Alle Wollen
Eine Sammlung von Kurzgeschichten (2013–2020)
Zauber
„Also wirklich, Herr Schubert!“ schimpft Nika und stößt mit ihrer Schuhspitze auf den Asphalt des Gehwegs um das nervige Steinchen zwischen Plastiksandale und Fuß zu lösen. Herr Schubert kann natürlich gar nichts dafür, denn er sitzt unschuldig im Puppenkinderwagen der Siebenjährigen und vor allem ist er ein weiß-braun-schwarzes Meerschweinchen mit wenig Ahnung. Nika stützt sich auf die Griffe des dreckigen und dabei trotzdem noch pinken Wägelchens und schüttelt wild das Bein um den Schotter-Störenfried aus dem Schuh zu befördern. Leider will sie nicht funktionieren, ihre Technik.
„Das ist unsere Straße und da dürfen wir spazieren. Vorsicht, denn hier sind trotzdem auch lauter Gefahren. Glücklicherweise ist dein Auto kugelsicher,“ beruhigt Nika den ahnungslosen Herrn Schubert und wirft den Kopf von links nach rechts synchron zu ihren hopsenden Schritten. Ihre strohblonden Strähnchen sind schlampig geschnitten und wehen in alle Richtung, als ob sie gerade einen elektrisch aufgeladenen Pullover ausgezogen hätte. Der Ausflug beginnt. Der schiefe Gehweg wird zum Pfad in’s Abenteuer.
Nika bereitet ihr haariges Ziehkind auf das Kommende vor: „Aufpassen muss man schon. Da hinten wohnt die fiese Tante. Die schreit immer rum und keiner versteht was sie sagt. Einer in der Schule hat mir erzählt, dass sie ein Baby hatte! Das hat sie dann an die Wand geworfen, weil sie verrückt ist. Immer regt sie sich auf, wenn die Nachbarsjungs das Ballspiel mit dem Korb spielen. Aber sieht doch lustig aus. Wusch!“
Nika imitiert sehr abstrakt einen Basketballwurf ins Leere und lässt den Redeschwall aber nicht enden:„Ich spring auch schon ziemlich hoch für mein Alter, musst du wissen, Herr Schubert. Aber besser wir bleiben leise. Die fiese Tante wäre gar nicht so fies, sondern könnte eigentlich die lustige Tante sein. Aber wenn man Babys wirft, kommen die Bö-Herden und nehmen es dir weg. Dann wird man vielleicht fies. Aber normal ist Babyswerfen auch nicht.“
Nika schiebt den Kinderkinderwagen plötzlich etwas langsamer, gedankenverloren starrt sie geradeaus. Mit einem Ruck fährt es ihr heraus:
„Und hässlich ist sie! So klein, gebückt und grausig. Wie eine Trollfrau, ohne Haare, Zähne fehlen ihr vorne, pfui. Siehst du das Gitter über den Gartenmauern? Die hat AFFEN da drin. Zwei Finger haben sie ihr schon abgebissen, sagt Papa. Ich hätte das nicht hören sollen, aber mir macht das keine Angst. Ich höre oft schlimme Sachen und fürchten tu ich mich nie. Ob die wohl glauben … Vielleicht denken Affen so, dass Menschen nach Bananen schmecken.“ Herr Schubert bleibt ahnungslos und erkundet schnuppernd das sogar für eine Puppe viel zu kleine Plastikpölsterchen mit dem blauen Pünktchenmuster. Nika wird langsamer und versucht konzentriert einen Affen zu sehen oder zu hören. Ein unbewusster Ausfallschritt um das Steinchen im Schuh loszuwerden misslingt und sie wendet sich wieder ihrem Fahrgast zu.
„Habe ich dir schon von meiner Freundin Sonja erzählt?“ überschlägt Nika sich fast vor Begeisterung „Meine beste Freundin, ehrlich wahr. Die ist ein Erwachsener und trotzdem tut sie ganz normal mit mir, also redet nicht blöd oder peinlich. Wuziwuziwuh — ich bin doch kein Baby mehr — so wie DU, Herr Schubert.“ Nika hebt Herrn Schubert in ihre Arme und setzt sich auf den Randstein um weiter nach Affen Ausschau zu halten und dabei zu streicheln. Sie ist stolz, dass sie so viel weiß. Herr Schubert genießt mit geschlossenen Augen das sanfte Kraulen seines angestrengten Meerschweinchenrückens. Auch er hat manchmal Stress und wäre nur zu gerne wieder ein Baby. Darum mag er Nika, die nie eine Quälerin war. Er liebt sie sogar beinahe auf seine Art, aber meistens ist er nur ahnungslos.
Nika erzählt weiter und vergisst dabei manchmal ordentlich zu atmen: „Sonja spielt wirklich ALLES mit mir. Sie ist irre schlau und weiß meistens das Meiste. Die Hübscheste ist sie auch, besonders die Sommersprossen. Da sind MILLIONEN davon auf ihrer Nase und den Wangen. Manchmal darf ich ihr einen Zopf machen und dann bekomm ich auch einen von ihr gefochten-geflochen-geflochten und und … ganz grelle, grüne Augen hat sie! Wie die Gummibärchen, die grünen, wenn man die schon länger im Mund hatte und dann nochmal anschaut. Sonja ist nicht nur lieb zu mir, sondern auch zu ihrem Bruder. Der ist blind, hat aber auch schöne Augen. Sie hilft andere Leute auch bei allem was die so brauchen, weil sie ein Sozolalarbeiter ist. Ich bin aber nicht neidisch. Sie sagt, wie nett man ist, merkt man daran, wie nett man zu andere ist. Sie hat sogar Zeichnungen vorne an der Schulter — die hat sie mir gezeigt — und die kann man nicht abwischen. Zwei Blumen und DIE SIND FÜR IMMER! Sonja ist zwar klein, aber ich mag das. Große sind oft blöd und haben — und haben viel mehr Platz für Blödes übrig, für fiese Sachen und Kack. Sie stört klein sein auch gar nicht, weil sie ist nicht feig oder so, sondern genau andersrum.“
Nika hebt Herrn Schubert vor ihr Gesicht, knurrt durch ihre gefletschten Zähne und stupst dabei mit ihrer Nase an seine kleine. Der weiche Flaum von Herrn Schuberts Gesichtsbehaarung kitzelt Nika, aber sie bleibt ernst um der Situation die entsprechende Intensität zu bewahren. Nach einem Moment ernster Ernstheit schmatzt sie und entwickelt plötzlich ein rhythmisches Schmatzlied. Während der Darbietung schweift ihr Blick wieder zu den oberen Gitterverstrebungen des versteckten Affenkäfigs. Sie rümpft die Nase wie noch nie eine Nase gerümpft wurde, denn die Affen sind ihr plötzlich Banane.
Nika legt Herrn Schubert zurück in den Minikinderwagen und entscheidet sich zu flüstern:„Sonja ist vielleicht ZU lieb. Manchmal ist sie nämlich traurig wie der Bartmann, der da vorne lebt. Was glaubst du, Herr Schubert, vielleicht haben manche Leute sich selbst nicht lieb genug. Gibt es das? Hast du dich lieb?“ Herr Schubert überlegt einiges, aber nicht was Nika gefragt hat. Er mag den Klang ihrer Stimme, aber vermisst seine Brüder und Schwestern. Die hatte er sehr lieb, auf seine Meerschweinchen Art und Weise.“ Nika bohrt besonnen in der Nase und fängt an mit dem Bauch den Wagen weiterzuschieben.
Sie grinst leuchtend, denn Spannendes steht bevor, und sie klammert sich fest die klebrige Schiebestange des Wagens. Der abblätternde Plastikschutz darauf bekommt noch ein paar Risse, aus lauter zielloser Aufregung. Mit diesem Kunststoffkonfetti auf den Handflächen klatscht sie voller Vorfreude.
„Da ist das lustige Haus mit den kaputten Wänden. Da wohnt der alte Bartmann. Der ist nicht Opa-alt, aber älter als Papa. Herr Schubert, du weißt schon, hab ich eben gesagt. Der schaut immer böse … oder traurig. So traurig KANN Sonja gar nicht schauen. Ich hab ihn mal am Fenster stehen sehen, das war sooo schlimm. Da hat geweint mit ganz großen Megatränen — so wie ich manchmal abends, wenn alle meinen, ich bin müde und muss in’s Bett — nur nicht laut und ohne das Gesicht oder irgendwas zu bewegen. Wie eine Statue.
Ich war mal bei ihm um für Mama Hefe zu borgen, für den Kuchenteig, musst du wissen. Da hat der Nicht-ganz-Opa mich angeschaut und wurde da wieder so traurig. Aus Streng wurde so ein Wasserblick. Stand einfach in der Eingangstür und sagte nix. Das war komischer als komisch. Als ob er mich kennt, hat er geschaut. Mama sagt, der ist schon immer allein. Was weiß ich, jedenfalls HATTE DER KEINE HEFE! Aus dem Kuchen wurde also nix. Kennst du Gummiwürmer, so mit Dings! DAS ist gut, Herr Schubert, so lecker.“
Vor dem Haus des traurigen Alten zieht Nika eine Schnute und wird neugierig. Der stille Weiner steht tatsächlich an seinem Wohnzimmerfenster. Dieses Mal weint er nicht und hat nur seine dünnen Finger verdreht im rot-weiß-braunen Bart. Nika winkt ihm wild mit einem großen Grinsen im Gesicht. Der Bartmann reagiert nicht beziehungsweise nur mit einem Zusammenzwicken der Augenlider, als ob er nicht richtig erkennen könne wer oder was auf dem Gehweg vor seinem Haus gerade Kontakt aufnimmt. Still beobachtet er Nika eine Weile und denkt für einen Moment nicht an den Krieg.
„Schau, wie wild der Garten aussieht, wie ein Dschungel mit Löwen und Hasen!“ jauchzt Nika durch die verrosteten Gitterstäbe des Bartmanngartens „Aber rühren tut sich nix da drinnen. Die Tiere schlafen wahrscheinlich alle. Bist du auch müde, Herr Schubert? Ich kein bisschen, auch wenn jetzt Mittagsschlafzeit ist. Ich bin nicht immer müde, nur weil es so oder so spät ist. Das weiß ich wohl selbst am besten, oder?“ Mit einem Stein kratzt Nika mit Überzeugung einen der Gitterstäbe an. „Der Fast-Opa mit dem Bart ist komisch, aber du magst ihn, das merk ich. Der ist höchst intessant! Aber, ziehen wir weiter, Herr Schubert. Da vorne sind die Schatzkisten“
An einer roten Backsteinwand stehen Tonnen mit Schrottabfällen und Nika lässt ihre Straßenführung wieder zu einem Halt kommen. Eine alte Zündkerze benutzt sie als Fernrohr um zurück in den Dschungel zu spähen und macht sich dabei die Finger schmutzig mit dem alten Schmierfett.
Als sie die Schweinerei realisiert kratzt sie sich erst einmal den Nasenrücken. Das könnte Ärger bedeuten. Die nun unwissend Kriegsbemalte wischt sich am Strumpfhosenboden die Hände sauber so gut es geht und verlässt sich darauf, dass ihr Kleidchen diese Stellen ohnehin verdeckt. Sie singt ein quietsch-selbstgerechtes Loblied an sich selbst und auch ein bisschen für Herrn Schubert, das Meerschweinchen in den weißen Leinen ihres Wägelchens. Entzückt spricht sie mit einer gestellten Mutterstimme: „Wie süß Sie sind, Herr Schubert! Gleich kommen bunte Regenbogenameisen aus den Mauern marschiert und tragen dich davon. Wie ein Sahnetörtchen mit Schnurrhaaren drauf. Aber keine Sorge, ich pass schon auf.“ Sie zwickt die Augen zusammen und scannt die andere Straßenseite. Eine leere Schachtel Zigaretten ist zu bunt um nicht aufgehoben zu werden. Die Entscheidung Herrn Schubert kurzzeitig zurückzulassen fällt nicht leicht, aber so ein spannendes Objekt muss geborgen werden. Nika überquert die Straße, korrekt wie sie es in der Schule gelernt hat, schnappt sich die leere Packung, aus der noch ein bisschen Tabak bröselt, und kehrt ohne den Fund genauer anzusehen eilig zurück zu ihrem Ziehherrn.
„Warum sammelst du Müll von der Straße?“ raunzt Levi aus dem Nichts, ein kleiner Nachbarsjunge mit halblangen schwarzen Haarlocken, der dadurch aussieht wie ein Mädchen. Die ertappte Nika erschrickt nicht schlecht und im Affekt lässt sie die Zigarettenpackung hinter ihrem Rücken auf den Asphalt fallen, ganz unauffällig. Dann schaut sie böse, eine ihrer beste Selbstverteidigungsmethode.
Levi, der an der Ecke zu den Schrotttonnen Nika und Herrn Schubert etwas schüchtern beobachtet hat, macht jetzt große Schritte der Lässigkeit in Richtung der beiden. Er nimmt seine ganzen Reste an Selbstsicherheit zusammen — ihr böser Blick ist wahrlich bedrohlich — und mit der tiefsten Stimmlage, die er meistern kann, sagt er sanft: „Shalom.“ Nika versteht das nicht, aber erwidert im selben Moment „Schlanomm“ mit dem gleichen ultra-entspannten Tonfall, da sie es reflexartig als Wort des Grußes identifizieren konnte. „Oder meint er Slalom wie das was der Papa immer schaut. Das mit dem Schnee“ grübelt Nika. Ohne sie zu korrigieren schlurft Levi, scheinbar unberührt das Zündkerzenfernrohr vor sich herdribbelnd, auf den Kinderkinderwagen zu. Levi lockert sein analytisches Starren und findet lieber erst einmal seine unterhalb des Knies abgeschnittenen Jeans toll. Levi vergräbt seine Hände tief in die Hosentaschen und entdeckt scheinbar unbeeindruckt Herrn Schubert, der dem Angeber zum Gruß den flauschigen Hintern hinhält. Nika grinst und salutiert vor dem 8-jährigen Jungen mit den Zahnlücken. Er nickt nur kurz und verstärkt das schabende Geräusch seiner festen Sohlen auf dem Streukies darunter.
„Ist das ein Meerschweinchen?“ quengelt Levi. Nika nickt stolz mit erhobener Nasenspitze und meint: „Das hier ist Herr Schubert. Man darf ihn streicheln, aber nur GAAANZ vorsichtig.“ Levi streckt respektvoll seinen Zeigefinger aus und krault den Nackenbereich des verkehrten Tiers. Nika überwacht das Ganze streng, muss aber lächeln, da Herr Schubert genießend die Augen schließt. Der kann auch streicheln! Die positiv überraschte Besitzerin steigt mit ein in die Liebkosungsorgie. Es hat wohl noch nie ein glücklicheres Meerschweinchen gegeben wie Herrn Schubert in diesem Moment. Ohne Angeben zu wollen, aber es trotzdem zu tun, sagt Nika: „Zuhause habe ich noch eins. Die weiße Flora. Aber sie und Herr Schubert verstehen sich nicht so gut. Ich glaube ja, sie sind verliebt, aber können das nicht zeigen. Sind noch nicht reif genug.“
Levi erwidert: „Das kann schon sein. Aber sind Meerschweinchen jemals reif genug. Die essen sich doch manchmal gegenseitig auf.“
Erschrocken und ungläubig sagt Nika leise: „Das glaube ich nicht!“
„Meine Mama sagt das. Aber mir ist das egal, sie redet einfach zu viel. Ich würde Flora das nicht zutrauen.“ meint Levi sehr diplomatisch
„Ich wollte Herrn Schubert noch den Zauberwald zeigen und ihm ein paar Gummiwürmer essen. Dann, wenn du willst kannst du mitkommen, ich wohne bei den alten Betonpilzen da unten.“
Levi druckst herum und spielt hockend an seinen Schuhbändern herum: „Es ist schon spät und heute kann ich nicht lang. Was ist denn der Zauberwald?“
Nika zeigt in Richtung der verdorrten Parkanlage, einseitig eingezäunt und an eine niedergeholzte, tatsächliche Waldfläche grenzend. Der Zauberwald befindet sich ein paar Kreuzungen weiter entlang der kaputten Straße. Derselben, auf der beide Kinder ihre ersten sozialen Interaktionen mit Bravur absolvieren. Levi wird skeptisch, aber auch neugierig:
„Das ist doch kein Zauberwald, bitte.“
„Das weiß ich wohl besser. Warst du überhaupt schon mal dort?“ antwortet Nika mit der bestimmten Arroganz einer 6-Jährigen.
