des Lächelns. Besonders die krachende Klimaanlage neben dem türenlosen WC bricht die Illusion. Außerdem sind statt Sojasoßen die vertrauten Behälter mit Limetten und Salsa auf den Tischen. Auf dem kleinsten am offenen Fenster lasse ich mich laut stöhnend nieder. Diese Fassade des nur leicht betrunkenen Touristen aufrecht zu halten ist durchaus anstrengend. Die Köche und Kellner sind alle noch beim Essen hinter der Kasse auf einem Klapptisch der hintersten Ecke. Sie nicken mich lässig Willkommen. Wenn mein motivierter dunkelhäutiger Kellner nicht schnell seinen riesen Bissen Mango Chutney runterschlucken müsste hätte ich von ihm sicher auch noch ein breites Grinsen bekommen. Seine Statur erinnert mich an einen indischen Yogi, die ihre Gliedmaßen verknoten können. Diese absurde Überlegung gepaart mit meinem etwas zu langen Mustern seines Körpers scheint ihn nicht zu stören. Eine Speisekarte hat er auch schon im Anschlag. Ich danke wortlos und er geht ab. Mit geschlossenen Augen atme ich zweimal tief ein und frage mich warum ich in diesem Land eigentlich zum Asiaten essen gehe. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Noch etwas süßen Latinowein und meine Zunge wird ohnehin nichts mehr schmecken. Natürlich bin ich viel zu früh gekommen, was mir verzögert vom versoffenen Strand-High erst jetzt langsam als Ahnung ausstößt. Ich darf dem ganzen Personal beim Tratschen zuhören. Mein antipummeliger Kellner bringt mir erstaunlich schnell die stammelnd bestellte Flasche Wein und erneut perlt Kondensat, dieses Mal auf die Papiertischdecke. Der eiskalte Rotwein ist mit Sodawasser verdünnt und wahrlich, ich habe noch nie etwas derart Erfrischendes zu mir genommen. Aufgewühlt von diesem persönlichen Erfolgserlebnis nippe ich gleich entsprechend oft am Weinglas zische dabei durch die Zähne. Gutes Lokal gefunden, Rauschkugel. Ein abnorm gewaltiger Spiegel verdoppelt den Raum und setzt mich meinem eigenen Antlitz aus, den sonnenverbrannten Wangen, dem sich häutenden Nasenrücken und zwei glasigen Glupschaugen unter der hochroten Stirn. Der Schreck mich in diesem ausgezerrten und braunblondgebleichten Körper wieder zu erkennen macht mich mit einem Schlag wieder völlig klar im Kopf. Leider. Seit zwei Wochen verkehre ich in sozialistischen Hochburgen und schäme mich für mein dreistelliges Einkommen mehr als für die plumpen Versuche in Ansätzen die spanische Sprache zu meistern. Mein Bemühen nicht Aufzufallen sticht heraus wie das Chili in den lokalen Schokoladen. Die Leute sind hier zwar nett an der Oberfläche, scheinen aber einen verwöhnt europäischen Klassenunterschied an mir zu identifizieren, der mir anhaftet und es gibt drüben in Bolivien als Gringo sowieso wenig zu lachen. Noch dazu ist die Arbeit mit den südamerikanischen Kollegen weniger als anspruchslos. Meine Anwesenheit ist reine Formsache und erfüllt irgendwelche internationalen Quoten deren Sinn und Zuteilung nur erahnen kann.

Bis jetzt beschränkten sich meine zwei Arbeitstage auf ein zehnminütiges Meeting mit den bolivianischen Baumeistern und eine Objektbesichtigung mit anschließendem Grillfest. Dort begann auch meine Liebesgeschichte mit den scharfen Wässerchen des Landes, welche immer ein kleines stilistisches Würmchen behausten. Das Abbruchprojekt stellte sich als schlecht organisierte Einäscherung eines beinahe zwölf Quadratkilometer großen Gewerbeviertels nördlich von La Paz heraus. Die Luft dort war dünn und die Hallen leerstehend. Zig Blaupausen zogen unter meiner Nase vorbei und die zuständigen Sprengmeister wollten meinen professionellen Segen. Ein wortloses Nicken unter schweren schwarzen Sonnenbrillen erwies sich als Antwort genug, eine befriedigende Reaktion auf unverständliches Gebrabbel das ich nach den ersten Minuten auszublenden versuchte wie einen störenden Autoalarm.

Auch das Meeting tags zuvor fiel sehr kurz aus, wobei sich das millionenschwere Bauprojekt immer mehr als logistisches MC Escher Desaster herausstellte. Meiner Rolle als Consultant wurde auch wenig bis null Wichtigkeit beigewogen, nur Geschichten über Wiener Kultur brachten den Raum der dicken Führungsleute, alle kleine Ex-Eingeborener des Landes, herzlich laut zum lachen. Aus reiner Langeweile ging ich danach zu einem zwanzigminütigen Vortrag über Schwemmland im Vortragsraum der Partnerfirma. Danach schütteten sie mir einen Abschiedscocktail in die Figur und kutschierten mich zurück ins Hotel. Seit einer Woche habe ich nun nichts mehr gehört von diesen Leuten. Als ich besorgt einen der Projektleiter anrief und mich nach dem Vorankommen der Abrissplanungen erkundigte, wurde ich verlacht und eher spöttisch über einen absurden Hiatus informiert. Er meinte, ich solle mir doch bitte keinen Stress machen und dass die Uhren in Bolivien seit Moralez anders liefen. Ich dachte eine Reise durch das bedürftige Südamerika würde meinem Leben ein Gefühl der Nützlichkeit zurückgeben, aber das Gegenteil ist der Fall. Niemand will und braucht mich hier. So verbringe ich einen unbeholfenen Tag nach dem anderen. Angst bohrt sich durch meine Gelenke während ich in einem fremden Land an jeder Ecke Kontakt suche und dabei immer besoffen am Strand zu enden scheine. Ich habe mich sogar in diesen einzelnen Edeldiscos der El Alto Vorstadt zum Vollidioten gemacht und alleine zwischen zig leidenschaftlichen Pärchen getanzt nur um zu sehen ob mir vielleicht ein mitleidiger Blick zuwerfen würde. Wenn mein Englisch sich bei der einen oder anderen Dame um Kommunikation bemühte, egal ob einheimisch oder touristisch, strahlte mir immer jenes unsichere Grinsen entgegen, als ob sie tatsächlich etwas anderes sagen möchten. Es schien ihnen geradezu aus den Augen zu schreien.

„Ich kann mit mir und deinem Gerede rein gar nichts anfangen, du bleicher Batzen Grind.“

Ja? Und ich auch nicht mir dir, mit euch! Diese Zeiten, in denen ich das unabwehrbare Gefühl verspürte mich vor dem überzeichneten Spaßextremismus auf die Knie zu werfen, habe ich doch bereits offiziell hinter mir gelassen, so dachte ich jedenfalls. Doch da würgten plötzlich meine Mitte Dreißiger jene vergessen geglaubten Sehnsüchte wieder hervor und ich bettle um Anschluss ans dritte Reich des Alkopops. Die Luft im Klub war klebrig wie die Ansammlungen von Lidschatten in den Augenwinkel fetter Bolivianerinnen. Die von den Lichtern überreizten Mädchen tranken Bier mit Eiswürfel bis ihre Zungen sich kalt, wie die von Kühen, ihren Weg auf in die Schlünde des nächsten Vergewaltigers machten. Nach dem ersten mitgegrölten Refrain von „Voyage Voyage“ war es mir dann doch genug.

Aber ich habe mit euch getanzt, ihr habt es alle gesehen. Der metrosexuelle Japaner, die rein optisch suizid-gefährdete Türkin, sowohl der leicht schizophrene Israeli wie auch die nörgelnde Deutsche, die jeden zweiten Satz wie eine Jahrhunderterkenntnis formulierte. Faszinierend war an der nur ihr Tanz. Der Ipecac-Pop bellte schwer und die Frankfurter Maus befand sich dabei die meiste Zeit einen Meter über dem Boden. Sie sprang einfach wie eine Verrückte, als wäre es eines dieser abgedroschenen Urlaubsfotos in denen man lahm in der Luft über dem Sonnenuntergangsstrand schwebt. Sie ruderte mit den Armen wie ein Flugzeugrotor und bewies uns allen, dass es in Wirklichkeit egal ist ob man tanzen kann oder nicht… scheiße aussehen würde sie so oder so.

Eine italienische Familie mit großem Bruder und kleiner Schwester sitzen plötzlich zwei Tische weiter. Im verdammten Längsspiegel über der Salatbar gegenüber fällt mir auf dass ich wie ein Wahnsinniger zu ihnen hinüberstarre. Ich erschrecke über meine Geistesabwesenheit gleichzeitig mit der Kleinen, die wegen meinem Schreck erschrickt. Zurück zum Wein. Den Eltern fiel nichts auf. Das Kind zieht für einen Moment die Oberlippe hoch wie ein angeekelter Elvis nur um gleich munter weiter zu singen.

„Bella California“

Aus diesen beiden Worten scheint sich das gesamte Lied zusammenzusetzen. Ich bestelle besser schnell und viel zu viel auf einmal. Der schlaksigste Kellner der Welt nickt ohne Ausdruck im Gesicht und als er mit seinen endlos langen Gliedern gummiartig in die Küche schlendert kann ich endlich wieder meine Stirn auf meine Hand stützen. Die Kinder geben sich sich derweil gegenseitig Namen wie „nano“ und „nana“. Beide sind sie Zwerge, doch ich möchte mich nicht einmischen. Wie gesagt sind die Versuche locker in gesellige Abendunterhaltung zu driften und dabei Leute kennenzulernen bis jetzt komplett missglückt. Ich bin nur müde, gereizt und nicht einmal mehr richtig betrunken.

Langeweile wirft ihr ödes Beil zwischen meine Schulterblätter sodass ich mich gähnend gen Himmel strecke. Tagsüber war es am schlimmsten. Glücklicherweise bin heute hier raus gefahren. La Paz ist so hoch wie der Olymp und so lustig wie der Tartaros. Ich hätte mir fast eine Lungenentzündung eingefangen in dem trocken-kühlen Klima der Anden. Außerdem gibt es dann morgen auch etwas zu tun. Wenn mich mein Freund Alejandro aus Universitätszeiten nicht angerufen und mich eingeladen hätte, wäre ich wahrscheinlich in meinem Hotelzimmer verrottet, aufgedunsen von illegalen Tabletten, Tortilla Chips und billigem Alkohol. Ob ich ihm das erzählen soll? Dass er mir mit seiner lockeren Einladung auf seine „acienda“ einen weiteren Tag Sinn beschert hat? Besser nicht. Alejandro war ja nicht einmal unbedingt jemand, den man einen alten Bekannten nennen könnte. Er hat gerade mal zwei Monate in unserem Studentenheim gewohnt. Aus diesen wilden Zeiten verblieb nur ein schwächelnder Email-Kontakt. Zeit für eine erneute Zusammenführung und dem Ende meiner Urlaubslethargie. Am Weg bot sich die verträumt-zerrissene Stadt Arica an wie eine billige Hure. Danke dass du mich aufnimmst.

Ein Riff dass ich kenne wummert durch die windige Blechtüre neben mir. In einem mikroskopisch kleinen Kellerstauraum genannt „Bingo Club“ spielt eine „Pink Floyd“ Coverband auf. Nach dem asiatischen Glutamat-Fest bietet sich klassisch englischer Rock doch bestens an um den ungewöhnlichen Speiseplan zu beenden. Ich darf nur nicht vergessen dass ich mich in Chile befinde. Mein Weg muss mir vor Augen bleiben auch wenn ich jede Nächte versaufe. Gut, dass ich nun nicht einmal zehn Meter von dem abgehakten Restaurant entfernt dieses Loch gefunden habe. Bei der Hitze kommt alle zehn Minuten eine Pausenstation gelegen. Der Hauptraum des „Bingo Clubs“ besteht aus billigen Gipsplatten und fasst wohl maximal 50 Leute. Ein Zehntel der Fassungsmesse ist bereits hier plus die auf Spanplatten wippende Band. Verstreut sitzen schmutzig schraffierte Gestalten im vernebelten Publikumsbereich der mit zweieinhalb Meter Breite eher als Korridor zu bezeichnen wäre. Ein einzelnes Baustellenlicht blinkt arrhythmisch. Auf den Tischen stehen kleine Laternen, die Karibik suggerieren sollen und sehr alte Limetten. Ob daneben ein Aschenbecher oder ein Tässchen Salsa steht kann bei besten Willen nicht sagen. Meine Schritte wippen energisch über den verdreckten Boden. Ja, die Gruppe junger Musiker ist erstaunlich gut! Sie sind ohne ein Fünkchen Sarkasmus implizieren zu wollen um Längen besser als die Originale. Sogar der Sänger ist hässlicher und macht den Rooster besser als Mick Jagger. Die dem Mariachi-tum entwachsenen Latino-Psychorocker sind derart routiniert bei der Sache, dass man beim Anblick ihrer jugendlichen Leidenschaft weinen möchte. Ich lächle benommen und bin die kopfnickende Verstärkung für den halbnackten Saitenwürger, der mal eben die letzten Schläge von „Dark Side of the Moon“ windmühlt. Mein Plastiktisch wackelt euphorisch. Zwei der alten Cocktail-Gläser fallen. Und zwei Tische weiter sitzt ein Mädchen wie ich langsam durch die zugeschweißten Lider erkenne. Pfundig ist sie und wild liebäugelt sie mit jedem Tellerwäscher und abweisenden Alkoholiker hier bis ihr Blick auf mich fällt. Für eine Sekunde glaube ich ein sprichwörtliches Aufflammen ihrer Iris auszumachen. Ist sie eine Hure? In wenigen Momenten stationiert sie sich an meinem Tisch, räumt verspielt mit billigen hochgeschnürten Sandalen die Scherben am Boden zur Seite und gießt sie sich auf meinen Schoss. Wie ich rotbäckig grinsend meinen tauben Kopf schüttle, baut sich das Türkises Bollwerk aus Kunstseide, Lipgloss und Goldschmuck am Sessel breitbeinig vor mir auf. Ihr Name ist Alva und sie ist gar keine Bolivianerin, sondern gebürtige Spanierin. Ihr leichter Mundgeruch macht es etwas schwierig sich direkt mit ihr zu unterhalten. Ich betrachte ihre Beine wenig kaschierend in Leggins gewuchtet und gebe mich offensichtlich uninteressiert. Mir graut vor ihren Halbschuhen an den schwammigen Füßen. Man kann die Ansätze der Zehen deutlich sehen was darauf schließen lässt dass sie sich selbst mit einer zu kleinen Schuhgröße betrügt. Diese Entscheidung ihre Füße zierlicher erscheinen zu lassen ist mindestens so unüberlegt wie ihr Gelaber. Das Englisch ist furchtbar, doch lässt sie es sich nicht nehmen weiter Ausführungen über ihre neue Arbeit als zweite Sprechstundenhilfe zu machen und die Vorteile gegenüber der Au-Pair-Anstellung zu betonen. Sie hat nichts gestohlen und schon gar nicht jene grottenhässlichen Zierteller aus dem Alvarez-Anwesen. Das unterstreicht sie mit einem langen Zug am Mojito gefolgt von dem affigsten Lachen meines jungen Lebens. Ihrem Atem ausweichend landet mein zittriger Blick dabei wieder beim schlecht besohlten Fuß. Dieser scheint nun kurz davor zu sein aus dem Schuh herauszuquellen. Ihr ganzes Erscheinungsbild ist mehr als unstimmig und es mich neugierig in einem mir eigenen geschlechtswissenschaftlichen Sinn. Ich spreche nicht nur von meinem Typ, dem sie nicht entspricht, oder einem Stil der mir nicht gefällt, Alva, die Person in ihrer Gesamtheit, passt vielmehr nicht zusammen. Ihr nervenzersägendes Gerede widerspricht sich nun zum dritten Male selbst, sie quäkt nasal um eine Reaktion meinerseits und dabei kann sie sich nicht entscheiden den Blick verführerisch oder unnahbar zu belassen. Ihr Gesicht erinnert an das von Morales, besonders die Frisur. Dieses arme Mädchen gibt mir ein eigenartig pervertiertes Gefühl von Attraktivität. Doch es ist wertloser als der billige Lipgloss den sie sich in zehnminütigen Abstand auf ihren schiefen Mund pinselt, nur um ihn halbsüchtig wieder abzulecken oder auf einem stechend riechendem Stummel ihrer Menthol-Zigaretten zurückzulassen. Ich male mir unversehens den unheiligen Sex mit ihr aus, wie ich am Morgen einer schamvoll asexuellen Nacht zum Cunnilingus gezwungen werde und sich eine Stunde später schwere Übelkeit und Magenschmerzen ankündigen. Da hört sich der Spaß auf. Ich weise sie ab, unverkennbar. Zwei Männer an der Bar scheinen auch in observierenden Intervallen zu uns herüberzusehen. Sie sind beide klein und dicklich. Werde ich beobachtet? Ihre Köpfe kreisen leicht und lassen auf den gleichen an Grad an Trunkenheit wie ich schließen. Es ist zu dunkel um etwas Genaues zu erkennen. Sie wollen wahrscheinlich Alva und nicht mich. Keine Frage. Ich beruhige mich etwas, doch will ich nach draußen. „Wish you here“ endet mit einem wunderbaren a capella Teil des Keyboarders. Die namenlosen Pink Floyd Interpreten sind fertig und kriegen lediglich vom Kellner und mir Applaus. Alva lässt ihre Hände über meinen Schenkelinnseite gleiten Richtung Bonbon. Sie macht mir mehr Angst als die dunklen Barmänner. Sie blickt unschuldig und gespielt verträumt in ihren Mojito. Ich sehe schon wie Dinetti sich zerkugeln wird. Ich sollte einfach zurück ins Hotel gehen. Das elende Gespräch mit Alva wird nun Richtung Verabschiedung gelenkt, ich überwinde mich zu einem Kuss auf die Wange voller Mitesser. Schnellgehend mache ich mich davon. Ich falle beinahe über ein auf den Stufen hockendes Kind beim Verlassen des „Bingo Clubs“ doch schaffe ich es unbeschadet hinaus auf die staubige Straße. Der Gedanke an Alva und an ihren nackten, verschwitzten und leicht käsigen Körper, mit dem ich wohl unter einer speckigen Decke gelandet wäre hätte ich mich da drinnen nicht mit dem Rum zurückgehalten. Alle Härchen auf dem Rücken und beiden Armen stellen sich auf und es schüttelt mich einmal kräftig durch wie ein Stromschlag des Ekels.

Dinetti und ich wandern die Touristenmeile entlang. Er hinkt etwas, denn das Alter macht ihm zu schaffen. In dieser feuchten Abendhitze kann einem gekrümmten weißbärtigen Senior durchaus die Luft ausgehen. Er keucht und seine vertrockneten Gelenke knacken wenn er sich auf seinen Gehstock stützt. Der Plan noch einen längeren Spaziergang zu machen ist jedoch schnell gefasst, denn es ist noch nicht einmal zehn. Die Zeit vergeht hier langsamer. Dinetti meint, leicht betrunken seinen Schnurrbart zwirbelnd:

„Was war das denn? Deine Chance! Die Spanierin wäre doch genau das Richtige. Ein bisschen Spaß um nicht einzurosten, verstehst du? Nur ein Motor, der auch ständig in Betrieb bleibt läuft rund.“

„Oh bitte. Du hast sie doch gesehen. Sie sah wie als ob sie mit einem Nudelsieb verhüten würde oder einfach so viel trinkt um den Sex am nächsten Tag vergessen zu haben. “

„Das hätte ein nettes Abenteuer werden können.“

„Ist es wirklich Grund genug mit einer Frau zu schlafen nur auf den Verdacht hin, dass sie wahrscheinlich ständig ein ganzes Sortiment an Gratis-Kondomen mit sich trägt?“

„Ein besserer Grund fällt mir nicht ein.“

Dinetti findet seine eigenen Sprüche amüsant und sein gellender Lachhusten peitscht sich mir direkt ins Ohr. Ausfallschritt. Hier gibt es eine Klimaanlage und innerhalb von Sekunden gefriert mein Schweiß auf der auf. Ich stöbere durch den unterkühlten kleinen Krämer auf der Suche nach ausgefallenen Spirituosen. Eine Flasche undefinierbarer Herkunft lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine vollends weiße Flasche, auf der längs mit silbernen Buchstaben „Spirit“ geschrieben steht. Ich greife zu, denn der Name gefällt mir. Der Inhalt dieses Gesöffs wird das Mysterium des Abends, von den gerade richtigen Dimensionen. Eben zur Kasse geschlurft und schon täusche ich vor meine Geldtasche nicht zu finden. Eine vielleicht neunzehnjährige Latina sitzt in tödlicher Langweile hinter dem kleinen Tischchen neben der plärrend herrschenden Klimaanlage. Hinter dem Meer von Ansichtskarten und Nummern der heimischen Sexhotlines sitzt dieses hübsche Wesen. Schwarze volle Locken bis zu den Schlüsselbeinen, leicht grün leuchtende Augen und einen Mund welcher für sich alleine schon verboten gehört. Das weiß-hellblaue Spaghetti-Top und die Geheimnisse die es verbirgt werden heimlich begutachtet, während sie etwas genervt ihr Handy zur Seite legt und die mit Plastik überzogenen Tasten der Kassa drückt. Sie ist so unbeschreiblich attraktiv, dass ich Beklemmungen bekomme und leicht zu keuchen beginne. Dinetti sagt kein Wort und fächelt sich mit einer Zeitschrift die künstlich-arktische Luft ins Gesicht. Die Lider der schwachen Augen hat er dabei zusammengedrückt um auch die Kurven der Aphrodite besser zu erkennen. Im Nebel ihrer zierlichen Schultern vertieft höre ich sie eine Frage bellen. Perplex nicke ich einfach. Sie erhebt sich aus ihrem Lager und bückt sich hinter die DVDs mit den schwarz-weiß kopierten Covers. Es kommt ein rosa String Tanga zum Vorschein und verkeilt sich in meiner Netzhaut wie ein Enterhaken. Nach kurzem Rascheln kommt ein Plastiksäckchen zum Vorschein. Die eiskalte Flasche „Spirit“ wird eingetütet und hinterlässt Gänsehaut auf ihren glatten dunklen Armen. Ich zahle und taumle verwirrt aus dem Laden. Dinetti bricht das Schweigen mit einem klatschenden Schlag auf seinen Schenkel.