„Nein, nicht drinnen“ gestand Levi „aber dort riecht es immer so übel.“ Er wollte nicht unbedingt zugeben, dass seine Mutter ihm verbot, die Straße zu verlassen. Er wusste aber, dass er definitiv mitgehen würde in den Tabu-Park, der sich nun auch noch als Zauberwald herausgestellt hat. So eine Chance kommt nicht zweimal.
Nika versöhnt dann mit den Worten: „Morgen dann, oder?“
„Aber es ist gleich schon morgen“ spricht Levi etwas mystisch mit einem sehnsüchtigen Blick Richtung magische Parkanlage.
„Blödsinn! Es ist doch noch hell. Mitten in der Nacht wechselt heute auf morgen, immer so mit ganz vielen Nullen auf der Zahlenuhr.“
„Für unsere Familie beginnt der nächste Tag am Abend, wenn die Sonne weg ist und drei Sterne im Himmel zu sehen sind.“ erklärt Levi mystisch
„Wieso!?“ quiekt Nika.
„Ich weiß nicht. Bei uns ist das einfach so. Wir sind nämlich Juden.“
„Ist das schlimm?“ fragt die verwirrte Kleine besorgt.
„Nein.“
„ … welche Sterne sind das? Die, die dann den Tag neu machen?“
„Einfach drei Sterne, irgendwelche, glaube ich,“ meint Levi unsicher „aber es ist doch auch viel logischer als mitten in der Nacht zu sagen, dass der Tag vorbei ist.“
„Also ich weiß nicht.“ Nika setzt wieder skeptische Augenbrauen ein und versucht dabei Herrn Schubert, der überhaupt nicht müde ist, in den Schlaf zu wippen. Das Bild von der Wiegenden gefällt Levi, das dabei entstehende quietschende Geräusch jedoch weniger. Er beobachtet mit gebrochener Stimme:
„Die Sonne ist jetzt noch da.“
„Ja, wir gehen jetzt in den Zauberwald,“ meint Nika, die unbewusst Levi selbstverständlich miteinbezieht „dort gibt es einen alten Baum mit einer Nase!“
Diesen Versprechungen kann Levi kaum widerstehen und da es sich so anhört, als ob er ohnehin schon miteingeplant ist in den Ausflug die Straße runter, kommt seine unbedarfte Lockerheit etwas ins Wanken. Er sagt mehr zu sich selbst:
„Dauert sicher nicht lange.“
„Keine Ahnung. Schau, Herr Schubert schnüffelt so wild. Der macht das immer, zwischen den Waldgerüchen. Ich glaube ja, der riecht ALLES! Das hat er mir jedenfalls mal erzählt.“
Levi ist nun etwas unsicher, da er vor kurzem noch gefurzt hat und fürchtet von dem Meerschweinchen entlarvt zu werden. Aber bevor er sich irgendwelche Ausreden überlegen könnte, merkt er plötzlich, dass er schon in die Reisegruppe eingliedert die Straße hinunterspaziert. Levi grübelt: „Wie ist das jetzt so schnell passiert? Mama wird schon nicht schimpfen. Herrgott, ich bin auch schon älter als das Mädchen und die sorgt sich offenbar auch nicht. Die hat sicher tolle Eltern.“ Nika überlegt derweil, an wen Levi sie erinnerte. Sie hat — bis auf Sonja — nicht so viele Freunde und hat nie großen Wert darauf gelegt. Freunde machen sich irgendwann immer lustig über einen, ist sie überzeugt, was auch beweist, dass sie in der Richtung vielleicht auch noch nicht so viel Glück gehabt hat. Da hat sie es: Levi sieht ein bisschen aus wie ihr Papa auf den uralten, schwarz-weißen Fotos.
Levi kennt viele Jungen aus seiner strengen Schule und würde sofort die jeweiligen Namen, Hobbys und Lebensumstände aufzählen können, aber ohne mit einem der gleichaltrigen Mitschülern auch nur annährend befreundet zu sein. Levi ist kein Außenseiter, aber man könnte ihn sicherlich auch nicht als das Gegenteil bezeichnen. Er schwebt so undefiniert zwischen den Cliquen des Pausenhofs. Sport ist nicht das Seine und auch die Noten sind durchschnittlich, so wie seine Erscheinung. Ihm gefällt es aber auch sehr, nichts Besonderes zu sein. Manchmal anzuecken und in der Mitte zu existieren ist doch auch was Schönes. Man sieht beide Seiten, die Dummen, die Tollen, alles gleich weit entfernt. Manchmal sind die älteren Jungs, die bereits zu Männern geworden sind, obwohl nur ein Jahr älter und teilweise kleiner als Levi, fies zu ihm. Und er versteht einfach nicht warum. Levi ist ein perfektes Beispiel an Zurückhaltung und Selbstreflexion. Nur jetzt mit Nika denkt er mehr an den Zauberwald als an sich selbst. Die spricht gerade wieder mit Herrn Schubert über Abendpläne und ob das mit den Sternen und dem nächsten Tag auch wirklich stimmt.
Nika halten andere Mädchen aus der Klasse immer für komisch und peinlich. Auch wenn Gespräche mit großartigen Meerschweinchen daran nicht viel ändern wird, versicherte ihr die Mutter, dass sie mal eine ganz tolle Frau werden wird und jetzt gefälligst machen solle, was und wie es ihr Spaß machte, zum Donnerwetter. Auf alle Fälle geben die beiden einsamen Wolfwelpen ein nettes Bild ab. Auch Dinge, die eben nicht da sind oder fehlen, können Menschen verbinden. So spazieren die zwei miteinander auf der maroden Straße zielstrebig — und ahnungsloser als Herr Schubert — auf den Zauberwald zu, und eine tiefgehende, gemeinsame Kameradschaft zu.
„Wusstest du, dass man in Augen lesen kann?“ sagt Nika mit einen hypnotisierten Blick Richtung Parkanlage. Levi zieht demonstrativ die Hände aus den Hosentaschen um sie gleich wieder reinzustecken, das alles kopfschüttelnd.
„Was soll denn auf Augen schon geschrieben stehen?“
„Nein, nicht wie Lesebücher.“
„Sondern?“
„Man kann lesen, ob jemand glücklich oder traurig ist.“
„Ach so, wegen den Tränen, klar, sowieso.“
„Nein, nicht wegen Weinen. Meine Freundin Sonja hat so ganz helle grüne Kristallaugen, RIESIG und leuchtend! “
„Du hast da übrigens Dreck im Gesicht“ Levi zeigt an sich selbst die Stelle, aber Nika wischt nur kurz drüber, verschmiert das Öl nur noch mehr und fährt beidhändig gestikulierend — um das Ausmaß von Sonjas Augen zu beschreiben — mit ihrer Geschichte fort: „Stell dir vor Levi, solche schönen Farben hast du bestimmt noch nie gesehen.“
„Muss ich auch nicht.“ Jetzt ist er beleidigt, weil er tatsächlich noch nie so schöne Augen gesehen hat, jedenfalls nicht bewusst. Nika kommt zum spannenden Teil der Geschichte.
„ABER die sind dann manchmal anders! Die Farben sind oft weg oder nicht so stark und viel viel grauer! Grad die schönen, die grünen Strahler.“
„Das geht doch gar nicht.“
„Na, sicher geht das. Wetten?“
„Meine Augen verändern sich auch nicht.“
„Glaubst du!“ schreibt Nika „Lass mich sehen.“
Levi beugt sich vor und lässt die Kleine mit den dreckigen Finger sein Auge aufhalten um mit ihrem eigenen alles gründlich zu beäugen, was in Levis Auge zu vor sich geht.
„Levi … „
„Ja?“
„Du hast Sommersprossen auf den Augen.“
„Quatsch!“
„Nein, ganz sicher. So fünf Punkte.“
„Hm, stimmt. Die hab ich auch mal gesehen. Aber nicht so viele und die waren am nächsten Tag wieder weg.“
„Siehst du!“
„Das ist ja eigenartig. Und die Sonja, die hat auch Sommeraugensprossen-Dings?“
Nika schiebt Herrn Schuberts Wagen mit stolzem, sicherem Griff weiter.
„Nein, nein, das ist anders bei so tollen Augen wie Sonjas. Die sind nicht so langweilig braun. Da funkelt alles. Eben aber manchmal nicht … wenn sie sagt, dass sie müde ist, oder sich ärgert. Da sind dann die grünen Strahler verschwunden. Und ich schau genau, aber die sind weg. Blau so allein ist ja auch schön, aber ohne die Grünstrahler, ich weiß nicht.“
„Wie ein Hundeschwanz.“ Nika muss lachen und rotzt ein bisschen durchs linke Nasenloch. Sie kichert: „Ein Hundeschwanz ist doch nicht blau, und grün schon gar nicht!“
„Ich meine, deine Sonja zeigt wie es ihr geht durch die Augenfarbe.“
„Ach so?“
„So, hast du das doch gemeint mit dem Lesen, vorhin.“
„Ja, genau so.“
„Ein Hundeschwanz wedelt auch, wenn der Hund glücklich ist.“
„Und Sonja hat da dann Grünstrahler!“
Die beiden gehen ein bisschen langsamer und andächtig mit einem beinahe identischen Ausdruck im Gesicht, den man wohl nur mit „Toll“ zusammenfassen kann. Der Schritt über die Bahnschranken hinweg bringt leider direkt ein mulmiges Gefühl mit sich, gerade bei Levi. Allen drei Abenteurern wird unwohl, ohne das wirklich an einem konkreten Grund festmachen zu können. Die Sonne ist gedämpft von einer großen weißen Wolke, aber das ist nicht der Auslöser, eher eine zufällige Atmosphäre. Trotzdem, Weitergehen ist und bleibt Pflicht für die kleinen Kameraden.
Nika sieht ihren Zauberbaum und findet den heute so gar nicht magisch. Das ist ihr derartig peinlich, dass sie kein Wort darüber verliert. Levi ist gleichzeitig gedanklich mit der Tatsache beschäftigt, dass er noch nie über den Bahnübergang hinaus die Straße übertreten hat. Das ist wiederum ihm der jüngeren Kumpanin gegenüber unangenehm. So sind beide still und merken klarerweise nichts von der tief eingegrabenen Landmine, der sie sich langsam aber direkt nähern.
„Was ist mit Herr Schubert?“
Levi kratzt sich am Kopf, während er das Meerschweinchen beobachtet „Schwer zu sagen, mir ist auf alle Fälle auch komisch zu Mute. So als ob mein Hirn was Schlechtes gegessen hat.“ Herr Schubert schnuppert wild und nervös, selbst für einen kleinen Nager wie ihn. Man könnte meinen, er schaut die beiden Kinder sogar abwechselnd an. Nika rümpft die Nase.
„Ja, warum ist denn auf einmal alles blöd hier?!“
„Ist es auch kälter geworden?“
Einen Meter trennt Levi und Nika noch von der Stelle, wo die Miene vergraben ist. Er räuspert sich und fühlt die eigene Stirn. Sie hingegen wird richtig schlecht gelaunt, weil sie nicht versteht was passiert. Gerade haben sie noch über Hundeschwänze und Grünstrahler gelacht. Irgendwas liegt in der Luft.
Der letzte Schritt hat die Kinder genau oberhalb der Landmine zum Stehen kommen lassen. Herr Schubert ist erstarrt, kein Barthaar zuckt. Levi argumentiert mutlos: „Nika, das ist echt gruselig. Fühlst du das auch? Gehen wir zurück. Irgendwas stimmt hier doch nicht.“
„Der Zauberwald ist heute ein Stinkepo!“ schießt es vorwurfsvoll aus Nika heraus bis hinauf in die Baumkronen. Sie stapft mit voller Kraft auf den Boden, mit aller Kraft der Ungerechtigkeit. Sie wollte ihrem neuen Kumpel nur den Zauberwald zeigen, war das denn so viel verlangt. Und jetzt ist alles komisch, die Vögel singen nicht, die Sonne ist nur noch halb da, Herr Schubert spielt tot, und es zieht! Aus Frust stampft sie noch einmal ihre Sandalen in die Erde, voller Wut springt sie auf und ab. Auch Levi verschränkt die Arme erbost und baut sich vor der unerklärlichen Situation streng auf. In der Miene löst sich der Sicherungsbolzen am Zünder, so wie das die Konstruktion auch konzipiert. Jetzt sollte die vergessene Sprengladung detonieren …
Warum die völlig funktionsfähige Miene aus der Zeit der Jugoslawienkonflikten unten den beiden nicht explodiert, ist unerklärlich — beziehungsweise es wäre unerklärlich, wenn jemand davon wüsste. Levi und Nina gehen stumm und frustriert nachhause. Bartmanns Enkelin hätte solches Glück gut gebrauchen können damals, und auch so einen Beschützer wie Herrn Schubert. Der zuckt mit seiner Stupsnase und freut sich schon wieder auf seinen Garten mit dem angefangenen Kohlrabi.
Funk
Mein Name ist Judith Keinke und ich sitze hier in der Anstalt. Zweiter Stock. Kann man nicht einmal erfolgreich rausspringen und Bauchklatscher machen, Hhahahah, Scherz. Immer mit einem Witz die Schau beginnen. Hey, jetzt tue ich es tatsächlich.. Ich bin das bravste Mädchen der Welt, und mich juckt mein Haaransatz wie Krätze. mmm süß. Man hat mir gesagt ich soll schreiben, also schreibe ich. Block. Einen Kuli mit den Abkürzungen der schlimmsten Partei der Welt draufgedruckt. Sie müssen schreiben, wenn Sie Dinge verarbeiten möchten. Schön kritzeln, faseln, denken, rauslassen, alles rauslassen. Das macht den Kopf klar. THERAPIE TERRORPIE. Ich kann nicht. Ich bin voll, passt auf keine tausend Seiten. Alle aber leer eigentlich, nix da. Wie kann man erwarten, dass ich mich öffne. Alles ist sowieso WEIT aufgebrochen. Mein Hirn ist der ARsch-Andreas Graben. Vertrauen, wirklich? Das ist bedeutungslos. Was sein muss, muss eben NICHT sein. Sie müssen schreiben, Frau Keinke. Wofür? Auf jeden Fall nicht für mich.
schreiben schreibm schreibi schreib schreibenschreibensrenhschreien SCHAARAAAAIEEEEEBBBÄÄEEn schreib schreibi schreib ficki fack ficken ficken scheiße scheiß höllenscheiße
Was hilft das bitte? Ich kann auch ohne Selbstreflexion verrückt bleiben. Ihr Schweine! Ja du! Schau dich an, los, such dir einen Spiegel, Schweinegesicht, verschweintes ooooooooooooooo (Gektritzel).
Ich werde schon alleine bei dem Gedanken depressiv, dass das hier jemand liest. Wehe du liest das! Weg mit den Pupillen. Weg!!!! Los, Sichtvektor wechseln, mach schon. Ist nur Dreck hier. Putzkolonne. Könnt gleich wieder abhauen, auch mit den Pillen. Sind eh zu schwach. Psyche, ja! Aber diesen Knoten massiert mir keiner raus.
Ich bin verflucht.
Mein lieber Mann, was klingt das dramatisch. Aber kann mich wer vom Gegenteil überzeugen. Was mir passiert ist, kann nur eine elende Verwünschung sein. Ein Teufel stand über meiner Kinderkrippe und hat mich schonungslos markiert. Mein Leben in Bahnen der existentiellen Selbstverstümmelung gelenkt. Und das Schöne daran, nur ich weiß davon und keiner glaubt mir. Alleine stehe ich da. In kompletter Fassungslosigkeit. Ich habe nie jemanden herausgefordert. Und trotzdem werde ich herausgefordert.
Oder war ich wirklich Schuld? Aktiv, passiv, habe ich das alles kaputt gemacht? Ich wollte es so. Das ist Fakt. Aber es ist lächerlich. Und doch, fuck fuck fuck, ich bin sicher, dass ich es war. Zufall ist in diesem Fall unmöglich, unmöglich. Aber wie???????????? Was habe ich getan. Meine Entscheidungen bringen den Untergang. Aber man muss doch Entscheidungen treffen können in Gedanken — ohne den Untergang hervorzurufen.
Das Schreiben hilft Null. Kotzen könnte ich. Das hilft! Ich drehe mich im Kreis,
immer komme ich wieder beim Anfang an. Denk die ganze Scheiße durch und gleich wieder von vorne. Ich lande immer bei diesem einen Gedanken, von dem ich noch genau weiß, wie ich ihn gedacht habe. Das Zündholz das zündete. Bumm. Magisches Denken.
Wie kann das passieren? Ja, und dann muss ich logisch weiter. UNMÖGLICH Schätzchen. Unmöglich kleine Maus, das gibt es nicht. Denk doch nach! Gut, dann denke ich mal nach. Knatter Pieeeeep, alles kann man verbinden, letztlich. Ozonloch Überbevölkerung Avocado-Hype. Die Fliege dort mit der Gastritis vom Oberarzt. Arschloch. Behandelt mich immer wie ein rohes Ei. Wenn er da ist, sage ich nie was. Dann wird er immer noch gönnerhafter. Eigentlich auch Ursache und Wirkung. Wieder selbst Schuld. Sobald man denkt, dass man etwas beeinflusst oder von etwas beeinflusst wird, ist es auch so. Immer.
Blödsinn. Das hilft nicht. Das hilft nie. Überall Verbindungen sieht wie eine fanatische Katholikenmama. Der Herrgott hat dich bestraft! Wenn man glaubt, dass die schlechte Laune Schuld ist, dass der Kantinenkaffee heute scheiße schmeckt. Magisch klingt gleich so nett. Aber magisch ist dumm. Ich bin einfach dumm, dermaßen dumm. Dummdidummidummdidumm. Immer wenn es magisch wird, passieren Dinge. Dabei bin ich gar nicht so. Mein Handy habt ihr auch. Ich kann nicht mal ins Netz und mich dort langweilen. Refresh. Das Warten ist beschissen. Vielleicht kann ich es ja. Jemanden Interesse an mir ins Hirn wünschen, dass mich endlich irgendwer anschreibt. Vielleicht doch besser, dass ich das Ding nicht vor mir liegen habe, im perfekten Zustand der unkommunikativen Ruhe. Was mich dann langsam verrückt machen würde. verrückter
Genau. Das ist es doch. Mein Schrank und Tassen fehlen. So ist der Stand. Ich bin zwei schlaflose Nächte davor ihnen zu glauben. Aber ich lass mir nichts einreden. Keiner kann mich in den Rückzug und ins Asyl der Schwachsinnigen hineinargumentieren. FICKER, ALLES FICKER. Sogar da oben. Ich hab Hurenficker im Kopf.
Was soll das denn hier? Medikamente und routinierte Worte des automatisierten Kümmerns. Hab nicht Anspruch auf echte Liebe. Aber mir eine falsche Wurst an der Nase vorbeizuziehen. Das macht mich mürbe. Ein Apfel aus Wachs schmeckt besser. Hoffnung ist eigentlich schon fast gefährlich an so einem Ort wie diesem hier. Muss wohl als Erstes sterben.
Es ist vorbei, normal wird nichts mehr. Wenn man einmal in den Dreck getreten ist, kriegt man die Flecken nicht mehr raus. Und warum auch. Ich lege mich hinein. Faul. Faulende Haufen. Hoffnung auf Normalität ist wie der Gedanke an Unschuld, eine schöne Illusion. Nachdem man sich die Zehen abhackt, gibt es auch kein zurück mehr. Warum sollte denn das, was in mir kaputt geht, in irgendeiner Form reparabel sein? Vielleicht sollte das sogar kaputt gehen? Ich habe etwas verloren, das ich sowieso loswerden musste. Meine Blauäugigkeit. Blindes Vertrauen. Glaube an das Gute in Menschen, in mir. Oder Glaube überhaupt?
Wie soll sich hier irgendetwas ändern? Ich bin verdammt nochmal in einer Anstalt. Kranke Menschen, zusammengeknetet wie in einem Knödel aus Elend. Und sie ziehen mich mit rein. Ich pappe fest. Bis ich mich auch so fühle EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEELLLLLLLLLLLLLLLLLLLLLEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEENNNNNNNNNNNDDDDDDDDDDDDD.
Ein sicherer Ort soll es sein, das gelbweiße Schachtelhaus. Nur die Gitter sind echt, sonst alles Pappe und Pisse. Pathologischer Porno. Perverse Psychopharmaka in purpurnen Packungen. Panik penetriert im permanent planenden Patienten. Perfekt, private Pein perforieren bis Penner wie Pfauhennen passen, primär pennen. Passt, alliterarisch. Boa, dafür habe ich ein wenig gebraucht.
Die Hälfte der Leute liegen stationär im Bett und kommen nie raus, nicht einmal zum Essen. Dafür gibt es immer frisch Schleimpampe. Freunde zu finden ist hier ungefähr so einfach, wie in einem Konzentrationslager. Man denkt ständig, ob man nicht doch normaler ist als der oder die. Ich funktioniere schon besser im Vergleich zu DENEN. Existenzhierachie, das ist vielleicht gestört. Ist ja nicht in Stein gemeißelt wie die zehn Gebote der sozialen Norm.
Normal. Bin ich normaler als du? So kann man doch keine Sympathien aufbauen. Dann riecht es in diesem Gebäude an bestimmten Stellen nach dem Inneren einer Ratte. Einer Ratte, die bereits sehr lange tot ist. Gestorben an Langeweile. Dann wandelt man im Pyjama und zugehaltener Nase durch die Korridore und bekommt sofort ein schlechtes Gewissen mit Paranoia oben drauf, wenn man wegen dieser ekelhaften Stille ab dem späten Nachmittag zu summen beginnt. Ich summe wie ein Geisteskranker, denkt man dann gleich. Ich spiele Karten wenn irgendeiner mitmacht. Doppelkopf oder Baby Poker mit dem Set wo drei Karten fehlen. Ich gewinne immer und esse beim Mittagessen den ganzen Pudding alleine auf. So bleib ich an der Spitze der Nahrungskette.
Wenn die Ärzte mit mir reden, bin ich das, was sie haben wollen. Oder besser, ich erzähle ihnen nur das, wofür ich dann von ihnen die Antworten bekomme, die ich hören will. Therapie zur Selbstbestätigung. Das machen glaube ich viele. Genial eigentlich. Wenn es der Facharzt sagt muss es stimmen, auch wenn ich es ihm in den Mund gelegt habe.
Es ist so lächerlich. Der Therapeut in mir drängt schon wieder, bettelt. Schreiben Sie doch über diesen einen Tag. Ihre Obsession. Der Tag des Untergangs. Der Untertag. Was ist passiert?? Was soll schon passiert sein. Ein halbes Jahr ist es her und doch schüttelt es mich, als ob ich gerade hustend aus den Bauschuttschwaden rausgewankt wäre.
Alles lief schief und kaputt. Das Wetter war beschissen schwül. Feucht, kein Fön, nur war man nass sobald man die Straße betrat. Plus dieser fiese Wind, genau. Völlig unpassend und höchste Stufe Rheuma. Der Rock klebte und der BH drückte. Ich saß vor meinem Rechner und verlor jede Konzentration. Konnte jeden Gedanken verbiegen in eine zusammenhangslose Sackgasse. Stimmt! Nach langem Herumgestöhne schickte mich mein Chef sogar hinaus ins dunstige Grau. Deshalb war ich Nahmittags schon am Heimweg. Sicher war mein Simulieren asozial, infantil, aber wenn nichts geht, geht nichts. Wie eine alte Brausetablette hab ich mich dann in die Straßenbahn geworfen um mich im Schweiß der Mitbürger aufzulösen. Ein Tag wie Kopf im Gasofen. Da auf dem Platz war dann auch Ruhe. Kurz.
Sein Gesicht war wie wenn man direkt in eine offene Wunde schaut. Es riss mich aus meinem friedlich-geistlosen Starren. Die bärtige Fresse. Hübsch und unbedarft. Augen gemacht wie aus schlechtgewordener Liebe. Wie anstrengend alleine seine Haltung und das Halblächeln auf mich hinuntertropften. Er war es halt wirklich, der kleine Dicke. Der war nur gar nicht mehr klein und dick eigenartigerweise. Da stand er ganz gefestigt und lässig wie die ausgewaschenen Jeans, die an ihm flatterten. Dieses Arschloch. Jedes Mal wenn ich an ihn denke hasse ich. Mehr als gut für mich ist. Wer weiß was wir geredet haben. Ich sollte es eigentlich noch wissen. Er hat mich verlassen als er seinen Job bekam. Neues Büro neue Muschi war wohl das Motto. Freundlich war er, das fiese Wiesel. Wurmte sich in meinen scheiß Tag und ich konnte mir selbst zuschauen wie ich ihm euphorisch so etwas wie Selbstsicherheit vorspielte. Dachte nur daran, wie furchtbar meine fettigen Haare gerade aussahen. Und er der Mann der Männer. Da war sogar flirten meinerseits. Wie ekelhaft.
Man verbringt über Monate fast jede Sekunde damit, mit dem Verlust eines lieben Menschens abzuschließen, mit der Scham und dem Selbsthass. Warum können Zuneigung und Hingabe einfach verdampfen? Und dann fährt er mit der Neuen auf Urlaub und geht in Konzerte. Hat ganz neue Sorgen. Wohin gehe ich mit ihr essen oder was wäre ein gutes Urlaubsziel?
Man ist vergessen. Und dann kommt so eine mitleidige Fassade von dem “Verletzer”. Und ich verstelle mich wie ein emotional verödetes Chamäleon, als ob es mich nie wirklich getroffen hätte, hätte ihn dabei am liebsten in meinen gesammelten Tränen ertränkt. Die ganzen aus der damals schlimmsten Zeit meines Lebens. Die Straßenbahn wäre überflutet worden.
Als er gesagt hatte ich sei wie ein anderer Mensch, hasserfüllt und mit Komplexe. Da hat es mir gereicht. Soll ich ewig ein schlechtes Gewissen haben wegen seiner Ablehnung? Interessiert doch eh keinen. Nur ich knabbere darauf herum. Interessanterweise wirkt dieser Schmerz jetzt ganz klein und lächerlich. Im Vergleich zu dem was ich alles zerstört habe an dem Tag.
Sein Penis war komisch und machte mich damals oft nachdenklich. Der war immer anders, mal schrumpelig, mal rot, mal aufgebläht wie ein Ballontier, mal glatt und ruhig wie ein neugeborener Seehundfötus. Wow, ich weiß jetzt nicht genau ob die Metapher gut und total gestört ist. Aber immer eine andere Form der Kleine, ganz ähnlich wie meine Gemütszustände. Ich habe ihn beobachtet. Nachts. Im Bad. Am FKK Strand. Manchmal zieht er sich zurück, klein, ängstlich und krampfend angespannt wie eine Panikattacke. Dann hing er gemütlich an ihm runter als wolle er nicht aufwachen. Nach Sex schwer wie ein Beil oder auch träge wie eine Frühjahrsdepression. Mal hüpfte er lustig, dann war er abwesend. Was ist das? Was soll das? Es ist nie gleich. Mein seelischer Zustand ist wie ein Männerschwanz? Ich muss mal kurz lachen.
Rauchen ist hier auch eine verdammte Nikotinodyssee, durchs halbe Haus und dann zurück. Will schon wieder eine.
Da in der Straßenbahn, einfach Funkstille. Der Funk, vielleicht war es sowas. Ich habe gefunkt und der Funkturm hat es empfangen. Einfach nur irgendwas.
Wir plauderten ein wenig über Oberflächlichkeiten, die mich innerlich rasend machten. Ich hatte es geliebt, diesen Menschen um mich zu haben. Es war einmal eine Beziehung. Die war schön. Wie lange habe ich nicht mehr an den ganzen Mist gedacht.
Dann musste er plötzlich aussteigen und ließ mich sitzen. Part 2! Mein Vater war genauso. Genau, jetzt kommt noch eine Prise Daddy-Komplex dazu. Wie originell, ich bin die verdammte Innovatorin des Abgedroschenen. Aber ist doch wahr. Papa war nicht da für mich, also nie richtig. Der einzige, der was Wert war von diesen Idioten da draußen. Und trotzdem eigentlich ein Arsch.
Der Tag wurde langsam zu meinem persönlichen Höllenstrudel. Die Straßenbahnstation stank. Alles stank. Draußen kam ich nur in Zeitlupe voran. Alle Leute sahen wie frisch kastriert aus und zogen lahmend ihre Alltagsbahnen, wie Vektorrechnungen, und genauso spannend. So kurz vor meiner Haustüre war ich bereits. Ich sah den maroden Hauseingang mit dem morschen Türstock, gleich hätte ich daheim sein können. Pyjama, Tee und Bett. Bisschen Laptop Unterhaltung. Der Hauptplatz war aber breit und zäh. Innere Stadt nach der Einkaufsmeile. Alles war furchtbar. Das Minenfeld Fußgängerzone. Teer. Voller Ärger stapfte ich auch auf meine Einzimmerwohnung zu, in die enge Freiheit. Innen drinnen purer Hass gegen alles was auf dieser Erde steht. Mein hasserfüllter Blick auf den Turm, ich weiß es noch genau, auf den “Ex-Turm”. Ich hatte ihn nie gemocht, hässlich und unnütz stand er da und spülte in einem Kilometer Entfernung das an sich ansehnliche Stadtbild ins Klo. An diesem Nachmittag war ein ästhetischer Dorn im Auge zu einer unerträglichen grenzenlosen Abneigung herangewachsen. Für einen Moment war der Funkturm mein Fokus, mein Schlachtlamm.
Soll er doch einstürzen.
Dieser Satz, den ich nicht einmal laut ausgesprochen hatte, würde mich als Echo meiner teuflischen Gedanken für immer begleiten. Fuck. Es war wie Funk. Doch ja, ein Befehl ÜBER FUNK!
Ein Knacken erfüllte die Luft des Platzes, als ob man auf einen Kieselstein beißen würde, nur hundert Mal lauter. Von außerhalb brach das Phallusobjekt in sich zusammen. Das Aufreißen des Betons wummerte bis in mein Gehirn. Da stand ich, fassungslos. Vor der panischen Schlussverkaufsmenge. Hunderte Einkaufstaschen fielen und deren Besitzer liefen mir entgegen, der Schmutzwolke entfliehend. Der Kollaps des Funkturms wühlte eine graue, undurchsichtige Wolke auf.
Das war ich. Das Gebäude fiel weil es mir nicht gefiel. Als die obere Kuppel des Turms in die Reihenhäuser der Babel Straße einschlug, brach auch ich zusammen. Ich konnte mich nicht bewegen und die erste Staubwelle des Schutts hüllte mich ein. Was war da? Dieses kleine Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Sie flüsterte unter Tränen in ihren Puppenkinderwagen hinein, während sie ihn mit kleinen Kleinkindschrittchen vor dem Desaster retten wollte. Schwere Tränen verwässerten meine Sicht noch mehr und vermischten sich mit Schuttnebel. Betoniert. Das war mein Gesicht. Ich konnte nur piepsende, stammelnde Entschuldigungen rausbringen. Die fliehende Menge ignorierte in panischen Zustand ihres Überlebensinstinkts natürlich mein unverständliches Jaulen. Ein älterer Herr zog mich kurz in einem Moment der halbherzig sozialen und automatisierten Hilfestellung am Arm. Komm mit. Nur ich hatte Wurzeln geschlagen. Er ist gleich weiter. Wenn die Dreckhexe nicht will.