„Wow, was für ein Anblick“

„Das ist echt zu viel. Ich wollte mich einfach weiter gemütlich betrinken. Wie soll man sich denn entspannen, wenn man weiß, dass es solche Göttinnen in dieser Stadt gibt. Ich erwäge ernsthaft mich wegen dem örtlichen Bordell umzuhören.“

Dinetti lacht und stützt sich auf meine Schulter.

„So ein Blödsinn. Ich fühle mich eher als ob ich gerade aus der Messe in der Kirche gekommen wäre. Ich habe das Licht gesehen, Hannes. Man muss an irgendetwas glauben, wenn man solcher Schönheit Auge um Auge gegenübersteht.“

„Ja, was auch immer, flanieren wir an der Straße. Ich will nicht weiter daran denken wie abstoßend sie uns gefunden haben muss.“

Ich schüttle mittels zwei Verrenkungen das Blut zurück in meinen Kopf. Eine kleine Grünfläche oder wie man die wenigen gelben Grashalme hier sonst nennen soll lädt uns nach ganzen drei Metern ein zu Rasten. Undefinierbar verbleibt die Identität des „Spirits“, doch der Hauch Anis schmeckt so modrig, dass es mich reckt. Dinetti bleibt stumm und fächelt nun mit seinem Fedora-Filzhut, die andere Hand zitternd auf dem hölzernen Stock verwachsen. Ich rülpse halblaut.

In den letzten Tagen habe ich die absurdesten Träume. Fremde Länder, fremde Betten, das alles verwildert meine Fantasie. Das Klima, Dinetti, das unnötige Hiersein und die Hitze verändern einem die ganze Lebenseinstellung.“

Dinetti scheint zu wissen was ich meine, doch sagt nichts. Ohne die obere Reihe seiner Schneidezähne kaut er still auf seinen Lippen. Ich erzähle einfach weiter, und spüre wie der „Spirit“ mein Nervensystem zersetzt.

„Es waren kurze Eindrücke wie schnelle, flackernde Bilder eines Daumenkinos. Ich rannte vor etwas davon. Da waren alte Freunde von mir, teils aus der Schulzeit und manche an die ich seit Jahren nicht einen Gedanken verschwendet habe, und sie waren ebenfalls auf der Flucht vor einem mysteriösen Schrecken. Wir hasteten alle durch eine Art Dschungelparkuhr, mit Klettergerüsten, verfallenen Holzwänden, kleine verlassene Warenhäuser, Lianen und was weiß ich… Mit einem angsterfüllten Blick über meine Schulter stockte der Atem plötzlich sehr real. Da waren wilde Hunde, ausgehungerte Straßenhunde, die uns verfolgten. Auch anonyme Männer sprinteten hinterher, doch ihre Erscheinung und ihre Motive für die Hetze sollten sich nie auflösen. Wir wurden gejagt. Ich erinnere mich, dass ich versuchte die anderen nicht hinter mir zurückzulassen, meine schnelle Sprünge und Manöver zu verlangsamen, doch ich war ihnen allen voraus. Es war wie ein irres Traumtalent, das mich leicht wie einen Parkour-Profi Baumstämme, Abhänge und Mauerruinen überwinden ließ. Plötzlich waren da sogar Krokodile in einem Tümpel vor uns. Über deren Körper balancierte ich blitzschnell und berührte dabei beinahe fliegend jeden Reptilienschädel nur einmal kurz mit meiner Fußspitze. Dann kam der Moment, wo ich ihnen ins Netz ging. Unter uns zog sich ein gewaltiges Bündelzusammen wie auf einem Fischerboot. Die Seile waren struppig und trocken. Eine fremde Frau wurde mit mir eingefangen, vielleicht sogar mehrere Leute, doch nur sie viel mir auf, als wir von einem dicken Ast baumelten wie ein Stück reifender Provolone-Käse. Die Hunde kamen näher. Die Fremde und ich wanden uns in den eng gesurrten Seilen wie die panischen Tiere, die wir waren. Wir umschlangen einander in blinder Angst, der Urangst, die es ihrer Reinform wohl am ehesten noch in Träumen zu spüren gibt. Strampelnd wollten wir uns aus dem Netz befreien, unmöglich wie es schien. Plötzlich fühlte ich ziemlich klar, dass ich Sex mit der Frau hatte. Ich war in ihr und wir wanden uns panisch-leidenschaftlich zu einer abstrusen Form von Todes-Ekstase. Bevor uns das Hundegebell jedoch erreichte, und ich sah bereits die schwarzen blutunterlaufenen Augen und monströse Mäuler nach mir schnappen, hatte ich einen Orgasmus. Alles versank im Dunkel eines unscharfen schwarten Nebels und ich wachte auf. “

„Ein Alptraum oder doch ein feuchter?“

Dinetti schmitzt blöde.

„Feucht? Dinetti, hör zu, du hast gar keine Ahnung. Ich bin in dieser Nacht tatsächlich gekommen! Ich lag da in meinem Saft. Das ganze Bett klebte. Ich konnte es nicht fassen. Das letzte Mal hatte ich einen Traumorgasmus als ich dreizehn war.“

„Na, wie schön für dich. Ich glaube trotzdem, dass du die Spanierin nicht abblitzen lassen hättest sollen.“

„Das ist doch der Punkt, ich bin seit Jahren nicht mehr so fantastisch gekommen. Naja, ich war total fertig –seit langer, langer Zeit war ich wieder einmal wahrhaftig befriedigt

Etwas zu laut sind sie wohl, die sexuellen Ausführungen mitten auf der Hauptstraße, gerichtet an meinen imaginären Begleiter. Egal, niemand versteht mich hier, selbst wenn sie deutsch beherrschen würden. Dinetti auf seinem Platz vor und zurück. Er schaut mich an und verzieht das Gesicht, als ob ich ihm gerade einen Kindermord gestanden hätte. Lippenkauend fasst er meine „Soloerfahrung“ zusammen.

„Das klingt nach einem zu heiß kochenden Topf Reis, der letztlich übergehen musste. Was willst du mir damit eigentlich sagen?“

„Ich möchte damit sagen, dass ich nur mit meinem eigenen Hirn und wahrscheinlich einer richtig positionierten Bettdecke zwischen den Beinen den besten Sex seit Ewigkeiten hatte. Und dass diese Tatsache mich fasziniert. Diese fremde Traumerscheinung, dieses Mädchen ohne Existenz habe ich aus mir selbst erschaffen, und in genau jenem Moment als sie mich zum Orgasmus trieb hat sie sich selbst eigenständiges Leben verliehen. “

Dinetti übersetzt ein abfälliges Lachen direkt über in einen Hustanfall. Seine dunkle, ledrige zieht sich prall über die knochigen Bäckchen und seinem zahnlosen Grinsen folgen schulmeisternde Worte.

„Ha, du wurdest von Hunden gejagt, Krokodile bissen nach dir, lauter Gefühle des Terrors und des Wahns. Das klingt nicht sehr gesund. Du bist kein Betawellen beherrschender Gott, du hast vielleicht gerade mal einen Fetisch in dir entdeckt. Ich meine, ist es nun dein Lebensziel dich ausschließlich hin auf jenen perfekten Traumsex zu konditionieren?“

„Das ist das herzzerbrechende, beinahe schicksalhafte Dilemma an der Geschichte. Ich bezweifle, dass ich diese meta-selbstbefriedigende Situation jemals reproduzieren werden kann.“

„Dann sei dankbar für einen erfrischend-seltenen Bonus auf der Durststrecke.“

„Du verstehst mich nicht.“

„Was willst du denn von mir? Ich muss keine deiner kleinen Wahnsinnigkeiten verstehen. Ich bin nicht dein Psychoanalytiker.“