So fühlt es sich also an, Menschen zu vernichten. Zitternd am Asphalt kniend musste ich kotzen, mehrmals glaub ich. Zwei jüngere Typen schnappten mich ohne lang Gesten zu machen und brachten mich aus der Abrisszone. Ich umarmte sie. Klammerte. Was habe ich getan.
Mama nahm mich auf. Ich schlief im Keller. Wenn man nicht reden kann, wenn kein Wort rauskommt, dann fühlt sich das an wie festgeleimt, man steckt fest im Kopfsumpf. Ich kotzte täglich. Absichtlich. Ich wollte verschwinden, mich verdünnen bis ich mich in Luft auflöse. Ich wollte es für mich behalten, verstecken vor allen, meine Plage. Keiner darf das sehen. Niemals. Wie Fahrerflucht. niemals darf das raus
Niemals
Verdammter Raucherraum. Jetzt war der geschlossen. Der Kuli ist auch bald aus. Ich mag nicht mehr. Ich KANNNNNicht mehr!!! Ich schreibe seit vier Stunden wie eine Maschine und will alles zerreißen. In Schnipsel, Konfetti, die tun keinem weh. Nicht so schmerzhaft wie die Monate bei Mama im Verlies. Gefangen im Schuldbewusstsein wie ein Ratte. Ohne Rattenfreunde. Nur die Rattenmutter zum Ausweinen. Und die verstand auch nichts. Wie sollte ich denn kommunizieren was passiert war. Ist doch nix passiert, Kindchen. Das war ihr Trost. Ihr Mantra ohne eine leiseste Ahnung. Und wie hätte ich nur anfangen sollen zu erklären, diese Unmöglichkeit. Eine Strafe Gottes,
Wie soll ich mit der ganzen Schuld weiterleben. Klingt langsam wie ein Abschiedsbrief. Was ich zu feige bin um mich umzubringen. HahahaHahahhaah. FEIGE FOTZE!
Was ist mit dem kleinen Mädchen passiert? Gestorben an Lungenembolie, ausgelöst vom Staub. Frauen, Männer verschüttet? Als ich nach ein paar Tagen erstmals wieder die Nachrichten schauen konnte, wurde immer noch von dem Einsturz des Funkturms gesprochen. Rätselhaft und schrecklich. Mit jedem wackligen Video der Katastrophe verlor ich ein Stück Verstand.
Der alte Mann, der mir helfen wollte gab ein Interview, von Staub und Ruß eingedeckt wie ein Minenarbeiter. Er weinte. Und ich weinte. 83 Menschen wurden verletzt. Ein ganzer Häuserblock zerstört. 16 tot. Weil ich einen scheiß Tag hatte oder wie?.
Mamas Streicheln half rein gar nichts. Sie verstand nicht, dass ich nicht es mich nicht traumatisiert hatte, dabei zu sein, sondern meine fatalen Gedanken. Der Auslöser. Je mehr ich daran denke, desto weniger kann ich mir eine andere Erklärung einreden. Die Behörden hatten auch keine Ahnung wie es zum Kollaps kommen konnte. Keine Baumängel, keine Terroristen, kein Garnichts. Göttliche Fügung. Göttlich. Oder ist es krank und obsessiv, dass ich denke es wäre meine Tat gewesen? Vielleicht ist das meine Psychose? Die Magie hat überhand genommen. Vielleicht habe ich das mit dem Einstürzen gar nicht gedacht. Oder erst danach. Eine verdrehte Erinnerung. Es muss so sein. Eine Übernatur gibt es doch gar nicht. So etwas gibt es nicht?
Sicher gibt es das. Es ist auch so passiert. Hör auf dich zu winden Judith, du glaubst es ja doch nicht …nicht. Die Objektivität der Nachrichten erschwerte, alles. Die Ratlosigkeit der Medien. Es pumpte in mir, immer mehr. Die einzige wissentliche Täterin, soll ich es doch sagen?! Dann kam laute Werbung. Nerv. Lottomist. Heute schon gerubbelt? Ja klar! Und wie. In dieser Zeit masturbierte ich zwanghaft, unheimlich oft. Oh Gott. Aus Langeweile? Schnell das Ventil aufdrehen. Auf eine scheußliche Art war es viel befriedigender als sonst. So wie wenn man versehentlich eine ganze Schachtel mit Gläsern zerbricht und dann aus Verzweiflung und Zorn die Teller gegen die Wand drischt. Der Moment ohne ein Zurück ist überwunden und legt sich rein wie in ein frisch gemachtes Bett. Horror und nichts zu verlieren. Meine Wichsvorlage. Die Wichserin. Jetzt darf ich alles falsch machen. Das Stimulierende des Schmerzes und des Selbsthasses. Ganz ehrlich, ein unglaubliches Gefühl. Man versteht plötzlich Ehebrecher und den befriedigenden Rausch der Untreue.
Bald begann dann das Telefonieren. Das Internet und das Schnurlos fest im Griff wollte ich Buße tun. Die Armen. In der Zeit des Trauerns bekamen sie verstörende Anrufe einer hysterisch heulenden Frau. Verzeiht mir bitt bitte bitte. Es war nicht Absicht. Als Antwort kam meist nur Tuten. Dann wieder Online nach Kontaktdaten von Verbliebenen stöbern, sammeln, Kontakte sammeln ich wie ein manischer Adressbuch-Hamster. Krankenhauszimmer, Friedhöfe, Feuerwehrstationen, Unfallregister, Facebook und überhaupt die ganze Welt, alles wurde voller Opfer. Telefonbücher meine Bibel. Ich betete sie durch, von oben bis unten, teils auch ohne Ahnung ob es da eine Verbindung zum Unglück gab. Einfach anrufen und beichten. Alle hatten eine Entschuldigung gut. Manche schrien, manche weinten mit mir, manche drohten mir. Keiner glaubte mir. Ich habe sie alle getötet, eure Lieben, deine Liebe. Ich habe sie auf dem Gewissen. Könnt ihr jemals wieder lieben? Kümmert es mich wirklich oder mache ich eine Kur, um schlechtes Gewissen loszuwerden? Um mich im Spiegel wieder ansehen zu können. Ich habe kein Herz, wer weiß, wer es hat.
Ohne Kaffee bin ich wertlos. Hab eine weitere beschissene Nacht hinter mir. Schreiben hilft offensichtlich ebenso wenig wie die Pillen. Schlafen in der Anstalt ist wie im Käfig. Nicht weil ich eingesperrt bin, sondern weil alles hier meine Vernichtung reflektiert. Ich könnte mich nicht einmal ablenken selbst wenn ich wollte. Der Grund warum ich hier bin schlägt mir bei jedem Moment ins Gesicht, hier, im Bad, am Klo, im Aufenthaltsraum, im Besucherzimmer, im Telefonierbereich. Genau. Das Telefon. Das hatte ich so oft in der Hand, dass der billige Plastiklack abbröckelte. Und es roch nach Handschweiß, so wie es manchmal unter einem Lederarmband riecht, wenn man zu viel geschwitzt hat und der eigene Geruch eine Schutzaura wird, die einen schützt, einen einhüllt. Ich muss gerochen haben wie faule Papayas. Immer nur das ekelhafte Haarspray von Mutter übergeworfen um den Anschein von Sauberkeit zu erwecken, sehr halbherzig. Hahaaaha. Hier im Käfig waschen sie uns aber, bevor wir alles verpesten. Ich bin eine kleine Pest, meine Freunde. PIEP PIEP verlauste Federn.
Mit meiner Familie wohnte ich am Land und weiß rein gar nichts mehr aus dieser Zeit. Das muss schön gewesen sein. Sonne, Felder und ein Kinderhirn haben. Ganz sauber. Oder besser, es war leichter reinwaschbar. Wie alt? Wie alt war ich damals mit dem Hasen. Fünf oder so. Sechs. Meine Schwestern und ich mussten auf den benachbarten Hof aufpassen. Klingt gut. Hasenfüttern und das war alles. Obwohl ich den Mähdrescher auch immer toll fand. Jetzt weiß ich wieder. Der war ein Monster. Und reiten konnte man es auch. Wir fanden den toten Hasen im unbestellten Rapsfeld neben unserem Haus. Das hatten wir schön verhaut. Das was sicher einer vom Nachbarn. Schwesterchen meinte, der ist ausgebrochen und die geniale Idee kam uns, ihn einfach zurück in den Käfig zu stecken. Ich glaube ich habe nur geweint die ganze Zeit. Damals schon Mörderin.
Schlechtes Gewissen bleibt wie es ist, es hält. Als das tote Vieh zurück im Drahtkäfig war, gingen wir nicht mehr zurück. Als die Besitzer nach Hause kamen zitterten wir der Reaktion entgegen. Die riefen an und sagten einfach nur Danke fürs Aufpassen. Und! Was ganz eigenartiges war passiert.
Alles kommt zurück, ich hatte das total vergessen! Einer ihrer Hasen war vor zwei Monaten weggelaufen und war jetzt aber wieder zurückgekehrt, fröhlich in seinem kleinen Fach, meinten sie. Der war tot gewesen, oder? Wie war das? Ich weiß doch noch wie traurig ich war. Das kaputte Stück Fell, hart. An das habe ich seit Ewigkeiten nicht gedacht. Da ist ein Dreher drinnen. Vielleicht nur eine verwirrte Kindheitserinnerung. Sicher, das rücke ich mir gerade zurecht und wiederbelebe alte Opfer. Krass, wie mein Kopf funktioniert. Hab ich einen Hasen gerettet um sicher keine hundert Menschen umgebracht. Genau! Das ist es. Ich geh kotzen.
Als ich die Polizei anrief und mich stellen wollte, wurde Mama böse. Die kamen und befragten mich. Wie wollen sie das denn gemacht haben, Frau Keinke? Dachten wahrscheinlich ich hätte einen Bestrafungsfetisch. Schlag mich, Beamter! Reiß mir den Kopf ab! Sperr mich ins Loch, in die Ruinen des Turms, da zementiert mich ein. Die gingen dann schnell wieder. Wurde ihnen sicher zu schräg. Das war keine Aussage sondern geballter Irrsinn, nicht mal Exorzismus hätte da eine Chance gehabt. Ich weiß es besser, aber die hatten keine Ahnung. Mama gab mir Tabletten. Bis ich dann fast katatonisch ausgeschalten von den Weißkitteln abgeholt wurde. Die sehen aber gar nicht aus wie man glaubt. Die trugen Diesel-Jeans und Ohrringe.
Eingeliefert weil Suizidgefahr, Blödsinn. Wenn ich tot bin, wer soll denn dann die Welt heimsuchen, alle ins Verderben eines anscheinlichen Zufalls stoßen!? Pathos.PAPAPAPAPAPAAAAAThosssss. DAMMDAMM-DAAAAAAAAAM!
Wenn ich mir das Ganze hier durchlese, nach zehn Mal zerknüllen und reuig aus dem Papierkorb fischen, wünsche ich mir irgendetwas zu erkennen. In meiner Klaue ein Stück Klarheit zu isolieren. Zwischen den Zeilen ist die Wahrheit? Nein. Nichts. Das ist nur zerstreute Projektion von Hoffnung. Platt und bipolar. Keine Spur von Erklärung. Ist auch nicht mehr nötig. Ich suche nur die Entschuldigung, die am wenigsten schmerzende Perspektive. Es war schon immer klar. Alles klar. Ganz klar. So klar. Dass ich (unlesbar durchgestrichen) bin ist klar. Und noch was ist klar. Sie sind klar, klar vor mir. Die Umrisse meines fünfzehnten Geburtstags. Pappteller und Plastikbecher. Cola und Gummibärchen. Mamas alte Schallplattensammlung lief. Aprikosen im Haar und an der Hüfte Bananen. Lalalalalala. Nach der Scheidung war sie tausendfach lieber zu mir. Mich vor den Geburtstagsschnittchen. Es wird klarer. Die brüchigen Haare in eine Zopfform gequält. Lila Schleifchen. Das Zittern vor Aufregung. Und Grausamkeit. Kälte. Papa kam ja nicht. Genau, da fing es an. Jetzt weiß ich wieder.
Gott
Der Geburtstagswunsch. Waren da Kerzen? Egal. Ich erinnere mich. Mein Ärger. Mein egoistischer Hass. Meine Ablehnung. Ich wollte ihn nie wieder sehen, wünschte ihm den Tod. Das Kind wird zur jungen Dame durch Vatermord. Patrizid. Heißt das so? Ich muss gerade so lachen über mich. Meine lächerlichen Tränen lösen die Schrift. Das stimmt alles, das muss so sein. Es passt so gut. Nie wieder sollte er kommen. dann kam er auch nicht mehr. Bei der Anfahrt im Zug verendet, der Papa. Im Schlaf erstickt an einer plötzlichen Schwellung im Brustkorb. Das war ich. Bitte. Nein. (Satz durchgestrichen) und ihm das Herz zerbrochen.
Verflucht. Das beschreibt es doch ganz gut. Wie soll man es sonst nennen, wenn man bekommt was man im Zorn will. Das Allerschlimmste flucht und es passiert. Einfach so. Ohne ein Zeichen oder Bestätigung. Ein Verbrecher, von dessen Existenz nur ich weiß. Das ist jetzt vorbei, ich bin wunschlos unglücklich. Sterben wäre jetzt schön. Leicht. Gerecht. Aber ich will nicht. Also ist es nicht so. Meine Entscheidung. So ist das. Das restliche Leben Gedanken kauen, nichts lernen. Verflucht zu glauben, dass ich verflucht bin. Verflucht zu wissen, dass ich es nicht bin.
Aus jetzt
*Therapieaufzeichnungen von Judith Magdalena Keinke. Aus den privaten Patienten-Archiven der psychiatrischen Anstalt „Hl. Georgius“
Wucht
Ein leichter Föhnwind bläst und Linda will nicht sterben. Der schwarze GTI mit den grellgrünen Plastikfelgen ist, nachdem sie von seinem unbarmherzig aufschlagenden Kühlergrill ungefähr zehn Meter durch die Luft geschleudert wurde, in den Gegenverkehr gefahren und seitlich in die Auslage der türkischen Bäckerei gerutscht. Seine überhöhte Geschwindigkeit und entsprechend brutale Karambolage verlangten neu ein einziges Opfer. Linda, die dadurch kurzzeitig Fliegen lernte.
Das 50 Kilo Mädchen robbt auf einen der Gehsteige zu, die Mitte ihres Körpers deformiert. Die Betonkanten erscheinen ihr dabei wie unüberwindliche Betonklippen. Die gemütlichen grauen Frotteehosen sprich ihr Pyjama-Unterteil, sind schwarzrot eingeweicht. Die Finger ihrer kalten Hand wirken im unscharfen unmittelbaren Blickfeld weiß, schon fast blau.
Alles in allem eine Situation, die vom Schock weichgezeichnet ist.
Sie wollte nur die Gedanken an die ganze Jobscheiße abschütteln. Zigaretten und ein fettiges Borek von um der Ecke sind diesmal nicht die Rettung, sondern brachen ihr mit zirka 60 Kilometer pro Stunde den Hüftknochen wie eine Faust Origami. Ihr Oberschenkel ist verdreht wie eine Brezel.
Linda ist gerade mal 25 Jahre alt, langhaarig brünette und attraktiv gebaut. Diese schöne Physik hat jetzt vorerst einen „Knacks“ Außerdem merkt sie, während sie im Millimeter Bereich vorwärts krabbelt — da sie auf ihrer Bauchtasche liegt und diese nachschleift — , dass sie ihre Wohnungsschlüssel vergessen und sich somit ausgesperrt hat. Eigentlich gilt das jetzt als unwichtiges Detail, aber die Zerstreutheit macht auf irgendeine kranke Art und Weise die Tatsache, dass sie gerade von einem Auto angefahren wurde, noch ärgerlicher für sie. Sie steht unter Schock, wie gesagt, Schock wie ein Landminenopfer, sonst würden sie nicht solche Dinge beschäftigen. Beschämt vor den Schaulustigen versucht sie sich auf die blutig zerquetschten Knien zu stützen.
Ihr linker Busen, vom zerissenen KISS Tshirt bloßgelegt, ist ihr aber nicht peinlich. Schocklogik. Ihr ist unangenehm, dass Leute schauen und merken, dass sie gerade einen Unfall gehabt hat — also auf einer urgesellschaftlichen Ebene sich schämt, etwas falsch gemacht hat. Die andere Brust fühlt sich an wie ein Plastiksackerl voller zerdrückter Lychees. Ihre dicken Haussocken, bei denen Linda dachte, dass sie für den Weg über die Straße schon herhalten würden, kleben in nicht genau identifizierbarer Pampe an ihren tauben Füßen. Sie fühlt sich unförmig und verwachsen, obwohl sie eigentlich nichts fühlt. Die kleinsten Bewegungen, die sie vor den Augen der umstehenden Traube von Menschen vollführt, sind die anstrengendsten ihres ganzen Lebens. Wer weiß, ob sie nicht vielleicht nur in ihrer Vorstellung passieren.
Einer der Bäcker mit Schürfwunde am Arm wirft die Arme hoch und kommuniziert keuchend mit einem Kollegen, peripher in Lindas Sichtfeld. Er lacht sarkastisch und halb verzweifelt als Antwort. Ein Pärchen daneben winkt Linda zu, wie auf einer völlig abstrakten Schiffsfahrt. „Leb wohl.“ Eine ältere türkische Dame mit Kopftuch hat die Hände vor ihrem Gesicht zusammengeschlagen. Ihre hübsche Tochter in diesen engeren modisch ansprechenden Kopftüchern dreht den Ausblick ihres Kinderwagens weg von dem Ein-Frau–Massaker und zischt sehr zähnebetont in das Handy, das wie eine geniale Fernsprechanlage zwischen Tuch und ihrem Ohr steckt.
Ein glatzköpfiger unproportionaler dicker Mann mit zwei Pudel-artigen Hunden steht an der Ampel etwas weiter entfernt und beobachtet ausdruckslos die Szenerie, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ein vielleicht siebenjähriger Junge ohne Vorderzähne mit rotem Handtuchumhang läuft laut kreischend an Linda vorbei. Ebenfalls er ignoriert den 5 Meter entfernten und verwaschenen Zebrastreifen. Es ist nicht ganz klar, ob er den Unfall überhaupt schon bemerkt hat. Noch ein paar Jahre älter und der rotznäsige Supermann hätte vielleicht helfen können.
Als Linda am Speditionslaster vorbei auf die Straße sprang und in der letzten Hundertstelsekunde das Auto sogar noch hören konnte, schoss ihr noch durch den Kopf. „Ich bin normalerweise immer vorsichtig im Straßenverkehr, Frechheit! Vielleicht wird mich meine Empörung und das selbstsichere Ignorieren retten. Vielleicht wird einfach so alles gut. Was ich nicht beachte, passiert nicht.“ Viel in dieser kurzen Zeit. Arroganz gegen Unglück. Diese Rechnung geht normalerweise nie auf.
Erinnerungen ans Klippenspringen am Wolfgangsee schießen Linda durch den kopf. Damals malte sie sich alle Horrorszenarien aus, vom Wasser aufgerissene Fußsohlen oder ein schlechter Absprung und prallt sie auf einen Stein. Und dann gibt es die Urban Legend, dass sich dort Holzpflöcke dicht unterm Wasserspiegel verstecken — gerade nicht sichtnar und ganz wild darauf, alle wie Lammkebab aufzuspießen. Jetzt ist das Schlimmste, noch furchtbarer als sie sich ausmalen könnte, beim Lauf zur Trafik, vor ihrer Haustür, passiert.
Aber die große Hirn- Schreibmaschine hält nichts davon fest. Der Schock frisst alles auf, wie ein nimmersatter Gedächtniswurm.
Linda zieht einen Faden Körpersaft am Boden entlang, von der Unterlippe ausgehend, aber auch von der primären undichten Quetschung am Unterkörper. Speichel und ein zwei Liter Blut. Jeder Atemzug lässt jetzt schon lange auf sich warten. Ob sie in Ohnmacht fällt, das ist sicher nicht gut. Sie hat eine innere Gegenwehr, die Augen zuzumachen.
Ihr ist schrecklich kalt, obwohl der Boden in der Augusthitze flimmert und obwohl sie wetten könnte, noch immer vorwärts zu kriechen, rührt sie sich tatsächlich nicht mehr. Das Blut fließt nicht mehr. Ist die Quelle versiegt? Lindas Gesichtsausdruck ist mehr streng als angsterfüllt — oder wie man sich sonst erwarten würde, welche Gesichter man da so ziehen sollte. Sie wartet, ob ihre Ahnung stimmt und blinzelt. Das Blinzeln fühlt sich aber lange an.
Sirenen. Im vibrierenden Krankenwagen reisst Linda die Augen auf, so wie wenn einen ein wirklich böser Traum wachgepeitscht. Linda runzelt ihre fahle Stirn wie einen Mops-Gesicht aufgrund lauten Fahrt des Krankenwagens. Aber besonders, weil sie realisiert, dass sie in einem Krankenwagen liegt. Der poltert im gleichbleibenden Rhythmus. Das wird wohl eine Brückenüberführung und ihre engen verbundenen Sektionen sein. Eine Infusion zieht wie winzig verzweigte Eisbäche durch ihre Adern. Linda blickt an sich hinab und sieht ein Schlachtfeld. Das waren mal ihr Bauch, Hüften und Co. Die fast übertrieben extreme Schwellung vom Becken bis zum Rippenansatz gleicht einer Schwangerschaft. Zehntes Monat, Mutanten-Zwillinge! Der bösartige Babybauch des Teufels.
Ein Sanitäter nimmt Linda etwas grob aber bestimmt am Kinn, zieht ihren Blick hoch direkt in den seinen. Der macht ihr Angst. Es sind die wild blitzenden Augen und die erstaunt gewellte Oberlippe eines verwirrten Tischlers, der entdeckt, dass er seinen verschnitten geglaubten Holzwerk doch noch wie geplant hinkriegen könnte. Linda versteht jedoch kein Wort des dumpfen Bellens, das fast blechern aus seinem von vergilbten Stoppeln umrahmten Mund dröhnt.
„Arschloch“ donnert als einzig zulässige Antwort aus Lindas Mund. „Lasst mich in Ruhe, keiner von euch Arschlöchern, keiner … “ und schon knallt eine grelle Welle Taubheit über Lindas Nervenbahnen. Die folgende Kälte ist unbeschreiblich. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Wie ein neugestarteter Generator zieht es Lindas Bewusstsein aus dem Morast. Unwissend wie viel Zeit vergangen ist, plärrt Linda als Wiedersehensgeschenk: „Arschlöcher“ Die Aggression verwundert den blonden Stoppel-Sani nicht weiter. Fluchende Mitfahrer sind sie gewohnt und sind in so einem Fall ein gutes Zeichen. Die Harten überleben eher.
Der Wagen stoppt mit einem Ruck. Beim Rausziehen der Liege schreit der Blonde mit Stoppeln: „He, Harri, schau die lebt noch!“ Eine fette Bassstimme klingt mystisch von Richtung Fahrersitz: „Die hat ein Glück.“ Lindas Arm fährt in die Höhe, als ob sie an einer Kette einer imaginären Glühbirne anziehen möchte, um sie einzuschalten, und brabbelt in ihre erneute Ohnmacht hinein: „Nix Glück!“
Ein Krankenzimmer, das mehr nach Krankenzimmer aussieht wie jedes andere Krankenzimmer. Infusionen tropfen und die Luft wird von einem Dunst aus Händedesinfektion und die meisten vorstellbaren Körperausscheidungen dominiert. Irgendwo durch die von der Zeit vergessenen Wände hört man jemanden husten.
Ben ist Lindas Mitbewohner aus der Birkengasse. Jogginghose. Das ist ein Wort, dass ihn eigentlich in einem Wort perfekt beschreibt. Der wollte gerade stolz seine Beute, einen Stapel Fertigpizzas, vom Penny-Einkaufsladen in seine urbane Höhle schleppen. Nebenan wohnt Linda — wenn sie nicht gerade von Autos angefahren wird — und muss oft seine mitternächtlichen Fress-Massaker ignorieren versuchen. Nur dieses Mal kam auch Ben nicht weit und stolperte beinahe über den abgesperrten Unfallort mit einer unguten Vorahnung im Brustmagenbereich. Das Unwohlsein beruhte jedoch mehr auf seiner faulen Routine-Abhängigkeit als auf Schreck vor menschlichen Schicksal.
Als er dann Lindas Tasche und mehrere Liter ihres Lebenssafts am Umweg heim erblickte, wusste sogar er, was das bedeutete. Finde jemanden, der dir sagen kann in welches Krankenhaus sie meine Mitbewohnerin, den scheiß Pechvogel, hingebracht haben und versuche Polizei zu vermeiden, da du deine bekifften Drecksau-Augen nicht einmal vor Andrea Bocelli verstecken könntest.
Da steht Ben jetzt vor einer zwergenhaften Krankenschwester mit enormen Busen, und schräg zur aufgebahrten Linda, die in ihrem dick einbandagierten Zustand eigentlich ganz in Ordnung aussieht, wie er findet. Sekundäre Geschlechtsmerkmale machen Ben meist Freude, ebenso etwas zierlichere Damen. Nur heute muss er mit anderen Dingen klarkommen, die unbarmherzige Geliebte „Realität“ Und sie grölt ihm ins Gesicht: „ICH BIN DA!“
Völlig überfordert vom Anblick seiner Bekannten — sie sind tatsächlich keine richtigen Freunde, mehr mit einander sympathisierende Wohnungskollegen — verflucht Ben seine menschliche Empathie. Ein Superbösewicht würde ihm jetzt „Du bist schwach,“ ins Ohr flüstern. Er winkt wie ein Idiot zu Linda und bleibt weiter so sehr mit sich und seinen eigenen Gefühlen der Situation gegenüber beschäftigt, dass er nicht ein Wort verstanden hat, das die Busenzwergin zu ihm gesagt hatte. Eine Assistenzärztin, so schätzt Ben, und ist stolz auf seine unbestätigten didaktischen Fähigkeiten, tippt ihm richtige Berührung scheuend am Ellbogen und weist Richtung Zimmertür. Das versteht Ben! Ihm fällt ein flatterndes Lid in Lindas Blick auf und anstatt es als netten Versuch ihm zu zu zwinkern zu interpretieren, zeigt er aufgeregt auf die Patientin und klingt, als ob er laut nach den richtigen Vokabeln suchen würde. Während Ben nun erlösend nach draußen geführt wird, versammelt sich eine Traube um die Angefahrene, drapiert wie Weihnachtslichter und eine Frage wird gekrächzt: „Von eins bis zehn, wie schlimm sind die Schmerzen.“ Linda hustet ein ruppiges „Sieben“ in die Richtung des Mannes mit den Drogen. Da schließt sich die Tür hinter ihm und der immer etwas verkatert wirkende Ben fixiert den hässlich gestrichenen Gang der Ambulanz.
„Sie sind der Bruder?“
Ben kann sich kaum von der extrem naiven Zeichnung eines Regenbogens an der Wand abwenden. Peinlich langsam antwortet er mit einem langen „Nein“ und einem fettem Fragezeichen hinten dran. Der entzückend junge Arzt macht einen fragenden Kussmund und kratzt sich am undichten Haaransatz. Schuppen springen.
„Ich dachte sie wären der Bruder.“
Ben verzieht den Mund.
„Lindas Mutter sollte schon am Weg sein, die kommt von Tübingen rein. Ich bin einfach nur der Mit — „
Er entscheidet sich mitten im Satz dazu, diesen nicht zu beenden. Wie ist es möglich einen derart beschissenen Regenbogen zu malen. Bei aller Liebe — drei Farben für den Himmelsbogen, rot, orange und lila, das reicht nicht!
„Was sind Sie denn nur?“
Jetzt starrt auch der vermeintliche Assistenzarzt auf das Bild und beide sind in ihrem Umgang so zäh wie gestocktes Fett. Eine zu Ende gehende Nachtschicht trifft auf Liebe für Cannabis. Wer weiß, warum Ben seine Emotionen plötzlich auf etwas anderes und so Banales projizieren muss. „Angehöriger.“
Ben macht ein Stück Herz bemerkbar. Er muss nun auch an Lindas Vater denken, den berühmten Chirurg aus Österreich. Ob man an Familienmitglieder operieren darf? Soweit Ben wusste, war der große patriarchische Aufschneider aber eh nie da. Linda war allein.
„Mein Name ist Ben Derflinger und ich bin ein Angehöriger von Linda. Lassen Sie mich doch bitte hier bleiben.“
„Hören Sie, was hier passiert ist, macht mir etwas zu schaffen.“
Der Assi-Arzt nagt tote Haut von seiner Unterlippe und wischt an den Wachsfarben des Bildes herum.
„Was?“
„Das Mädchen da drinnen …„
„Ja? … Was ist mir der Linda?“
„Die hatte keinen Tropfen mehr, nix.“
„Bitte!?“
Bens Schließmuskel strapaziert sich zum äußersten. Die Miene des Arztes zerläuft wie Sand, unlesbar. Zerstreut sieht er nun durch das grottenschlechte Regenbogenbild, durch die Wände und direkt in eine andere Dimensionen.
„Als die Sanitäter das Mädchen beim Unfall aufgelesen hatten, fiel denen auf, dass die Oberschenkelarterie offen war. Und mit ‘offen’ meine ich offen wie ein Scheunentor.“
„Ja, machen Sie was! Nähen sie das zu oder was.“
„Keine Sorge Herr Derflinger, sie ist vorläufig außer Gefahr. Sie hat mehrere Bluttransfusionen bekommen, der OP wird vorbereitet und die Blutungen sind gestoppt. Es ist nur … wie ich vorhin sagen wollte …„
Ben überlegte ausführlich ob, wohin und wann er dem Arzt eine auflegen sollte. Was war denn das Problem? Der Arzt schien irgendetwas sogar amüsant zu finden und eine Form von Information vorliegen zu haben, mit der Leute in seiner Profession selten auseinandergesetzt sind. Verschmitzt und mit hoch gebogenen Augenbrauen leitet er seine Erklärung mit einer verächtlichen Millisekunde eines Lachens ein.
„Sehen, die Linda war völlig leer, kein Tropfen Blut in der Frau! Sie war ausgeblutet. Dass das ein Mysterium ist, ich meine, dass sie noch lebt, brauche ich wohl nicht erklären.“
„Kommt so etwas nicht öfter vor? Was ist denn da bitte so besonders dran?“
Ben merkt wie seine eingeschlafene Wade schmerzhaft erwacht, und im unpassendsten Moment überhaupt. Er kratzt sich nach hinten greifend und das Knie abwinkelnd an der tauben Stelle. Ein wenig hat Ben Lust, einfach umzufallen. Der Arzt führt sich schließlich mindestens so absurd auf. Wieder lächelt er ungläubig und in sich hinein. Ben keucht, eine Antwort erwartend. Sie kommt.