„Irgendwie schon.“

„Gute Nacht, Erlach.“

„Gute Nacht, Dinetti.“

Da stellt man sich dann doch automatisch die Frage warum einem immer so

eine Scheiße passieren muss. Es regnet seit zwei Stunden im großen Stil sprich wie im Regenwald. Ich sitze alleine unter dem Vordach des geschlossenen Informationsstandes vom Kanton Sabaya dem bolivianischen Niemandsland. Es regnet hier nie! Aber natürlich werde ich eingeweicht, sobald ich meinen fetten Gringo-Hintern in diese Gefilde zu schleppen. Erst wühlten die dicken Tropfen den trockenen feinen Dreck um die Dornbüsche auf und nun ist die Atmosphäre um mich ein einziger Teig. Außerdem juckt dieser Regen auf der Haut. Sabaya hat vielleicht gerade mal 2000 Einwohner und alle züchten Lamas. Gott, wie trostlos ist diese Aussicht, eine bis zum Himmel staubende Steppe. Am Vormittag holperte ich noch zufrieden mit meinem Leihwagen am Volcano Isluga Nationalpark vorbei. Die Lebensfreude quoll mir da noch aus den Ohren, die Welt hätte nicht schöner sein können. Der Rückweg nach La Paz wurde zum Umweg, da ich noch, wie bereits erwähnt, meinen oberflächlichen Kumpel Alejandro besuchen möchte. Eine Überraschung hätte es werden sollen. Obwohl um ehrlich zu sein ist der Grund, dass ich zu früh hier bin, wohl eher meine miserable Routenplanung. Aus irgendeinem menschenverachtenden Grund dachte ich tatsächlich, dass ich mit nichts als der veralteten Straßenkarte ausgestattet Alejandros Anwesen finden würde. So habe ich erst das elende Auto an den Straßenrand geparkt und bin dann für eine Stunde herumgeirrt. Nach einigen Auskunft-gebenden Passanten, die hier wahrlich spärlich gesät sind, platzte dann der Himmel auf und durchnässte mich, beinahe wie damals vor dem Akademietheater. Ich bezweifle, dass ich den Wagen wiederfinden werde, gegeben er wurde nicht bereits in einer grau-braunen Dreckmure weggeschwemmt. Vielleicht finden Alejandro und ich morgen am in die Stadt das zerrostete Wrack in einem Graben, eins geworden mit dem Brachland. Die Straße ist richtig, dessen bin ich mir sicher, doch nicht ob ich nun links zurück- oder rechts weitergehen soll. War es etwa doch dieses Tor gewesen, das mir so falsch vorgekommen war, an dem ich erhaben vorbeigeschlendert war. Es regnet etwas schwächer. Schnell zurück, denn die Beine gehen mittlerweile von ganz alleine. Die Taubheit die sich durch lange Märsche einstellt erweist sich als Segen. Es scheint tatsächlich das richtige Tor zu sein, das sagt mir mein Gefühl. Der Riegel sitzt locker auf der anderen Seite des Tors und das Schloss, das offen daran hängt, lädt mich herzlich ein. Das Tor ist schließlich keineswegs verschlossen, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Der erste Instinkt stimmt immer oder meistens, oder er bringt dich um. Trotzdem ärgert mich der unnötige Weg, welcher unbedingt zurückgelegt werden wollte. Unentschlossenheit und Ungeduld sind zwei Gefühlsregungen die man besser voneinander entfernt halten sollte. Ein hechtender Seitensprung über den seitlichen Gitterverhang des Tores reichte, und ich stand auf Privatgrund. Sind das Sukkulenten? Baut Alejandro hier Wüstenpflanzen an? Perfekt, ich habe Hunger und da gibt es wahrscheinlich nichts als Kakteen zum kauen. Gut, dass Dinetti nicht hier ist, um meine schlechten Scherze und die Sachlage zu bemängeln. Nach einer weiteren halben Stunde des Wanderns zeigt sich sehr deutlich wie riesig die „Plantage“ ist. Ich muss gestehen langsam macht sich Verzweiflung breit, und obwohl der Dreckregen vorbei ist, reibt meine feucht-schlammige Kleidung meine Glieder wund. Mal sehen ob ich ein Handysignal erwische. Moment, ich höre ein Motorengeräusch. Erst ist mir meine blöde Lage zu peinlich, um mich bemerkbar zu machen, doch dann schaltet sich der brauchbare Teil meines Gehirns ein. Als meine Augen den krachenden Pickup ausmachen, wird dann jegliche Scham ignoriert. Ich schreie und winke mit beiden Armen dem Fahrer zu, hysterisch wie ein verlorenes, kleines Kind, gerettet.

Der Wagen ist rostzerfressen und jenseits von lackiert. Zwei plumpe Männer stehen auf dessen Ladefläche, wobei der Fahrer hinter der blendenden Windschutzscheibe visuell anonym verbleibt. Das wippende Gefährt stoppt drei Meter entfernt vor mir. Die kaputten Achsen fluchen laut nach, als der Motor schon abgestellt ist. Als ich mich auf sie zubewege mit überschwänglich freundlicher Körpersprache, beginnt ein Murmeln. Diese Männer scheinen indigene Wurzeln zu haben, eher klein aber sehr stämmig. Keiner spricht mich direkt an. Ob sie Angst vor mir haben? Alle drei starren bloß durch verspiegelte Fliegersonnenbrillen. Ich komme winkend bei der Fahrertür an. Die von hohen Strohhüten in Schatten gelegten Gesichter straffen sich wie Leder, und die Augenwinkel des nun sichtbaren Fahrers zucken. Ohne den Blick von mir abzuwenden sprechen sie in einem mir vollends unverständlichen Dialekt miteinander, als ob die direkte Kontaktaufnahme mit mir außer Frage stünde. Mein miserables Spanisch will die Lage erklären. Ich bin mir einer eigenen Dummheit durchaus bewusst und dementsprechend reuig lächelnd wedle ich mit dem Handy. Kein Empfang, verstanden? Ihr begriffsstutzigen Indianer. Wie oft muss ich euch denn noch den vollen Namen meines Freundes Alejandro vorbeten. Kein Wunder, dass die Konquistadoren die Geduld mit euch verloren haben. Gut, ich habe mich verlaufen, dann hängt mich doch auf! Einer der plumpen Männer springt hinten vom Wagen und fängt an mich aus der Nähe zu mustern. Er ist als einziger glatt rasiert und trägt einen Goldring. Plötzlich bellt er mir Fragen entgegen, auf die ich nur Achselzuckend reagieren kann. Ich weiß nicht was „país“ bedeutet. Er deutet mir zur Beifahrertür mitzukommen. Als ich nicht sofort reagiere will er schon nach mir greifen. Umgehend tue wie mir mit dem Fingerzeig befohlen wird und irgendwie wird mir etwas unwohl. Der Chef holt aus dem Handschuhfach einen Führerschein. Diesen hält er mir ins Gesicht und zeigt dann auf meine Taschen. Der hellhäutige Junge auf dem Foto sieht keinem der Indios ähnlich, und es scheint sich um einen mexikanischen Ausweis zu handeln. Wieder zeigt der Rasierte auf meine Taschen und dann auf den Führerschein. Die anderen bellen nun auch in meine Richtung. Offensichtlich möchten sie meinen Pass sehen oder dergleichen. Ich verstehe nicht ganz, unterstreiche dies mit Handflächen nach oben und rede mir zwanghaft ein, dass die Herren ja Mitglieder der Exekutive sein könnten. Sie schnappen sich meine Geldbörse, wobei mir zeitgleich ein Stich durch den After schießt. Meine Schließmuskeln dort waren wahrscheinlich noch nie dermaßen angespannt. Er arbeitet sich durch meine Personalien und blättert auch auf die hinteren Seiten meines Passes, um zu sehen wo ich bereits auf meinen spärlichen Reisen gewesen bin. Ich wiederhole den Namen der Acienda nochmals, doch er reagiert mit einer Frage an seine Kollegen. Es klingt nach verwirrtem Interesse an der geographischen Lage Österreichs, doch ich bin nicht sicher. Im nächsten Moment steckt er meine Dokumente in seine staubigen Jeans und fasst mich unterjochend fest am Arm. Mit einer Geste zwischen Hilfsbereitschaft und Verhaftung verfrachtet er mich auf den Beifahrersitz. Als ich abermals nach Alejandro frage, mit leicht brechender Stimme, bekomme ich endlich ein beruhigendes Nicken des ausgezehrten Fahrers. Spindeldürre Finger setzen das Gefährt wieder in Gang. Der dicke Dritte grinst mir durch das scheibenlose Rückfenster ins Gesicht. Ich habe noch nie einen derart verrußten Menschen gesehen wie ihn. Er ist wohl Minenarbeiter. Der rasierte Chef setzt sich neben mich, und in der Mitte eingekeilt spüre ich, dass mein Hemd mit einem Mal schweißnass ist.

Warum liege ich auf Beton? Ich schmecke Chemikalien auf meinen Lippen und die Augenlider lassen sich nicht weiter öffnen als Halbmast. Mit etwas Anstrengung kann ich den Kopf vielleicht um ein weiteres Grad heben. Mein Arm hängt irgendwo fest. Weshalb sind meine Glieder so verdreht, als ob ich hier am Fleck einfach zusammengebrochen wäre. Die Autofahrt mit den fremden Männern ist mir nur noch ganz verschwommen im Gedächtnis geblieben. Stetig wurden Fragen an mich gerichtet, die ich trotz ihres ernsten Tonfalls nicht verstand. Ja, Angst, ich erinnere mich an Angst. Das war irgendwie das Letzte was mir jetzt einfällt. Eine Hand, die sich auf mein Gesicht drückt? Oder habe ich das geträumt? Wurde ich doch verhaftet? Dinetti ist auch nicht hier. Der wüsste vielleicht noch mehr. Das feige Schwein traut sich natürlich im Ernstfall nicht raus.

Im trüben Licht einer dreckigen Glühbirne formen sich nun die entfernten Silhouetten einiger Männer. Offensichtlich interessieren sich mittlerweile auch meine Augen für das verschwommene Mysterium meiner gegenwärtigen Umstände. Der Raum ist zu dunkel um seine Dimensionen nicht einzuschätzen, aber es fühlt und atmet sich wie in einem toten Keller. Da sind auch wieder die nativen Bolivianer von vorhin und drei bis vier neue. Weitere Minenarbeiter, wie es scheint, da sie in ihren kohleverkrusteten Lumpen dastehen. Sie sprechen miteinander, in mehrere Grüppchen an einem Tisch ohne Stühle verteilt. Ich würde mehr erkennen, wenn mir mein schlaffer Arm nicht vorm Gesicht baumeln würde.

„Offensichtlich bist du an ein Stahlrohr des Kesselsystems hinter dir gefesselt, mit Kabelbinder, wie es aussieht. Da kommst du nicht los.“

„Du bist ja doch hier. Sag, bin ich in Gefahr?“

„Still!“

Einer der Bolivianer hockt direkt neben mir und kaut hypnotisiert an einem geräucherten Stück Fleisch, den Blick auf seine Kollegen. Er stinkt nach Stall und seine Zehen, das Einzige was meine Augen relativ scharf stellen können, sind gelb und einfach abstoßend. Es ist Dinetti. Ich versuche erneut zu sprechen, will sagen, dass es sich anfühlt als ob das Blut zu meiner Hand abschnürt sei. Dinetti ist schneller und wenig zimperlich.

„Die haben dich mit Chloroform betäubt und dich jetzt zu ihrer kleinen Geisel gemacht. So ist das. Jetzt besprechen sie, was sie mit dir machen sollen. Da schau, sie gehen durch deine Papiere, suchen nach Frau oder Familie, die man kontaktieren könnte.“

Tatsächlich mache ich aus wie sie jeden Millimeter meiner Geldtasche durchkämmen, jede Visitenkarte oder dergleichen auf einen Stapel werfen und immer wieder neu beginnen meinen Reisepass zu lesen. Sie scheinen einige Schwierigkeiten mit der Sprache und vor allem mit der Identifikation meiner Herkunft zu haben. Die drei Neuen wirken äußerst nervös, die sandig-schwarzen Fingernägel kauend, betrachten sie mich, nur um sich dann wie im Schock sofort wieder wegzudrehen. Einer der hinzu gekommenen Entführer hört gar nicht mehr auf zu schreien. Seiner Meinung nach war die Obduktion meiner Person wohl nicht sehr klug. Doch der glattrasierte Chef setzt sich mit einigen mulmig machenden Erwiderungen durch.

„Unruhige Zeitgenossen, wir Indios. Das alles könnte echt böse enden. An deiner Stelle würd ich hoffen, dass sie sich für ein Lösegeld entscheiden, anstatt aufzugeben, und den Gringo einfach verschwinden zu lassen, Spuren verwischen, du weißt schon.“

Bei dem Versuch, eine positive Antwort herauszuwürgen, spüre ich plötzlich, wie das Rohr, an das mein Unterarm festgebunden ist, langsam heißer wird. Jemand hat in den oberen Zimmern das heiße Wasser aufgedreht. Haben die mich in ihrer Idiotie an eine Leitung des Boilers geschnallt? Sind die denn wahnsinnig oder Absicht?! Das ist doch keine Folter. Ihr habt doch noch nicht einmal bemerkt, dass ich leide. Heiß. Die Panik ist grausam. Würden sie warten bis ich mir vor Schmerz die eigenen Finger abbeiße? Heißer. Ich bin noch immer zu benommen um mich richtig zu bewegen. Ich bin einer dieser Würmer auf kochenden Steinplatten im Zen Garten. Keiner schert sich um meinen starr-vertrockneten kleinen Körper. Ich blicke auf zu Dinetti, der nur kaut und starrt.

„Das Rohr, es wird heiß.“

Du brabbelst, Erlach. Ich weiß, dass das Rohr heiß wird. Was soll ich bitte machen?“

„Es verbrennt mir das Handgelenk!“

Heißer! Ich werde lauter und entscheide mich ziemlich schnell, meinen Entführern die Sachlage mitzuteilen. Ich jaule etwas wie „caliente“ und „fuego“ in verzweifelter Hoffnung. Mehr lässt sich nicht aus einem nicht vorhandenen Vokabular zusammenkratzen. Einer der nervösen Neuen wird auf mich aufmerksam und kommt mit einer Taschenlampe auf mich zu, die Hand vor dem Gesicht, das ich, selbst wenn ich wollte, nicht einmal in seinen Konturen erkennen könnte. Er leuchtet mir ins Gesicht und klingt etwas ungehalten. Dinetti flüstert mir ins Ohr. Ich rieche bereits die Härchen an meiner Hand versengen.

„Pass auf Erlach, beruhige dich. Halt dich zurück.“

„Raus aus meinem Hirn, Dinetti du kranke Sau. Ich verbrenne.“

Zu heiß! Ich muss weg. Das Rohr gibt schon nach, ja, ich spüre es. Schmerz zieht von meinen Arm nach oben in meine Brust und öffnet mir die Lungen. Ich fühle wie ich schreie, den zornigen Mann über mir dabei weit übertönend. Die restliche Bande am Tisch wird unruhig und brüllt durcheinander. Dinetti steht auf und geht in eine der stockdunklen Ecken ab.

„Erlach, lass es! Bleib hier!“

Erst das eine Knie und jetzt das andere. Ich bin fast auf den Beinen, spucke Feuer. Wer packt mich an den Haaren? Wer reißt mir den Kopf nach hinten? Ich sehe eine Fratze, das Rot wo Weiß in den Augen sein sollte, ein Maul, das sich gebieterisch vor meiner Nase aufreißt, um mein Aufbäumen zu unterbinden. Doch nichts ist zu hören, Dinetti ist ebenfalls still und nur mein eigener endloser Schrei wummert in meiner Stirn. Ich zerre an dem Rohr, an diesem höllischen Stück Metall und gleich bin ich befreit, kein Zweifel. Das blendende Licht der Taschenlampe in der Hand des Südamerikaners entfernt sich bereits in den Hintergrund und lässt mich blind zurück. Mit wutverbrannter Geschwindigkeit und Wucht kehrt der Schein plötzlich zurück. Schwarz Violett. Die erste hundertstel-Sekunde eines knackenden, dumpfen Schlags schneide ich noch mit. Meine Verrenkungen enden abrupt. Schwerelos, und dann Ruhe.

Mein Bett in Wien, kühl, jedoch verschwitzt. Alles will still sein. Ich bin nackt und fühle mich, als ob mein ganzer Körper von Grippe gebeutelt würde. Ich klatsche meine feuchten Fußsohlen voran ins tote Wohnzimmer. Das ganze Haus ist ins dunkles Zwielicht getaucht und die Fenster sind pechschwarz. Nichtsdestotrotz liegt auf den Möbeln, den Büchern und den Bildern an den Wänden ein silbern leuchtender Film. Ich bin zu Hause, doch keine der Details sind erkennbar. Ich kann nicht fokussieren. Mein Kopf schmerzt und mein Mundbereich strahlt pochende Hitze aus. Ich versuche am Weg in die Küche streichelnd mein Kiefer zu beschwichtigen. Sogar das Leselicht über dem Tresen scheint trüber als sonst, doch das Wasser, das ich mir ins Gesicht schütte erfrischt mich wie erwartet. Gott sei Dank. Nur die Orientierungslosigkeit bleibt. Warum ist kein Geschirr in der Spüle. Moment, bin ich nicht ausgezogen? Was ist passiert? Jemand putzt sich die Zähne im Badezimmer. Unter der Tür fällt das gleiche elendig-milchige Licht wie in der Küche durch den Spalt. Marleen? Die Tür knarrt, sie sieht mich im Spiegel und fährt herum.

„Hannes! Bist du total verrückt geworden.“

Sie hält die Hände an die Brust und atmet mehrmals tief aus. Wässrige Zahncreme läuft ihr aus dem Mund auf die gelben Blumenmuster des gelben Bademantels. Sie schüttelt den Kopf und berührt dann plötzlich meine Wange. Sie streichelt mich.

„So ein Schreck! Du Idiot, du weißt ich hasse das … Was ist denn mit dir? Ist dir schlecht, musst du dich übergeben?“

Ich fühle ihre Hand auf meine Schultern wandern. Ein zittriges Beben in den Schultern macht sich breit, beim Versuch mich mit gestreckten Armen und in den Türstock gestemmt aufzurichten. Die Atmosphäre versucht mich zu zerquetschen. Mein Gesichtsausdruck ist so verzerrt, dass es weh tut. Nach einem staubigen Schlucken spreche ich unbeholfen.

„Was mache ich hier, Marleen?“

Das tatsächliche Funktionieren meiner Stimme verblüfft mich.

„Keine Ahnung. Du bist vor einer Stunde ins Bett gegangen. Hast du was? Vielleicht bist du geschlafwandelt. Komm, zurück ins Bett. Ich bin gleich bei dir.“

„Halt, nimm die Hände weg! Was mache ich hier? Ich war gerade noch in Bolivien, oder irgendwo, irgendwo in Sabaya, gerade eben, da waren diese, diese …“

Marleens Augen lassen mich erschauern. Ich muss wie ein Geisteskranker aussehen. Sitzen! An der Türe hinabgleitend kauere ich mich schließlich am Boden zwischen Küche und Badezimmer zusammen. Ich kann nicht aufhören an meinen Zeigefingerknöchel zu kauen. Sie kniet sich neben mich hin und streichelt meinen schweißgebadeten Kopf.

„Hannes, ganz ruhig, hör mir zu. Du bist schon wieder zurück. Keine Sorge. Alles ist gut.“

„Nein, Blödsinn, ich könnte mich an keinen Flug, auf keine Fahrt hierher erinnern. Das kann ich doch nicht alles vergessen haben.“

„Glaub mir doch, alles ist gut. Du bist zuhause und alles ist vorbei. Keine Angst vor bösen Träumen. Sch, sch, sch, beruhige dich.“

„Ich … ich kann nicht hier sein. Vor einem Moment war ich noch in einem anderen Land, einem anderen Kontinent, verflucht nochmal. Wie bin ich hierher gekommen!?“

„Sch, sch, alles ist in Ordnung. Bitte, versuch dich zu beruhigen. Ich mache dir einen Tee. Pass auf, das hilft dir sicher.“

Marleen tänzelt barfuß zum Herd und stellt Wasser auf. Ich kann mich nicht bewegen und der Schmerz vom Unterkiefer kehrt jetzt langsam zurück. Vielleicht habe ich geträumt. Zahnweh hat einen irren, realen Traum ausgelöst. Ich taste jeden Zahn einzeln ab und stammle mit den Fingern im Mund.

„Seit wann bin ich zurück?“

Das Wasser kocht bereits laut und ich bekomme keine Antwort von Marleen. Sie ist hinter den Schränken verschwunden, in Teesäckchen wühlend. Perplex in einem Zustand der Betäubung kann ich keinen geraden Gedanken fassen. Doch ein Gefühl der Sicherheit schleicht sich ein. Ich merke, dass ich nun langsamer atme. Die Welt um mich wird etwas klarer und annehmbarer, fast heller. Irgendetwas lässt mir dennoch keine Ruhe. Wie ein mikroskopisch kleiner Splitter zwischen den Zehen. Bei jedem versuchten Schritt des Erinnerns fühle ich den Stich des Ungeklärten. Entgeistert kann ich meinen Blick nicht mehr vom Maserungsmuster des Türstocks nehmen.

„Hatte ich denn einen Unfall in Bolivien? Ich erinnere mich an Männer, die mich entführen wollten, an einen Schlag… keine Ahnung. Habe ich Amnesie? Hatte ich gestern Amnesie? Ich meine, natürlich, das würde es erklären, diesen Filmriss und…“

Das kochende Wasser wird in eine Tasse gegossen. Das plätschernde Geräusch schließt mir die Augen. Die wohltuende Stimme von der Seite haucht mir entgegen.

„Sch, sch, du bist vollkommen in Ordnung, nichts ist passiert und du bist hier, bei mir. Das ist alles was zählt. Keine Sorgen mehr jetzt. Trink deinen Tee und dann zurück ins Bett. “

Ich trinke. Mit jedem Schluck wird das Hier präsenter. Irgendwo in weiter Ferne höre ich Hunde bellen. Ja, zurück zu dir ins Bett, meine Liebe. Sie hat mich nie verlassen. Lächerlich. Wir bleiben für immer zusammen, wie versprochen. Ich beiße mir auf die Lippen, da ich verstehe. Kein Mitleid, nicht hier. Am liebsten würde ich mich nicht bewegen und alles auf Standbild schalten. Wie ein Kind bin ich überzeugt, dass es mit geschlossenen Augen möglich ist diese Welt festzuhalten. Ich schlucke den Rest des Traums hinunter und öffne widerwillig die Augen für einige letzte Phantasmen. Etwas Dunst verdeckt das Gesicht meiner Liebe zunächst, doch dann fährt sie durch die Schwaden mir entgegen. Sie ist nicht Marleen. Sie ist auch nicht meine bezaubernde Ana, noch die bolivianische Nymphe an der Kassa. Nein, hier ist sie wieder in Person. Meine Traumfrau, die sich selbst geboren hat. Sie wird nur gesehen, wenn sie es erlaubt. Sie ist nur für mich, und nicht einmal ich kann sie haben. Sie küsst mich und heißer Schmerz fährt mir vom Kinn weg in meine tiefsten Eingeweide. Doch ich wende mich nicht ab, ich packe sie und presse sie an mich, so eng, dass die Hitze uns beide lähmt und zusammenschweißt. Sie sagt, ich solle bleiben und ich nicke unter Schweiß und Tränen. Ich gebe auf, da ich spüre wie mein Leben nach mir ruft. Es greift nach mir und zerrt mich aus der heiligen Ruhe, welche enden musste, doch für immer dafür verdammt sei, dass sie es tat.