„Nein, wirklich nicht, so etwas kommt in der Form nicht vor. Ohne Blut ist man eigentlich hin.“
„Ja, aber sie ist OK? Das war halt Glück, Blutarmut, Timing, was weiß ich.“
„Naja, das ist nicht Glück, wenn ein Mensch verblutet, keinen Puls mehr hat und trotzdem noch ansprechbar ist, reagiert.“
„Sie hatte keinen Puls mehr?“
„Nein, dafür braucht man nämlich Blut.“
Die niedergespritzte Linda lallt den Ärzten Rotz in die Gesichter, die besprechen wie denn nun die erste der beiden 20-Stunden-Operation ablaufen soll und wegen ihres abnormen Zustands etwas unter Stress stehen. Außerdem sollte in solchen extremen Fällen mit zertrümmerter Hüfte und Arterienriss eigentlich überhaupt keine Zeit verloren gehen. Daher kommt es Linda doppelt absurd vor, dass die Schwestern ihr nun plötzlich die Haare waschen wollen. Alles noch vor der großen Metzgerei. Das wohlig wärmende Opiat beschwichtigt Linda zwar zu einem gewissen Grad, doch die Notwenigkeit, das bisschen Straßenbelag und Glas aus ihrem Kopfhaar zu spülen, leuchtet ihr nicht ein. Wenn sie doch viel lieber sicherstellen würde, dass wichtige Teile ihres Unterkörpers und Gehapparats mobil und funktional blieben. Nicht die Frisur machen! Sie fühlt sich eloquent und im Recht, aber ihre süffisanten Worte der Gegenargumentation klingen etwas beeinträchtigt.
„Warumussasseinitte?“
Die Schwestern stellen sich dumm und gegen Lindas Willen wird sie Skalp-hygienisch gereinigt.
Linda schaukelt im Bett, da sie versucht, sich parallel mit der durch die Krankenhausgänge Richtung OP rollenden Liege zu bewegen. Sie will helfen und tritt auf der Stelle soweit es ihr zerdrückter Beckenbereich zulässt. Die Stimmen um Linda herum hallen hinter dicken Wänden aus klinischem Betäubungsmittel. Sie gurgelt unsinnige Fragen an die vorbeiziehende Rigipsdecke und bemerkt eine gewisse Problematik mit der Weiterführung ihrer Existenz. Unter Drogen ist der Tod noch ein Stück abstrakter. Etwas wie „Kann ich hier bleiben, falls ich sterbe?“ schnarcht aus Lindas Mund. Sie macht bereits Pläne für ihr Nachleben.
Der Operationssaal ist klein und doch überfüllt. Mindestens drei Ärzte mit jeweils Assistenz und eine Handvoll Schwestern delegieren sich gegenseitig und mit großer Nervosität. Gab es Verwirrungen, wer nun den Eingriff leiten soll oder waren alle überfordert mit der gefährlich-ungewöhnlichen Situation, der sich Linda kein bisschen bewusst ist. Sie setzt als Antwort auf den ärztlichen Aufruhr lediglich ein hilfsbereites Gesicht auf. So glaubt sie. Ihr Gesicht gleicht aber mehr einem Schwamm.
„Mehr Blutkonserven? Oder sollen wir warten. Das kann doch nicht sein,“ schimpft einer mitten in der Operationshorde. Eine Frau lacht sarkastisch „Wie wäre es, wenn wir diesen Notfall auch als solchen behandeln, Herr Kollege. Anästhesie!“
Etwas unprofessionell wagt sich Linda noch zu denken, bevor ein junger haariger, fast südländisch anmutender Typ mit Maske und kurzen Ärmeln an ihrem Infusionsschlauch herumdoktort und ihr eine Ladung Licht-aus-Saft ins System drückt. Anästhesisten, die unbesungenen Helden des Hospitals. Die Zauberer mit Hypnos-Kräften schleudern uns ins schwarze Nichts des lebendigen Sterbens. Ein Nullkomma irgendwas Milliliter zu viel, eine Allergie nicht einberechnet oder einfach den Zustand des Patienten falsch eingeschätzt, und schon wirft man Unschuldige ins Koma oder schaltet sie einfach aus wie einen Lichtschalter.
Linda bemerkt wie ihr rechter Arm die körpereigene Spannung verliert und in den Operationstisch hinein zerläuft. Es fühlt sich grausig an. Plötzlich setzt ihre Atmung komplett aus, doch bevor sie mit Panik reagieren könnte ist das rettende Schwarz zur Stelle. Somit befreit, ist Lindas letzter Gedanke so etwas wie: „Lassen wir doch die Profis um mein Leben kämpfen, ich hab meinen Teil getan.“
Das Raucherzimmer gab es eigentlich nicht. Der fensterlose Abstellraum im Kellergeschoß wurde dann aber von gestressten Internisten und militanten Tabakfanaten annektiert. Seitdem pilgerten alle, egal ob Personal oder Kranke von der Ambulanz, Chirurgie, Onkologie oder der überfüllten Interne, in das Räumchen um zu rauchen. Das wird natürlich nicht gerne gesehen, aber was soll man tun. Die Kunde hat sich ausgebreitet und offiziell stellt man sich einfach dumm und schulterzuckend. In den Wintermonaten kann man die armen Teufel auch schlecht in die Kälte schicken. Raucher finden immer einen Weg.
Da sitzt Linda nun in ihrem eigenen Rollstuhl samt Techno-Sticker und flatternde Freundschaftsbänder an den Haltegriffen hinten. Der Luftabzug dröhnt und sie pustet Schwaden um die Patientenkollegen und ihren einst etwas fremden Mitbewohner. Bis auf Ben, der seit der Operation vor zwei Wochen fast jeden Tag besuchen kam, sind ausschließlich Rollstuhlfahrer anwesend. Wie eine vom Schicksal gefickte, rollende Straßenbande kommen sie Ben dann immer vor. Im Moment muss Ben aber sein etwas „linkes“ Auftreten vor Herrn Jonas verteidigen. Nur weil Ben sein Jamaica Schweißband am Arm trägt — obwohl ihm nichts ferner liegen könnte als sportliche Betätigung — und ein paar unüberlegte Kritikpunkte gegenüber Schulmedizin aufgebracht hat, verbeißt sich der einbeinige, politisch rechtsrollende Patient in den kleinen Hippie.
Herr Jonas wettert gegen diese Unart, gesellschaftliche Systeme, die einem Staatsbürger ein schöneres Leben bereiten, als elitär und uncool zu bezeichnen. Dabei kratzt er sich am Stumpf unterhalb seines linken Knies. Bens normalerweise Guerilla-gleiche Argumentationskraft wird vom Behinderten zerschlagen und er dreht beschämt seine Zigarette in den Aschenbecher. Linda ist amüsiert und zieht genüsslich an ihrer frisch entflammten Ernte 23. Auch sie ist oft genug paranoid gegenüber einer unbekannten faschistischen Kraft gewesen, vertreten in der Nachbarschaft oder beim Kleidergroßhandel in der Innenstadt, und hat bekifft gegen Gott, Staat und die nach-zwölf-gibt-es-keine-ordentlichen-Pizza-Zusteller-Welt gewettert. Aber momentan hat sie keinen Sinn für Auseinandersetzungen, besonders nicht mit Herrn Jonas. Als Ausstehender zuzusehen, wie sich zwei streiten, macht nach einer lebensgefährdenden Hüftoperation sogar Spaß.
Herr Jonas ist kein verbitterter Mensch, nur streng und hat in seinen rund fünfzig Lebensjahren auch einiges an Pech geerntet. Er war mit der Überzeugung aufgewachsen immer das zu bekommen, was man verdiene. Und so ziemlich an jedem Scheiß, der einem widerfährt, ist man selbst schuld. Blöd, dass er sich ausgerechnet einen Tag vor dem Einwintern seiner Yamaha noch eine letzte Motorradausfahrt erlaubte und einen brutalen Unfall hinlegte. Das feuchte Herbstlaub war ihm in die Quere gekommen und den Rest des mittig an der Wade abgetrennten Fußes wurde erst Stunden später im nahegelegenen Wald gefunden. Womit man das verdient habe, wollte sich Herr Jonas dann doch nicht fragen. Eine abweisende Handbewegung gibt der stolze und starrköpfige Mann seinem Opfer, Ben, noch mit auf den Weg: „Mach doch was du willst du linker Depp. Visite kommt gleich, ich hab genug von euch Volksschädlingen.“ Auch wenn das klingt, als ob er es nicht ganz ernst gemeint hat, ist es ihm wahrscheinlich sehr ernst. Er rollt aus dem Zimmer und bringt es mit einiger Mühe sogar fertig die Tür zuzuknallen. Ben bleibt geknickt kopfschüttelnd zurück und zieht die Schultern hoch, so als ob er keine Ahnung habe, was gerade geschehen sei. Der ganze Raucherraum bricht in schallendem Gelächter aus.
Besonders Kevin lacht wie ein wahnsinniger Zwerg und sieht mit seinen Überbiss dabei aus wie ein tollwütiges Pferd. Er ist ein drahtiger Kerl und mit zwanzig viel zu jung für den Rollstuhl. Eigentlich raucht er gar nicht, aber er mag und braucht die Gesellschaft. Auch wenn er nicht der hellste sein mag und etwas tollpatschig durch sein Leben geht, hat er seinen Unfall nicht „verdient“ Linda hat ihn gern, auch wenn er unglaublich nerven kann. Angeberisch laut telefoniert er, und hat den schlechtesten Musikgeschmack, Nachtschicht-Trance uns so. Kevin konsumiert ausschließlich Reality-TV. Kevin war mal auf Urlaub in Malle und besoff sich mit seinen Trinkkumpanen aufs Äußerste. Beim Hahnenkampf am Strand — also mit Kevin auf den Schultern seines großen Firmenkollegen aus der Metallverarbeitung — wurde der unglückliche Kevin von seiner erhöhten Position gezogen. Er knallte Kopf voran in den Sand und blieb liegen. Das Spiel ist eigentlich als Wasserspaß gedacht und schnell wurde allen damals auch klar, warum. Querschnittsgelähmt. Kevin konnte seitdem seinen Körper vom Hals abwärts, weder spüren noch bewegen. „So hat noch keiner beim Hahnenkampf verloren“ gluckst es manchmal aus ihm hervor, aus diesem Junge, der sein Leben zerstört, aber dabei kein Stück seiner guten Laune eingebüßt hat.
Neben Linda wippte Anja in ihrem Stuhl hin und her. Sie hat zwar die fixierende Sicherung in den Rädern eingelegt, aber durch ihre ständige Nervosität war das alles schon extrem locker. Anja raucht Kette und sieht Kevin, Ben, Herrn Jonas und die ganzen anderen Suchthaufen als Eindringlinge auf ihrem verdienten Grund und Boden. Linda ist OK. Die nervt nicht, kommt nur drei-viermal am Tag zum Rauchen und hat irgendwie einen beruhigenden Effekt auf die ständig zuckende Anja. Auch sie hatte ein Bein zu wenig. Wenn man über vierzig Zigaretten am Tag durchzieht, hat das meist auch einen Grund. Eine Routineoperation der Krampfadern wurde verpfuscht und machte sie zum Piratenkandidaten. Der Groll, den die attraktive Lehrerin mittleren Alters nun gegen die Ärzteschaft und auf das ganze Krankenhaus hegt, ist nachvollziehbar. Verbittert ist gar kein Ausdruck. Tatsächlich wird Anja wegen ihrer hitzigen Streitereien mit dem Personal und Belegschaft mit großen und kleinen Schmerzmittelchen ruhig gestellt — offiziell wegen dem hohen Schmerzlevel, dem sie seit der verpatzten OP ausgesetzt ist. Sie erscheint den anderen deshalb meist wie ein grantiger Kater nach einer langen Nacht und nur ganz selten blitzt ihr purer Ärger mit Welt durch die narkotisierten Augen.
Das arme Mädchen musste einem auch leidtun, denkt sich Anja. Ein Auto fährt das junge Ding nieder und macht Brei aus ihrem Beckenbereich. „Gerade für Frauen ist sowas ganz schlimm“ so Anjas Meinung „man weiß ja nicht, ob es nicht vielleicht auch wichtige Teile wie Gebärmutter und so erwischt hat.“ Deshalb teilte sie aber auch jede Packung mit Linda und machte die aus Zuneigung zu einer stärkeren Raucherin. Sicher, Kevin ist auch arm dran und noch saujung, aber dem scheint irgendwie nichts zu fehlen, jedenfalls kriegt man es nicht mit, denkt sich Anja dann manchmal im Affekt auf ihre bevorzugenden Haltung gegenüber Linda.
„Du hast ich ja erstaunlich gut erholt!“ meint Ben zum tausendsten Mal diese Woche. Ihre schnelle Gesundung war bis jetzt natürlich auch beeindruckend, aber Ben hatte so eine Art, das Offensichtliche zu betonen, so dass es einen jeden nervt. Besonders Anja reagiert wiederholt giftig auf Bens Smalltalk: „Und bald kannst du ohne Mama abwischen. Was glaubst du denn, Benjamin? Dass unsere Linda nicht in zwei Wochen wieder Rumba tanzt und heim darf?!“
„Nein … aber Rumba …“ stockt Ben. Er ist offenbar der emotionale Sandsack der Stunde. Kevin mischt sich grinsend und unter leichten Halskrämpfen ein: „Ich darf auch bald heim. Mein neuer Rollstuhl ist fertig und dann kann ich mit dem direkt heimfahren. Man kann einfach in so einen Schlauch blasen und das Ding düst weg.“
„Das klingt Hammer,“ meint Linda sich eine vermeintliche Raucherträne aus dem Auge wischend „aber pass auf, dass du keine Leute niederfährst du Rowdy.“
„Gar nicht!“ gackert Kevin und zwickt seine Augen fest zusammen, was so etwas wie ein freundschaftliches Schubsen in Lindas Richtung symbolisieren soll.
Einer der Rollergang ist fernab des ganzen Spaßes und nuckelt starr ins Nichts blickend eine HB nach der anderen. Seine Geschichte ist eine von denen, bei denen man sich wünscht sie niemals gehört zu haben. Aber alle im Raucherzimmer wussten von Gerhard. Wie ein Stück Mais zwischen den Zähnen juckte seine Anwesenheit und das Bewusstsein über dessen mit Unglück triefende Eingang in den Klub der vertikal Beeinträchtigten.
Gerhard ist oder besser war Zugverschieber an einem großen lokalen Bahnhof der Nachbarstadt. Eine schöne gefestigte Arbeit mit Rhythmus und wenig Überraschungen. Und wenn mal eine ärgerliche eintreten sollte, wie zum Beispiel Verspätung oder eine abrupte Gleisänderung für diesen oder jenen Zug, wurde zwar geraunzt, aber die Welt dreht sich weiter. Bis vor zwei Monate jedenfalls.
Gerhard und seine Frau hatten ein freies Wochenende und schnappten sich die kleine Tochter zum gediegenen Picknick beim nahegelegenen Wanderweg. Die Wanderung — da wollten die Drei sich auch rein gar nichts vormachen — wäre natürlich übersprungen und direkt auf der Wiese mit der leckeren Jausenhütte Rast gemacht worden. An einem unbeschrankten Bahnübergang achtete der etwas schwerhörige Familienvater aber nicht auf die Gleise, so wie er es tagtäglich tat, und der kleine Volvo wurde von einem Intercity erwischt. Die Lok rammte Gerhards Frau zu Tode und die kleine Tochter starb auch fast sofort an einer Gehirnerschütterung. Wie durch das fieseste Wunder seit Hiob überlebte Gerhard ohne auch nur einen Kratzer. Völlig heil stand er vor dem verschrotteten Wagen mit den Lieben seines Lebens darin eingequetscht. Er brach auf die Knie zusammen und konnte nicht einmal weinen. Das Trauma ließ ihn taub zurück. Man fand ihn etwas weiter vom Unfallort entfernt neben den Gleisen sitzend und die Hand auf einer der Weichenstellschaltung, der Blick traurig, aber das Auge trocken.