Mein eigenes Stöhnen weckt mich auf. Nun fühlt sich die Sache schon um einiges realer an. Mein Kopf kreist, erst ohne sich zu bewegen, dann steige ich ein und imitiere den Phantomhubschrauber mit meinem Hals. Wie soll man den bitte derart ramponiert ausmachen können, an welchem Ort man sich befindet? Vier Ecken spitzen sich vor mir zu, das Selbe über mir und wahrscheinlich noch ein paar von denen hinter mir. Es ist ein Raum. Das rudimentäre Studium der Architektur beweist wieder einmal all seinen Nutzen. Ich setze mich auf und das mit eigentümlicher Leichtigkeit. Die Gelenksschmerzen hallen ein wenig nach, doch ich spüre keine Chemikalien-bedingte Schwäche mehr. Nur ein stummes Rauschen sensibilisiert mich von den Zehen- bis in die Haarspitzen. Mein Lager ist eine antike Couch aus grauem Fließ. Die Schaumstoffpolsterung lugt aus diversen Stellen hervor und der zerfressene Stoff lässt auf Beheimatung mehrerer Ungezieferkolonien schließen. Umgeben von übelriechenden Tierhaaren und Bisspuren graut mir nun vor dem Gedanken, wie viel ominöser Grind bereits in diese dünnen Bezüge eingetrocknet ist. Von der Kante aus, scheint der Fußboden weit entfernt. Dermaßen weit entfernt, dass ich um die zehn Minuten benötige, den Willen aufzubringen mich darauf zuzubewegen. Und ich stehe. Mein Genick knackt haarsträubend als ich mich strecke. Gott, wie lange bin ich hier gelegen. Meine Knie schwanken immer noch, doch dieses katerähnliche Gefühl ist mir mehr vertraut, als das Chloroform, das wie es nun scheint vor Ewigkeiten meine Nervenstränge nahezu gelähmt hatte. Nein, ich kenne diese zittrige Leichtigkeit in den Extremitäten. Es riecht ätzend scharf nach Tierfäkalien und etwas, das an verdorbenes Katzenfutter erinnert. Halbvolle Futterschalen erklären dies. Der Raum ist durch ein Lämpchen des winzigen Badezimmerspiegels neben der Eingangstür erleuchtet. Kein Fenster hier, nicht einmal ein Spalt. Das elf Quadratmeter große Zimmer ist niedrig, sodass ich gebückt gehen muss. Asphaltierter Boden wie Decke umgeben mich und die Wände sind dick verputzt. Eine morsche Kiste steht in der Ecke. Einige verdreckte Decken und Polster liegen ringsum verteilt am Boden. Hundehaare, doch keine Hunde. Der Nachtfalter in mir bewegt sich auf den beleuchteten Spiegel zu. Erst jetzt bemerke ich, dass kein Teil von mir gefesselt ist, nur mein Handgelenk fühlt sich geschwollen an und pulsiert warm. Das Neonlicht zeigt meinen halben Unterarm verbrannt, zerschunden und von schwarzen Krusten überzogen. Auf diesen Anblick hin will sich mein Gesicht reflexartig angewidert verziehen. Ich sterbe! Mein Unterkiefer fällt auseinander und mein Herz bleibt stehen… für einen Moment. Die Befestigungen des Waschbeckens knarren unter meinem leidend darauf gestütztem Gewicht und mein mir zustehender Wehschrei wird durch die orale Sperre zu einem Krächzen gedämpft. Ich winde meinen ganzen Oberkörper in Richtung meiner Reflektion. Wo ist er? Wo ist er, der Mensch hinter dieser Grimasse? Vor mir im Spiegel sehe ich nur eine abartige Clownsmaske der grausamsten Unterwelt. Jemand hat die untere Hälfte meiner Gesichtspartien zerschlagen. Die Unterlippe ist zur doppelten Größe angeschwollen wobei die obere in der Mitte aufgeplatzt und in zwei Teile gespalten wurde. Die vorderen Schneidezähne sind in der Mitte abgebrochen und die untere linke Zahnreihe um 45 Grad nach innen geknickt. Der gesamte Kiefer hängt schwarz rot aufgedunsen leicht nach rechts, als ob er nicht mehr richtig mit dem Schädelknochen verbunden wäre, als ob jemand mit einer kleinen Sprengladung mein unteres Gesicht stoßlüften wollte. Es erinnert ganz entfernt an eine furchtbar falsch gelaufene Imitation von Marlon Brandos Mimik in „Der Pate“. Ich darf nicht lachen! Jede kleinste Bewegung des Kopfes schmerzt das nutzlose hängende Ding. Meine Taschen sind leer und meine Füße sind bar. Sie haben meine scheiß-billigen Clarks geklaut. Ich zweifle wahrhaftig an der Professionalität dieser Entführer. Mir ist heiß. Ein Eckzahn hängt lose am dünnen Zahnfleischnerv. Der muss raus. Als Kind hatte ich einen ähnliches, unentschieden baumelndes Beißwerkzeug. Ich entschied damals zum allerersten Mal Skateboard zu fahren und mein Plan ging auf. Ich schlug mir beim ersten Versuch zu tricksen mit dem Kugellager den Störenfried aus dem Mund. Wo sollte ich die Kraft hernehmen mich jetzt m diesen hier zu kümmern? Nur der Schweiß tropft noch stetig von meiner Nasenspitze und brennt in den entzündeten Wunden. Fieber? Ohne viel Hoffnung versuche ich die schwere Tür meiner „Zelle“ zu öffnen. Die weist aber nicht einmal eine Türklinge auf. Ich blöke wie Schaf am Weg zurück zum greisen Futon. Die Hundedecken unter mit und ihre Keime würde ich zwar lieber meiden, doch kann ich mein Gewicht nicht mehr tragen. Wo zum Teufel ist Dinetti?

Ein Schwächeanfall bringt mich zu Fall. Schwarz Violett. Ich liege unversehens am Boden und spüre von innen massiven Druck, der meine Schläfen aufzuplatzen droht. Wieder Ruhe.

Nackt und um mich herum schmieriges Erbrochenes. Die letzten Stunden hindurch scheine ich mich, im halben Bewusstsein meiner geistigen Kräfte manisch am Boden gewunden und dabei meine Kleider abgestreift zu haben. Nun geht es etwas besser, doch soviel ist klar, ich bin im Fieberwahn. Nüchtern gesehen, kein Problem. Alles rausschwitzen, viel trinken. Doch ich bin hier in meinem kleinen bolivianischen Kerker ohne Wächter. Mein Schädel brummt wie der Grand Prix von Imola, und ich kann gar nicht soviel vermeintlich kontaminiertes Leitungswasser trinken wie ich wieder rauswürge. Über mir erhebt sich das dreckige Billigbecken, das einzelne Tropfen auf meine Stirn schickt, da direkt drunter im Schatten liege. Mein subjektives Zeitgefühl hat sich gestern verabschiedet, oder schon seit letzter Woche. Um meiner Zurechnungsfähigkeit zu versichern, dass in diesem Loch die Zeit überhaupt verstreicht, klicke ich mit einem abgebrochenen Leitungsventil ungefähr im Sekundentakt gegen das dick verrostete Abflussrohr. Gleichmäßig atmen, Hannes. Ich darf nicht noch mehr Flüssigkeit verlieren. Meine Gänsehaut geht nicht mehr weg. Sie ist silbern in diesem Licht. Wer ist das eigentlich, der in dieses nasse, tote Fleisch gehüllt ist? Die Holzkiste auf der andren Seite des Zimmers, unerreichbar, aber ein Ruhepol. Das einzige hier, dass nicht nach Verderben riecht. In der verschwommenen Maserung der Kiste sehe ich Menschen. Es ist meine Familie. Vater, Mutter, mein Onkel, Tante Andi und da! Ein Haufen von Freunden und Kollegen. Moment, einige blicken abfällig drein, als ob sie sagen wollten, ich hätte es wohl nicht anders verdient. Kommt doch her und sagt mir das ins zerfickte Gesicht. Besorgte Eltern und ein skeptischer Bruder. Der soll sich selber zusammenreißen. Telemarketing und Kiffen ist auch kein Lebensinhalt. Ach, ich habe auch immer Pech auf langen Reisen. Letztes Jahr verlier ich meine RayBan Sonnenbrille und jetzt das. Marleen in der Holzmaserung lacht mich aus. Ja, lach nur. Ich schieße dir mein Sekundenmetallstück zwischen die Augen, das ist aus Kupfer! Mein improvisiertes Chronometer knallt das Ziel weit verfehlend hinter der Couch auf Beton. Ana sitzt daneben im Schneidersitz und nickt mir zu. Wer weiß, was die damit meint. Keiner spricht. Dinetti ist ein verdammter Opportunist. Gerade wenn man das Gespräch mit seinen vertrauten Wahnvorstellungen bräuchte, verstecken sie sich hinter billigen Halluzinationen. Ich könnte ohnehin meinen Mund nicht bewegen. Meine Zunge stößt ständig auf die nach innen gebrochene Zahnreihe. Als ob sie einen eigenen Willen hätte, versucht sie ständig alles wieder grade zu richten. Es macht mich verrückt und schmerzt wie nichts Vergleichbares zuvor. Schluss! Vorsichtig lege ich die Finger auf die drei verdrehten Zähne. Tief einatmen. Die Luft steht. Das Lämpchen knistert. Meine Zehen ballen sich. Ein kräftiger Ruck! Auf das Echo ähnlich einer zerbröselnden Weinbergschnecke folgt erneuter Stromausfall.

Zwei Liter Blut waren ausgelaufen bevor sich das offene Zahnfleisch wieder verschlossen hat und ich zu mir gekommen bin. Mein Unterhemd ist vorsichtig in meinen Mund gestopft. Ich knie vor vier weißen Stückchen Körpersubstanz, vier Teile meines Knochenbaus und kann vor Schwindel meine Augen kaum öffnen. Das Interesse an dem verursachten Schaden ist nicht annähernd groß genug, um mich aufzuraffen und in den Spiegel zu blicken. Diese weitere Verwüstung meiner Fresse zu begutachten würde mich sicherlich umbringen. Ein von Eitelkeit geplagter Mensch wie ich, der seine Züge so verherrlicht, pflegt und seinem eigenem Charme jeden Morgen von Neuem erliegt, muss nun sehen wie er auseinanderbröckelt. Bei Gott, wie empfindlich ich immer in Hinsicht auf mein Gebiss war. Die schlimmsten Alpträume waren die über Zahnverlust. Der Grauen des Zahnarztbesuchs. Und nun liegen mein Reste meines Gesicht vor mir am Boden, für immer verloren. Habe ich etwa begonnen mich selber abzureißen? Mein vom Hemd geknebeltes Wimmern wird mir plötzlich bewusst. Der Blutverlust hat mich in einen allzu nüchternen Schockzustand katapultiert. Ich sehne mich nach der benebelten Lethargie des Fiebers zuvor. Jetzt bricht es alles hervor. Oh mein Gott! Ich wurde entführt, geschlagen und eingesperrt, vielleicht alles nur um mich verhungern zu lassen wie eine zweibeinige Ratte. Da waren keine nützlichen Kontakte in meinen Reisepapieren. Und ohne die Aussicht auf Entgelt besteht kein Nutzen für mich. Ich bin Ballast. Sie werden meine Organe ernten wie bei einer Zuchtsau. Lasst mich gehen! Hört ihr mich?! Die Türe gibt schon nach. Ja, ich kann es fühlen, unter den bohrenden Schlägen meiner Faust wird sie aufschwingen, gleich, in einem Moment. Oder nutzen sich bereits meine Knöchel ab. Blutschmierte Flecken zeugen von meiner Täuschung an der Oberfläche des kalten und unbeeindruckten Türflügel. Ich würge eine neue gedämpfte Version meines Todesschreis hervor. Das Waschbecken! Dieses löst sich mit einem Tritt aber nun tatsächlich. Dreckiges Wasser quillt aus der Wand wie ein frische Quelle aus Morast. Mit Schwung wuchte ich das Becken an die verfluchte Scheißtür! Nichts. Der Boden sieht aus als ob nun auch ein Dinosaurier seine Zähne verloren hätte. Tausende Keramiksplitter und stinkende Rohre liegen überall im Zimmer verteilt, was meine ohnehin Substandard-Lebensbedingungen nicht unbedingt verbessert. Die Anstrengung hat jedoch gut getan. Jetzt für einen Moment hinlegen, kurz verschnaufen. Ich spüre die warmen, flach ansteigenden Wellen durch mein Abdomen ziehen. Das Fieber kommt zurück.

Armin klopft mir zu Gratulation auf die Schultern. Wir sitzen auf dem Gehsteig vor dem Eingang des WUKs. Eine laue Mitternacht. Dancehall-Musik wummert hinter uns im Inneren des Hofs. Ich nicke deprimiert im Takt. Die Straßen sind leer und nach einer Kopfbewegung nach rechts und links fällt auf, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen ist. Die Währinger Straße ist leergefegt. Nur ich und Armin. Er grinst mich an und ein einnehmender Blick bewirkt alsbald ein Grinsen meinerseits. Im Torbogen des Kulturhauses huscht ein schwarzes Etwas vorbei. Ich höre ein Hecheln. Meine besorgte Reaktion wird von Armin einfach kopfschüttelnd abgewinkt. Er hält mir eine Zigarette hin. Er raucht sich selber eine an und hält mir das Feuerzeug hin. Ich beruhige mich, doch da höre ich Klacken von dicken, kurzen Krallen auf Fliesengängen. Von Nervosität gehandicapt gelingt es mir nicht eine Flamme zu erzeugen. Ich drück die Reibfläche zum tausendsten Mal nach unten und der Zündstein hüpft resignierend in Funken durch die Luft. Diese Funken sind absurd groß und verglimmen am Asphalt der Straße nur langsam. Das alles ignoriert Armin und fixiert genüsslich rauchend einen grünen VW-Käfer vor ihm. Millionen Jahre der Evolution und ich kann nicht einmal Feuer machen. Ein Maul mit schwarzer, feuchter Nase nießt vor mir auf den Straßenbelag. Ein junger Stafford Terrier streckt direkt vor mir seinen Rücken durch und macht brav Platz. Schwarz glänzendes Fell und einen treues Hecheln in meine Richtung. Zu großen Hunden habe ich keine definitive Beziehung, weder Angst noch Vorlieben, doch wird mir bei diesem Exemplar etwas unwohl zumute. Ich stütze mich auf meine Arme und stelle unauffällig die Beine auf um gegebenenfalls schnell aufspringen zu können. Da berührt Armin nun wieder meine Schulter und schüttelt den Kopf implizierend, dass es nichts zu befürchten gäbe. Mein Verlangen zu rauchen flammt nun wieder auf, wie es leider das Feuerzeug verweigert zu tun. Fanatisch probiere ich das kaputte Ding in meiner Hand abermals. Die nun gigantischen, mannshohen Funken, die ich dabei sprühe erleuchten den Nachthimmel, purzeln von den Wänden und Dächern der Häuser um uns. Der Feuerregen bleibt in Dachrinnen und Hausdächern liegen und glüht noch minutenlang weiter. Bis hinauf zum Gürtel fliegen die grellen Sterne. Armin lacht entzückt von dem Spektakel. Ich muss Qualm inhalieren, das feine sengende Brenngeräusch meines Saugens hören. Es wird zum Wahn. Ich schreie. Hund und Armin starren mich verdutzt an.

Augen auf. Zurück im bolivianischen Hundezimmer. Gott, wann hatte ich meine letzte Zigarette? Nach ersten fiebrigen Versuchen mich zu bewegen, läuft die Menschmaschine plötzlich wieder etwas. Ich gehe dreimal im Kreis. Das Schwindelgefühl ist minimal und irgendwie scheint die Welt wieder zu existieren. Ich sehe meine Lage nun objektiv, zwar noch immer mit glühheißer Stirn und sabbernd, doch bin ich wieder fähig mich zu konzentrieren und vor allem zu hoffen. Meine Nikotinabhängigkeit war mir in meine Fieberträume gefolgt, wie nett von ihr. Plötzlich merke ich, dass die Musik meines Traumes, die gedämpften Beats, der unverständliche Gesang und die Bässe, immer noch zu spüren sind. Man kann sie hören! Sie sind hier. Das ist nicht das Fieber. Ich drücke mein Ohr erst an den Fußboden, dann an jede der vier Wände. Jene, an der mein Nachtlager Schrägstrich Kauspielzeug lehnt, vibriert leise wie das Lebenszeichen eines anderen Menschen. Irgendein jamaikanischer Sprechsänger der Dancehall-Szene krächzt seine Jah-preisenden Doppelreime über den ewig kreisenden Rhythmus. Sollte ich vielleicht auf mich aufmerksam machen, durch Klopfen oder Brüllen? Wahrscheinlich handelt es sich um eine Gruppe leicht beeinträchtigter Jugendlicher. Aber was wenn es sich um meine Entführer handelt, die ihren Gringo-Fang feiern? Haben sie es etwa doch geschafft meine Familie zu kontaktieren? Oder vielleicht Marleen. Das wäre fein! Sie würde sich schuldig fühlen und vor Sorge und schlechtem Gewissen eingehen. Ich fühle wie meine gespaltenen Lippen ein Lächeln zu formen suchen. Doch Kontakt muss ohnehin hergestellt werden, selbst wenn auf der anderen Seite der Wand diese brutale Bande wartet. Mittlerweile verzerre ich mich so sehr nach einem anderen Wesen, dass es mir gleich ist, ob Guerillas, Jesus oder Exilnazis. Vielleicht interessiert es ja jemanden in diesem Gebäude, dass nebenan ein elender Neurotiker im Fieberwahnsinn verdurstet. Wie ist wohl der derzeitige Stand der Lösegeldforderung? Ich bete zu den Göttern, dass das auch wirklich der Plan dieser Amateure ist. Meine Fäuste trommeln an die fest verputzte der Wand. Teile davon bröckeln bereits herab. Das muss man doch hören! Ich blöke erneut so laut wie es mein Zustand zulässt und werfe kurzerhand meinen ganzen Körper gegen die taube Wand. Nach gefühlten zehn Minuten, was durchaus bloß eine einzige gewesen sein könnte, muss ich verschnaufen. Meine unterdrückten Schläfen melden sich erneut zurück und ich fürchte wieder das Bewusstsein zu verlieren, doch nein, ich stehe noch. Gerade als ich mich bereit mache weiter zu rumoren, höre ich, dass die Musik lauter gedreht wird. Man hat mich gehört, doch wurde ich als störender Nachbar empfunden. Es reicht und ich werfe mein ganzes Gewicht in Richtung des frechen Packs. Man wird mich nicht ignorieren!Ring the alarm, another sound is dieing.“ Meinen Schlägen fehlt einfach die Wucht. Die Kiste! Erst muss ich sie in die Mitte des Raums schieben und dann so fest wie mir möglich an die Wand schmettern. Schieb, du blutiger Witz eines Mann! Keine Kraft mehr haben kannst du hernach. Die alte Kiste zerbricht beim armseligen Versuch sie hochzustemmend. Was mir von diesem Vorhaben bleibt ist ein Dutzend morscher Splitter im Ballen der ohnehin eiternd verbrannten Hand. „Yaga, yaga, yaga — yaga — yaga yo.“ Der ganze Inhalt der Kiste gibt sich mir nun preis. Peinlich wird mir bewusst, dass ich bis jetzt nicht auf die Idee gekommen bin hineinzusehen. Doch es finden sich vorerst nur weitere Decken, verschimmeltes Hundefutter, Seile, ein zerbissener Fußball und ein Autoreifen im Inneren. Ich wühle im staubig modrigen Dreck um die unteren Gegenstände hervorzuholen. Fast berauscht von der Möglichkeit etwas Nützliches zu finden tauche ich tiefer in den faulen Haufen Gerümpel. Leere und halbleere Einmachgläser ohne Aufschrift kommen zum Vorschein. Wahrscheinlich Chemikalien. Ich fühle Metall! „Please don’t buss your gun tonight.“ Eine Handfeuerwaffe? Zitternd halte ich tatsächlich eine kleine Pistole vor mein fiebriges Gesicht eines Geisteskranken. „Please, don’t take your brother’s light.“ In Bruchteilen von Sekunden male ich mir meine heroische Befreiung aus, meine gnadenlose Rache und meinen glorreichen Triumph über das Böse. Ich muss mich beruhigen. In meiner Lage laufe ich Gefahr mich selbst zu erschießen. Ganz ruhig, die Waffe muss erst einmal begutachtet werden. Kompakt wie so ein Minirevolver für die Freudenmädchen des Wilden Westens, im Strumpfband und so, Derringer heißen die doch. Kein Sicherungshebel oder dergleichen. Einfaches Konzept, zielen und abdrücken, schätze ich. Es gibt wohl keine bessere Art Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als eine Waffe abzufeuern. Natürlich, dann werde ich befreit, die Nachbarn kommen ganz bestimmt. Jetzt hat jemand die Musik ausgemacht. Egal, ich habe nun die Oberhand, jedenfalls im Dezibel-Bereich. Und wenn ihr Schweine glaubt ihr könntet hier lässig reinspazieren, ohne dass sich sofort eine Kugel in eure Stirn bohrt, dann habt ihr falsch gedacht! Völlig ahnungslos im Umgang mit Waffen ziele ich auf die mich ignorierende Wand und drücke ab. Kein Schuss, kein Klick, kein gar Nichts. Der Grund für die Verwahrung einer Waffe in einer Hundestallrumpelkiste wird mir nun klar. Munition fehlt oder es ist nicht einmal eine richtige Waffe. Solche Euphorie über ein Kinderspielzeug zu versprühen, welch Verschwendung. Unerwartet ruhig stecke ich das nutzlose Stück Feuerwaffe in meine mittlerweile gelbgrau-gefleckten Unterhosen und fühle ich mich irgendwie dadurch schon ruhiger, so ruhig, dass ich schon wieder müde werde. Vielleicht lege ich mich kurz hin. Einen Moment der Erholung. Ja, es ist doch alles gut. Hoffnung, das ist für die Schwachen, wozu brauche ich Hoffnung. Ich habe Schlaf und ein wärmendes Fieber, das meine hängende Kinnlade verbrennt und mich wohlig erzittern lässt. Schweiß trocknet kalt auf meiner Haut. Im Spiegel betrachte ich das Ende. Ich stehe hier und fürchte mich. Für einen Moment habe ich eine Vorstellung von meinem eigenen persönlichen Wahnsinn. Nur ein kleiner Schritt vorwärts und ich bin jenseits, nicht mehr zu retten. Ich kann es riechen. Das Irre.