Gerhard kehrte sofort zurück zur Arbeit, ackerte trotz Abraten des Bahnhofvorstands Nacht- und Tagesschichten — teilweise 20 Stunden — durch. Kollegen und andere Tratscher mokierten sich über seine unbeeinträchtigtes Auftreten. Er ging nicht auf das Geschehene ein, weder ehrlich emotional noch irgendwie aus Höflichkeit anderer gegenüber, aufgesetzt — wäre soziopathisch, aber passiert so auch nicht selten. Gerhard sprach mit keinem darüber. Eines Tages war er wohl doch mit den Gedanken bei seiner tragisch verstorbenen Familie, denn ein tonnenschwerer Tankwagon überrollte den armen Mann, zwickte ihm beide Oberschenkel ab wie ein Käsemesser bei Brie. Es wurde natürlich so einiges gemutmaßt, in Richtung, dass der Typ doch ohnehin durchgeknallt sei, dass es ein beabsichtigter Selbstmordversuch war und auch, dass Gerhard von Anfang an ein verrückter Kerl gewesen sei — was in keinster Weise der Wahrheit entsprach, aber ein Mann ohne Worte kann auch nichts richtig stellen. Man wird es wohl nie wissen. So endet seine Geschichte in der dunkelsten Ecke des Raucherzimmers. Die Zigarette ist das Highlight des Tages. Komischerweise fühlt sich Linda in Gerhards Gegenwart immer schrecklich schuldig. So als ob sie etwas tun hätte können für ihn und seine Familie. Hätte sie das?
Ein halbes Jahr. Linda kann sich selbst nicht mehr riechen, die sterile Seife, das kalte Gefühl im Oberarm nach der millionsten Infusion und vor allem den Wechsel der Patienten. Ihre Hüfte ist hin und fühlt sich an wie ein schmerzhafter Klotz. Ben ist vor Stunden nach Hause gegangen. Nach einer mehrwöchigen Pause hatte er sich wieder einmal aufgerafft, das Stückchen Elend zu besuchen. Zehn Minuten inklusive stillem Zeitunglesen. Linda hasst es, wie sehr sie sein Verhalten nachvollziehen kann. Es ist ein Unterschied, jemanden im Prozess des Gesundens zu begleiten oder immer wieder über Monate hinweg bei einem verfaulenden Körper ohne Motivation vorbeizuschauen.
Linda sieht mittlerweile in Ben mehr als den verwahrlosten Verlierer, der nie seinen Teil der Miete zahlen konnte, viel mehr. Er findet sie sicher mittlerweile anstrengend und ekelhaft. Sie wischt sich die unangenehmen Gedanken aus dem Gesicht und konzentriert sich auf den Fernseher. Die Zimmerkollegin ist nach dem Einschalten einer grellen Quizshow sofort eingeschlafen. „Warum bin ich kurz vor Eins dermaßen aufgekratzt, es ist Nacht und ich will einfach nur schlafen,“ wimmert Linda in sich hinein. Von der Sendung wird ihr langsam schlecht. Und ein schlimmer Geschmack macht sich in ihrem Mund breit. Linda kann sich noch nicht einmal mit eigener Kraft umdrehen. Sie zuckt. Sie zuckt noch einmal. Sie zuckt aus. Sie will weg. Sie will kotzen vor Hilflosigkeit. Ihr wird alles klar. Der Gedanke an die ganze außerirdische Menschheit, die nicht liegen muss, verzweifelt sie bis zum Punkt der Tränen. Linda weint. Wenigstens das Fernsehbild verschwimmt dadurch.
Lindas Vater lässt sie raten. Sie tippt auf seine rechte hinter dem Rücken verschränkte Hand und Volltreffer! Ein kleiner Strauß Blumen. Margeriten. Etwas langweilig, aber da sie den Ernährer seit einem Monat nicht gesehen hatte, hätte er auch einen frischen Haufen Kuhscheiße mit Schnittlauch präsentieren können und sie hätte sich genau so gefreut. Linda liebt ihren Vater mit einer Überzeugung und pragmatischen Hingabe. Für sie ist der alte Doktor ein Naturgesetz und das Größte auf Erden. Das zeigt sie natürlich — wie eine gute Tochter das nun einmal macht — indem sie ihm unbeschreibliche Sorgen bereitet und sie gleichzeitig versichert, dass er sich diese nicht machen müsse.
Doktor Vater staunt fassungslos, wie Linda nach einem brutalen halben Jahr voller Physiotherapie und auch psychologischer Aufbauarbeit ihm entgegen torkelt. Das junge Reh lernt zum zweiten Mal in ihrem Leben laufen. Und zum zweiten Mal hat der Vater feuchte Augen. Den Krankenhauspark, der das nette kleine Familienspektakel in Szene setzt, ist Linda schon auf- und abgegangen. Zwar mit dem Elan eines schwangeren Faultiers, aber souverän. Vor allem aber mit jedem Tag etwas schneller. Ein Vogel singt kurze Pizzicati und niemand kümmert oder fällt es auf. Keine Ahnung, vielleicht ein Fink?
„Meine Zimmerkollegin, oder besser Leidenskollegin, ist zur Zeit Annemarie. Die hat Blutarmut oder so, irgendwas in die Krebsrichtung. Nicht voll schlimm, aber halt oft im Krankenhaus. Heute ist sie strahlend auf mich zugeschlurft — die ist ja dann doch schon fast 68 — und hatte rosa Bäckchen wie eine beschämte 17-jährige,“ quasselt Linda auf den Vater ein, der relativ Zen auf der ungestrichendsten Parkbank der Welt seiner liebsten Tochter zuhört.“ „’Das neue Blut! Linda, das neue Blut’ Jubel einfach. Und sie sah auch tausend Mal fitter aus. Wenn die ihre Blutpackungen kriegt, ist die wie du nach zu viel Kaffee. Immer gleich so: ,Komm, wie machen jetzt was, hast eine Idee, ich könnte Bäume ausreissen. So lustig!“ Bei der Erwähnung von Blutkonserven wirft der Herr Doktor väterliche Grübelfalten auf der Stirn zwischen den Augenbrauen.
„Auf der anderen Seite lag bis vor kurzem Frau Hiess. Papa, ich sag dir, das war die schönste alte Frau der Welt. 94, glaub ich, 94 Lebensjahre! Und wenn die gewaschen wurde, ich meine, ich hab nicht geschaut, aber die hatte den schönsten Busen der Welt. Ja! Da brauchst du gar nicht so schauen. Und stechend blaue Augen hatte die. Alles Sachen, wo man denken könnte, dass die mit dem Alter — sagen wir Mal — ,verblassen’.“
Linda setzt sich nach dem ersten Schwall aufgeregter Erzählungen neben den Vater auf die Bank. Im Stehen kommt so eine wundersam geheilte Leidensgeschichte natürlich noch besser, dachte sich die stolze Linda, aber anstrengend ist es doch. Sie will jetzt auch nicht groß angeben vor der Hospiz-Gruppe, die mit Gehhilfen aber ohne Lebenswillen an den beiden vorbei-oxidieren. „Frau Hiess sah jedenfalls super aus. Wenn ich mal so alt werde, kann ich nur hoffen halb so geil auszusehen. Letztens war es ziemlich komisch. Da ist sie auf mich zugekommen mit so einem Halbgrinser und irgendwie so … verklärten Blick. Sie sagte sie plötzlich ,Heute ist es soweit.’ Das war dermaßen gruselig. Die Nacht war aber gar nix, nix mit Sterben — was sie wollte gemeint hatte. Erst die nächste Nacht, mitten im Halbschlaf, greift auf einmal eine Hand an meine Schulter — mich reißt es auf. Da war die Frau Hiess aus dem Bett herüber gekrochen und beteuerte, dass es heute aber wirklich passieren würde. Dann ist sie wirklich gestorben. Die ist wegen einem Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus gekommen, ein Jahr davor. Wenn so eine alte Frau sich was bricht, also ein dermaßen schweres Kaliber, ist es eigentlich vorbei mit der. Die kommt nicht mehr lebendig aus dem Bett, hat jedenfalls einer der Pfleger gemeint.“
Nach einer langen Pause und abwesenden Starrens des Chirurgen und der Chirurgentochter. Die Hospizler haben es immer noch nicht bis zur zweiten Pflastersteinkreuzung auf der Miniwiese geschafft. Linda wird etwas gerührt.
„Ich bin während der Physio komplett verzweifelt. Warum bist du da nicht da gewesen? … Mann, der ,Heilweg’, so ein Scheiß. Alle haben sie gesagt ich wird nie wieder gehen können. Das sollen sich die Schlaumeier jetzt erstmal schön auf der Zunge zergehen lassen.“
Der ärztliche Vater fährt empor und ist wütend. Nicht nur wegen des versteckten Vorwurfs meint er, schreit beinahe: „Du kannst dermaßen froh sein, dass du noch lebst.“ Damit ist Lindas angeberisches Gerede unterbrochen. Er unterbricht weiter: „Du glaubst doch gar nicht was die Ärzte hier für Geschichten über dich erzählt haben!“
„Wieso, was denn?“ flüstert Linda, mit einer schuldigen Angst in der Stimme.
„Ach nichts“ resigniert der väterliche Arzt sofort und spielt an seinem linkem Ringfinger herum, da wo der Ring sein sollte.
„Ich wollte nicht sterben“ spricht Linda leise mit abwesenden Blick und einem kaum merklichen Lächeln.
„Ja, das will keiner“ erwidert der nüchtern denkende Chirurg in ihm, nachdem er sich wieder neben die geliebte Tochter niedergelassen hat.
Linda schließt die Augen und gluckst geradezu, mit stiller Stimme: „Nein, nein. Das war so ausgemacht.“
„Was redest du?“ haucht der Vater besorgt. Sie lehnt sich an seine Seite.
„Versprochen.“ haucht Linda zurück, jede Silbe hinausgezogen wie Honig.
„Wer, wovon redest du? Was ist versprochen?!“ stottert er. Aber da ist sie auch schon auf seiner Schulter eingeschlafen.
Dazwischen
Dinos kleiner Finger verkrampft sich schon wieder, fühlt sich taub an und pulsiert. Qualvoll wie ein Quallenstich. Und das gerade bei dieser einen herausfordernden Solostelle. Trotzdem spielt er das Korg-Keyboard wie ein verdammter Gott, transpiriert wie ein Tier und ignoriert den Schmerz. Nur rhythmisch hinkt die Nummer schon wieder oder, besser gesagt, der miese Schlagzeuger — der Anti-Drummer, wie ihn Dino gerne heimlich nannte.
Sollen die Fans und selbsterkorenen Kenner eine stilistische Eigenheit in den stotternden teils unbestreitbar verhunzt gespielten Schlaginstrumenten hineininterpretieren. Dino kennt die Bridge dieser Power-Ballade auswendig, könnte sie im Schlaf begleiten und selbst wenn er parallel Nierensteine rausdrücken müsste. Außerdem geht es bei solcher Musik, um Wiedererkennungseffekt, nicht um perfekte Technik. Darum hat Dino auch nach Jahren nie was gesagt zum Drummer. Das ist nun mal einfach so.
Das Gleiche betet sich auch der Sänger, Sam, gedanklich vor. Wie jede Nacht ist er in Gänsehaut gehüllt. Er ist der Frontmann, das unter Strom stehende Aushängeschild, das Ego der Band. Wieder verspielt sich der Drummer und auch Dino, der Keyboarder, greift zwei Quinten daneben. Sam schämt sich insgeheim dafür, kaschiert diese Tatsache aber ganze subtil. Mit dem Rücken steht er zum Publikum und hebt die Arme wie Jesus am Kreuz. Er liefert sich ihnen aus. Er hat keine Angst. Alles geplant und trainiert, jeder Move. Bewegungslos lehnt er jetzt noch im Druck der Boxen.
Sam ist erregt. Er fühlt sich wie der Vermittler zwischen der Musik und des Publikums, wie ein Diplomat der Dimensionen. So sinnlich. Seht ihn an! Hört hin, was er denkt! Riecht was er tut und fühlt, was das alles zusammen bedeuten könnte. Von Sams Nasenspitze tropft es immer schneller, das salzige Leben. Der Höhepunkt des Abends, der eine Moment steht bevor. Die Schlussakkorde. Dieser Moment, für den er das alles hier macht, die Farce des transparenten Unterhaltungsgott erträgt, die Oberflächlichkeit und die Heucheleien — ohne Wiederrede. Nur dafür. Es ist eine herrliche Sucht, privilegiert, und kommt meist kurz vor dem Größenwahn. Geschrei, Geifern und eine Illusion von Musikgeschichte, die mit ihm an der Hand gerade passiert, schlagen ein in Sams Kopf. Er ist auf alles gefasst. Sie sind Mitläufer, wie räudige Apostel mit schlechten Tribal-Tattoos. „Die Haare färbt man immer vor der Prozession.“
Sam dreht sich um hundertachtzig Grad und konfrontiert breitbeinig das Publikum. Noch mehr Geschrei erbebt aus dem Menschenhaufen. Ein Schauspiel, dessen Spielregeln wir alle kennen und die niemals erneuert zu werden scheinen.
Ein tiefer Vibrato, der Kehlkopf und Nacken zusammenschweißt, schwebt in Harmonie zum wummernden Bass durch Sams Lippen. Ein Mädchen in den vorderen Reihen kann das resultierende Brummen bis in ihr Klitoris-Piercing spüren. Sam springt im sinnbefreiten Text eine Oktave nach oben und entfernt das Mikro einige Zentimeter. Die Öffnung des Klangraums übersetzt sich auf die schweren Boxen des Clubs und viele im Publikum können plötzlich nicht anders, als die Augen zu schließen. Es wiederholen sich Wörter, erst bassig, dann geschrien, und ein Meer von Köpfen wogt im Takt hin und her. Der Schlangenbeschwörer hebt die Hände, um vor dem Annähern des Refrains zu warnen. Sam trifft das hohe G sogar irgendwie zur Abwechslung und beendet das letzte Wort mit einem demütigen Blick zu Boden. Die Haartolle baumelt perfekt verschwitzt ins mysteriös göttliche Gesicht. Es ist egal, dass so eine affektierte Darbietung oft nur aus Heuchelei besteht.
Es ist das Publikum, das nach gewohnter Kost verlangt und nicht mit unvertrauten oder unmotivierten Bewegungsabläufen auf der Bühne konfrontiert werden darf. Deshalb bangen brav die Heads, Stages werden gedived, Gitarren gewindmilled. Wie. Es. Sich. Gehört. Sam muss grinsen, weil es kribbelt auf seiner Haut. Das ist ausnahmsweise nicht Teil der Show. Es ist tatsächliches Wohlgefallen, denn er weiß genau was jetzt kommt.
Gleich, kommt der Moment. Der Moment zwischen den Momenten. Dieser Augenblick, wenn der letzte Akkord ausgeklungen ist und der Applaus noch nicht beginnt. Das Blech des Crashbeckens schluckt die letzte Frequenz und kommt zur Ruhe, in der vierten Reihe bewegen sich bereits zwei Handflächen aufeinander zu. Hundertstelsekunden der Ewigkeit in denen nun nichts passiert, eine unglaublich kurze Stille der Ungewissheit.
Wie wenn man auf einem Sessel nach hinten schaukelt und plötzlich in der perfekten Schwebe liegt, nicht weiß ob man rückwärts oder vorwärts kippen wird und man wie schwerelos ist.
Sam lebt für genau diesen Mikromoment. Alles führt zu ihm und geht dann wieder davon aus. Der Schließmuskel seines Daseins. Da ist der letzte Anschlag der Gitarre, gepaart mit Snare-/Base-/Chinahit und dem Schließen von Sams Augen. Gleich kommt was kommen muss. Es verendet die letzte Schwingung.
Selig.
Wird er kommen, der Applaus? Kommt das fleischige Geräusch von aufeinander klatschender Haut in hundertfacher Ausführung? Bis jetzt kam es immer. Wie schön wäre es, wenn der Spannungsmoment nie enden würde. Lebendiger ist nichts. Mit dieser Vorstellung schwelgt Sam im Zen des Zeitfensters, nicht viel länger als ein Augenaufschlag, ein Stück Stille zwischen zwei Schnitte im Lebenszelluloid. Dazwischen.