Dinettis blaue Augen fixieren die meinen bis ich ihren Anblick nicht mehr aushalte. Sie hat kurzes, blondes Haar, völlig zerzaust und etwas schmutzig. Ihre Züge sind die einer vielleicht Siebenjährigen und lassen erraten, dass sie sich in meiner Gegenwart unwohl fühlt. Sie krallt sich an die Rockzipfel ihres abgetragenen Kleidchens, auf dem ich verblichene Blumenmuster ausmachen kann. Dinetti scheint meinen Anblick am Boden zwischen der vertrockneten Hundescheiße nicht zu ertragen. Ich den ihren ebenso wenig. Glänzend vom Eiter und vom Schweiß liege ich am Beton im Staub, meine nackten Glieder sind in einer gekreuzigten Jesuspose arrangiert und die Unterhose um mein taub pochendes Handgelenk geschlungen. In der rechten umklammere ich die trügerische Pistole und versuche sie wie unter Zwang ständig zu abfeuern, ohne ein Ziel. Ich starre an die graue Decke, die zeitweise wie ein Stroboskop eines Drum ‘N Bass Clubs flimmert. Das Lämpchen über dem zertrümmerten Waschbecken, welches ich die ganze Zeit hindurch angelassen habe, droht nämlich auszubrennen. Dies kündigt es durch ein hirnzersetzendes Flackern an. Dinetti kaut auf ihrer Unterlippe herum und bittet mich es doch bitte zu unterlassen ständig am Abzug des vermeintlichen Derringers zu ziehen. Geh zur Hölle, du Göre! Erst lässt du dich eine Ewigkeit nicht blicken und nun gehe ich zu Grunde. Das lässt du dir dann dich nicht entgehen, so etwas darf man nicht verpassen. Das ist schließlich auch dein Ableben, meine Liebe. Aber da ich immer noch unfähig bin zu sprechen, muss ich alles mitanhören.

„Sei mir nicht böse. Ich hätte dir nicht helfen können. Wenn du mich wirklich gebraucht hättest, wäre ich da gewesen. Das weißt du doch. Jetzt bleibe ich bei dir. Du solltest deine Wunden waschen. In den Gläsern, die du in der Kiste gefunden hast, ist vielleicht Alkohol oder ähnliches. Zum… Desinfizieren.“

Sie sagt das schwierige Wort langsam und bemüht, wie ein kleines Kind es eben sagen würde. So erweichst du mich nicht, Dinetti.

„Kannst du aufstehen? Jetzt, lass die blöde Pistole mal. Das ist doch gefährlich. Was wenn die plötzlich doch losgeht?!“

Das ist der Plan, gutes Kind. Meine Schläfen haben seit Ewigkeiten keine Ruhe und dehnen sich aus wie Kaugummiblasen, die um Hilfe rufen. Ich komme. Der Lauf der Pistole wird euch kühlen.

„Nimm doch die Pistole vom Kopf! Bist du wahnsinnig?!“

Ich bringe mich nicht um, aber am Leben lasse mich auch nicht. Die Chemikalien? Die sollte ich durchprobieren. Sicher effektiver als dieses verfluchte Requisit. Dinetti erhebt sich scheu mit dem Daumennagel im Mund und geht langsam im Kreis um mich herum.

„Du kannst nicht aufgeben. Lange dauert es nicht mehr. Ich höre ihn kommen. Morgen um die Zeit werden wir frei sein. Die Verletzungen werden heilen. Das alles wird vorbeigehen. Mach es nicht kaputt, dein Leben. Du musst deinen Geist zusammenhalten. Konzentriere dich auf die Welt da draußen. Sie wartet auf dich und hat keinen Grund dich hier verenden zu lassen. Konzentriere dich auf die Menschen, Freunde und Familie. Du wirst sie wiedersehen. Konzentriere dich auf mich. Ich bin deine Mitte, dein Rettungsring. Halt dich fest. Du brauchst mich, oder etwa nicht?“

Ich schüttle heftig den Kopf und unterdrücke die Schmerzen, die es verursacht. Ich hebe meine Rechte langsam. Die Pistole auf Dinettis kleinen Kopf gerichtet feuere ich eine symbolische Kugel zwischen die verzweifelten Kinderaugen. Sie schreckt zurück, beginnt zu weinen und hockt sich in die dunkle Ecke zu den besudelten Kopfkissen. Ich konzentriere mich tatsächlich auf Dinetti, doch nicht um meinen Lebenswillen wiederzufinden oder dergleichen, nein. Dinetti muss weg. Vater hatte Recht. Sie frisst mich auf. Ich kann hören wie sie betet. „Vater unser, der du bist im Himmel…“ Bewegungslos atme ich nun nur noch im Minutenrhythmus und lasse das Spektakel beginnen. Das leise Stimmchen Dinettis verliert sich im Hintergrund. Dafür erhebt sich ein schwaches Brummen aus dem Nichts. Beulen entstehen in der gerade noch ebenen Decke. „Geheiligt werde dein Name…“ Ich bin überzeugt, dass ich nun sterben werde. Gott, wie habe ich es verdient. Die ausgebeulten Stellen über mir krachen und Ächzen bröckelnd. Der Boden wölbt sich nun auch wie eine steinerne See. „Dein Reich komme…“ Die erst dumpfen Töne werden langsam deutlicher. Es klingt wie hunderte Hunde, in nicht einzuschätzender Entfernung durcheinander bellen und sich nähern. Wenn sie nur schon hier wären. „Dein Wille geschehe…“ Der Raum bäumt sich auf und dann erschlafft er wieder wie ein kranker Muskel, schlägt Wellen als ob ich mich in den Eingeweiden eines gigantischen Tieres befände. Plötzlich brechen einige der tanzenden Beulen im Raum auf. Löcher so groß wie Autoreifen. Glänzend weiße Aschewolken bilden sich um den einfallenden Schutts und kurz werden die pulsierenden Portale blendend erhellt. „Wie im Himmel, so auch auf Erden…“ Das Flackern des Spiegellämpchens scheint in der Frequenz schneller zu werden, wirft nun rot gelbe Schatten über das perforierende Schauspiel meines jüngsten Gerichts. Das Geifern und Jaulen ist so nahe. Wasser und lehmige Brocken Schlamm laufen die zerfurchten Wände entlang. „Unser tägliches Brot gib uns heute…“ Der Dreck verdunkelt die weiße Aura von eben. Das nun schon dunkelrote Neonlicht flimmert beinahe so hastig wie ein Filmprojektor. Das Gebell der bestialischen Meute kommt definitiv aus den aufgebrochenen Löchern. Ich spüre die verströmende Hitze ihrer unzähligen Mäuler bereits auf meinem Körper. Das infernale Zimmer bebt unter der Kraft meiner Gleichgültigkeit. „Und vergib uns unsere Schuld…“ Meine unzähligen Fehltritte und meine ganze geballte Unmenschlichkeit schießt mir wie durch den Kopf wie die Landschaft in einem ICE Abteil. Bereue ich tatsächlich meine Sünden, mein Leben? Krämpfe und ein unendlicher Zorn erfassen mich im Rhythmus des Bebens und werfen meine Glieder unkontrolliert in alle Richtungen. Plötzlich werfe ich halb mit Absicht halb im Anfall einen Brocken Beton in Richtung des betenden Kindes namens Dinetti und hoffe die dünne, doch unmöglich zu ignorierende Stimme zum Schweigen zu bringen. „Wie auch wir vergeben unserem Schuldigern…“ Ohne Erfolg. Das rote Licht ist nun nur noch ein dunkles Glimmen eines geisterhaften Fadens. Ich meine das erste Leuchten von gierigen Augen in den Öffnungen im Schutt zu erhaschen. Sie kommen. Dreckige Wasserfälle brechen durch die Mauern, sprengen meine Gefängnistür offen und schwemmen sie nach außen ins Dunkel weg. Ich bin frei. Mit etwas Anstrengung könnte ich den Ausgang, diesen reißenden Strom erreichen, mich in die Welt zurück spülen lassen. „Und führe uns nicht in Versuchung…“ Doch keiner der Muskeln gehorcht mehr. Ein Anfall schüttelt mich. Schreie aus Feuer. Wurstig glänzende Körper drängen sich aneinander vorbei hervor an die Oberfläche. Nasses Fell. Die Decke knickt mit einer mächtigen Faltbewegung in der Mitte nach innen und schwebt schwer ächzend über mir wie eine gigantische Axt, gewillt mich zweizuteilen. Mit einem drohenden Summen gibt das matschige dunkelrote Licht nun vollends aus. „Sondern erlöse uns von dem Bösen…“ Totale Dunkelheit. Zähnefletschendes Knurren umgibt mich sowie Grollen eines ganzen Gebäudes, das dabei ist zu kollabieren. Schwere vierbeinige Fleischklumpen laufen über mich hinweg. Sie stoßen mich. Erste Bisse, erstes Zerren. Verputz und ganze Wände brechen auf mich herab. Kleine und größere Brocken bedecken mich langsam. Direkt neben mir fühle ich die Präsenz des einen Zerberus, den Alpha-Teufel, seine Kiefer um meine Kehle platzierend. Machen wir dem Ganzen ein Ende. Schnell jetzt. Botschek wartet schon. Da ist es! Das ohrenbetäubende Krachen als ob die oberen Geschosse auf die unteren herab brechen. Millionen Hunde kreischen und heulen in tollwütigen Gebeten. Mein Hals wird von scharfen Kiefern zerquetscht, wie ein heißer Schraubstock klemmen sie meinen Lebensfaden ab. Blut blubbert entlang der oberen Speiseröhre in meinen fiebrigen Rachen. Ich schließe die Augen vor der Dunkelheit. Die Decke, das ganze Haus bricht mit allmächtiger Göttergewalt auf mich herein begräbt mich und meine Höllenhunde für immer. Amen.

Fortsetzung und Teil 2 des Buchs Schwarz Violett

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Josef Zorn

Fiction, knotty essays and fun little articles ENG/DE