Da rauscht ein schaumiger Jubel aus Klatschen und netten Pfiffen über die Musikerinnen und Musiker. Trotz einer sehr wackelig abgelieferten Show, sind die Leute begeistert. Der Drummer ist und bleibt eine Zumutung. Doch dieses Publikum, es macht immer alles wieder gut.
Sam öffnet die Augen langsam und benommen. Seine Erektion ist Programm und hart wie richtig altes Pizzabrot wankt er hinter seinen Bandkollegen von der Bühne, als Letzter wie immer. Der Applaus macht den Moment immer kaputt, aber mögen tut er ihn natürlich, aus anderen Gründen. Vielleicht ist es auch der Fallschirm, der den Kitzel dieses Zen-Moments ausmacht, das Befristete, das Endliche, das Fatalistische.
Sam schnäuzt sich in ein Handtuch, lächelt ein Mädchen an, das ihrem kuhäugigen Starrblick nach zu urteilen, überfordert ist, und fühlt sich beim Betreten des Backstage-Raums leer, wie immer. Das Handtuch landet in der Ecke neben der grausumpfigen Couch und Sam auf deren speckigen Polster. Wie ein Hund müsste man die Welt wahrnehmen, im Moment leben, nichts anderes kennen als das Jetzt. Das fände der Sänger toll und legt sich das das altbekannte drückende Klingeln in den Ohren. Wenn Hunde Schmerz verspüren, leidet der Hundegeist so darunter, als würde es nie anders gewesen sein und die Pein in die nicht zu erfassende Zukunft ewig bleiben. Werden sie verlassen, ist es in dem einen Moment für immer. Auch wenn man eigentlich nur Futter kaufen geht. Und Freude ist die ehrlichste, die totalste Euphorie, denn die ganze Welt besteht dann für den blöden Hund aus dem unbegrenzten momentanen Glück.
Das Auftreten in einer abgelegenen Dorfdisko und mit Publikum, das nach purer Inzucht roch, ist ohnehin schon eine Zumutung, aber dann so ein schwammiges Set spielen?! Dino wird sagen, dass an diese Bauern Perfektion sowieso verschwendet wäre. Davon abgesehen, dass Dino selbst aus dem letzten hinterwäldlichen Erdloch entsprungen ist, sieht das Sam keineswegs so. Er möchte eigentlich schon immer „killen“ und die Leute wegblasen. Sie sollen euphorisch grölen und dann halb an ihren begeisterten Tränen ersticken! Eigentlich ist Sams Einstellung dahingehend so ambitioniert, weil das Publikum — wäre es mehr versteinert, fasziniert und hirngefickt — viel langsamer reagieren würde. Dann wäre dieser eine stille Moment zwischen Abschlag und Applaus viel länger. Das ist Sams Traum.
Der neue Drummer ist wirklich ein Dorn im Auge von allen — oder eine Splittergranate. Sam dribbelt demonstrativ Zeige-, Mittel- und Ringfinger in Triolen-Takt auf die Armlehne der Couch. „Keiner traut sich was zu sagen.“ denkt er sich mit der Hand der Stirn und sagt selber nichts.
Rhythmus ist Sams geheime Leidenschaft, weshalb ihn das Ganze ganz besonders nervt. Auch beim Singen baut er viel auf sein Taktgefühl der oralen Phrasierungen. Er nennt es ganz demütig ein „universelles Verständnis und Liebe zum Ticken des unendlichen Uhrwerks des Seins“. Sam jagt die wahren Momente des Lebens, die mystisch sind und immanent.
Sam begann damals selbst mit sechzehn Jahren Schlagzeug zu spielen. Er ist der Überzeugung, dass sein — wie wirklich jedes — Leben ausschließlich von Rhythmus bestimmt ist. Eine spirituelle Form davon. Nicht nur bei Musik, auch Atmen, ein Gespräch, Interaktion, Gesellschaftliches, Politisches, sozialer Umgang jeglicher Art, eine Autofahrt, Stress, Geduld, Entscheidungen, immer ist es wichtig, wann und in welcher Taktung diese Dinge passieren. Alles ist Rhythmus. Egal wie esoterisch das klingt!
Manchmal sitzt Sam in den Proben am Schlagzeug, oder bei ihm zuhause am Elektro-Setup. Auffallend ist seine unstillbare Hingabe. Und manchmal ist er ungerade. Wenn er nicht „in time“ spielt, denkt er sich, muss das eine Repräsentation für ein tiefsitzendes, seelenbezogenes Problem sein. So legt er sich das nachts vor dem Einschlafen jedenfalls zurecht. Das kann in jenen Fällen ja gar kein Anzeichen von zu wenig Übung oder nicht vorhandenem Talent sein. Das ist kein schlechtes Taktgefühl, sondern schlechtes Karma. Etwas stört den natürlichen, schönen „Bumm-Tschak„-Ablauf seines Lebens. …oder ist er einfach auch scheiße, wie der neue Drummer?
Sam sitzt alleine auf der Sitzgruppe, während die anderen den Mini-Fridge leer räumen. Er reibt sich fest die Schläfen seines Kopfes, der voller Gedanken ist, wie: „Mein Leben ist oft um einen Schlag zu früh oder zu spät, verpasst Einsätze komplett oder rasselt viel zu übereilig los. So erkenne ich im Nachhinein, dass ich selten das Richtige im richtigen Moment gesagt oder getan habe. Da waren Entscheidungsschritte, die durch Feigheit oder ungeduldigem Egoismus daneben gingen, im Lauf eingeknickt sind. Was sich mir erschreckend klar zu werden scheint, ist, dass ich mir dessen bewusst bin. Ist das nicht eigentlich die wahre Frechheit an meinem Timing-Handicap ist. Nein, kein Handicap, ein Symptom. Wenn ich fröhlich daneben schlagend leben könnte, würde ich das vorziehen, aber ich mir fällt es jedes Mal auf wie schlechter Atem eines Geliebten.“
Aber was sind andere Beispiele für diese Philosophie der Lebensrhythmik? Da tritt man beispielsweise eine Reise an und gerade wenn man nach langer Einsamkeit seine große Liebe in der eigenen Straße findet, ist der Abflug. Oder man hätte weniger Zeit mit einer Person verbringen sollen, die einen auszehrt, um dann bei der ablenkenden Unterhaltung eine neue Arbeit zu organisieren. Ein wichtiges Gespräch geht vielleicht kaputt, weil der Ball nicht im rechten Moment zurückgespielt wird.
Ganze Erkenntnisprozesse, geistige Expansionen scheitern, weil im falschen Takt Schlüsse gezogen wurden. Oft bleibt nichts anderes als Ermüdung und auf-der-Stelle-Treten. Gerade Sams Lebensrhythmus scheint im Verbindung mit Mitmenschen gerne zu holpern, zu dreschen wenn er mit Besen spielen sollte, zu „pingen“ wenn es „pochen“ sollte. Wie soll man denn eine Harmonie wie diese aufrecht erhalten?! Sam flüstert sich selbst in die Faust: „Versteht mich nicht falsch, ich mag Herausforderungen. Auch in Bezug auf menschliches Zusammenleben. Das Leben ist schön, mir nur rhythmisch viel zu schwierig.“
Dinos Gras ist immer so stark. Immer das Gleiche. Auch heute Abend im Band-Bus. Sogar der Fahrtwind hat sichtbar Probleme, den dicken Rauch aus dem offenen Schiebefenster hinter den MusikerInnen zu befördern. Sam muss gar nichts tun oder rauchen, um ein Contact High und nach Hanf stinkende Haare zu bekommen. Und das würde andere schon in ein rotäugiges Nirvana befördern. Sam ist es gewohnt.
Das Spannende am Kiffen, selbst wenn man nicht einmal aktiv teilnimmt, ist, dass es immer anders verläuft. Sam ist einiges gewohnt von früher und auch stärkere Psychotropen sind ihm nicht fremd. Aber manchmal will man sie angelehnt lassen, die Türen der Wahrnehmung, die mittlerweile in wackeligen Scharnieren sehr locker im Rahmen hängen.
Heute ist Dino genau das Gegenteil von Sam. Alle sitzen beziehungsweise schlafen hinten im Bus. Dino legt verbal wieder mal null Pausen ein. Im von rotem Seidenschal schummrig gedämpften Licht des hinteren Abteils des fahrenden Rock-Schlosses beugt sich der Keyboarder aus der Hölle über eine Line Ketamin. Er zieht tief durch, grunzt und lehnt sich wieder zurück. Er massiert seine rechte Hand und Finger und spricht aggressiv, sein Kinn-in-die-Runde stoßend, auf die letzten wach gebliebenen Collegas ein:
„Ein Zeitreisen-Paradox löst sich doch immer von selbst auf, oder?“ Sam zuckt mit den Schultern, seine Rhythmik-Komplexe zerstreuen sich langsam in der Müdigkeit. Dino schnieft und geifert: „Pass auf, es kann einen nicht zweimal in einer Zeitlinie geben. Das wäre ein Paradox. Keiner kann in die Vergangenheit oder Zukunft reisen um sich selber in den Popo zu ficken oder so.“ Dino hustet eine Batzen Schleim beim offenen Fenster neben ihm hinaus. „Sagen wir, du willst in die Zeit zurückreisen, den eigenen Vater zu töten, das würde nie passieren!“
Sam schüttelt sich die zynisch klirrende Antwort aus dem nicht zustimmenden Mund: „Natürlich, warum sollte jemand seine eigene Familie und damit sich selbst auslöschen wollen?“
„Oh nein, nein, erstens ist das nur ein Beispiel, weil ich auf etwas hinaus will, und zweitens würde mir schon wer einfallen. Jemand, der Väterchen gerne aufmischen würde und den konzeptionell genialen damit einhergehenden Selbstmord in Kauf nehmen würde. Es geht um den Fall, dass jemand ein Paradox auslösen wollte und das könnte. Angenommen, ich hab meine Zeitmaschine, OK? Ich würde sie benutzen um mich selber mit 13 zu treffen und zu sagen, dass ich den Scheiß mit der Mitschülerin lassen solle oder, oder, oder was die Lottozahlen sind für dieses Jahr …“ Dino gestikuliert wild mit den vom Ketamin getrübten Augen.
„Gegeben das wäre alles möglich, es würde trotzdem nicht klappen! Das Universum würde dieses Paradox nicht zulassen!! Diese Unmöglichkeit, dieser Moment, würde einen exponentiell alles verändernden Fehler generieren. Es würde die Existenz, das gesamte Sein, zum Absturz bringen. Wie ein PC, der sich aufhängt. Die Stabilität des Zeit-Raum-Kontinuum würde korrumpiert und der Reset-Knopf gedrückt. Oder alles würde einfrieren, weil sich die fehlerhafte Einheit immer wieder selber trifft, im ewigen Kreislauf stockt, eine unauflösbare Fehlermeldung. Voll, wie am Computer halt. Alles hängt dann, wie beim verdammten Pauseknopf vom Videorekorder.“
Die Bassistin Leah fragt im Halbschlaf: „Was ist nochmal ein Videorekorder? Screencapture?“ Dino winkt sie unhöflich ab und fixiert weiter Sam. Er erklärt weiter: „Das wäre wie ein zweiter Urknall, nur in Form des kompletten Stillstands. Und ausgelöst durch eine Unmöglichkeit, durch ein lähmendes Paradox. Wie eine Festplatte, das alles hier ist die Festplatte, und wir sind die über den Absturz sinnierenden Computerviren.“
Der Lead Gitarrist mit dem Hair-Metal-Augenmake-Up ist ein zurück vom Sex mit einem 19-jährigen Provinzbengel. Er wirft das lange traumhafte Haar hinter die Schulter und zündet sich mit geneigtem Kopf eine abgebrochene Zigarette an. Wo der Junge wohl ist? Der dunkle Blick lässt darauf schließen, dass sein Opfer irgendwo in den Bus-Stockbetten liegt und sich die Wunden leckt. Mister 80ies wirft, obwohl er der Unterhaltung erst eine Minute folgt, sehr esoterisch und abgehoben — wie Lead-Gitarristen nun einmal sein müssen — in Dinos Ausführungen ein: „Ich kenn’ den kompletten Stillstand. Das ist Tantra Sex, Amigos. Ich zögere das Abspritzen hinaus, solange, bis mein Geist vom Moment gefickt explodiert in meditativer Unendlichkeit.“ Ein Zischen zwischen Seufzer und Asthma fügt Spannung an den letzten Satz: „Alles wiederholt sich für immer, Ficken, Kommen, Tschhh!“ Mit dem letzten Lautwort lässt er seine Finger explodieren. Glücklich über seine poetische Unterbrechung steckt er sich ein altes, kaltes Pommes in den Mund. Dino hasst sein fettiges Kauen und stöhnt: „Was? Nein, vom Ficken spricht doch keiner.“
Sam unterbricht kurz: „Doch, du hast Popoficken gesagt vorhin.“
„Ich spreche von etwas komplett Übergeordnetem,“ schulmeistert Dino, „ein allgemein-gültiges Existenzkonzept, desse man sich erst einmal bewusst werden muss! Mein Hirn ist wie Blumenerde, locker und der perfekte Nährboden. Könnt ihr verdammten fettilligenten Faulenzer vielleicht einmal euer Hirn aus dem Morast erheben und checken, dass meine kosmische Universumsabsturz-These ein genialer Gedanke ist. Würde ich meine Gedanken aufschreiben, wäre das ein Verkaufsschlager, glaubt mir. Ihr solltet das mehr schätzen! Sonst, blas mir einen, Arschloch.“
Die Runde schweigt und ignoriert Dino. Erst lauscht Sam dem Fahrtwind und dann den schleppenden Riffs von Ulver, deren letztes Album Mister 80s aufgelegt hat. Letztlich murmelt Dino leise, aber laut genug, dass man ihn verstehen kann: „Überlegt euch das gut mit dem ewigen Leben. Ob das so toll ist? Wäre doch letztlich genau das. Ein Hänger. Die Schallplatte, die nicht mehr über den einen Satz hinaus kommt. Vielleicht sollten wir alle ein bisschen was ändern an uns, weil wenn es kommt, das Reset. Weil dann ist es zu spät.“
Das untypisch fantasievolle und sogar leicht progressive Gelalle von Dino erinnert Sam an seine Exfrau. Eine „Verändererin„. Sie wusste was mit einem falsch läuft, konnte deine Unzulänglichkeiten identifizieren, mentale Leiden diagnostizieren. Sie hatte Probleme, wird sie wohl auch jetzt noch haben, aber die widersprüchlichen Predigten vergisst Sam nie. Die Ex war zu alledem Vegetarierin. Sam grübelt plötzlich ein wenig mehr. Auch seine Freundin vor der kurzzeitigen Ehe, war strenge Fleischverweigerin gewesen. Und beim Gedanken an seine letzte Beziehung, mit Kai, der auch Vegetarier war, reflektiert Sam nun über diese Eigenheit seines Beuteschemas, und was oder ob das etwas über ihn aussage. Dino läuft eine kleine Träne über die Wange, die nur Sam sieht, aber ihn auch nicht wirklich interessiert.
„Für ein ordentliches Steak würde ich weite Strecken zurücklegen.“ Jedes andere Tier dieser Welt nimmt sich den Vorteil heraus — wenn es ihm ermöglicht wird –, ein anderes Tier zu essen. Stellen sich Vegetarier über das biologische System, mit der Meinung, dass man sich als intelligenter, moderner Mensch aus der Nahrungskette hinausentwickelt hat? Der moderne Mensch VS der mordende Mensch.
Was ist heute Abend los? Warum fühlt sich Sam so verkopft, ohne eine Möglichkeit die existentialistischen Grundsatzfragen abzuschütteln. Und nicht einmal, dann wenn sie von einem Drogenabhängigen kommen, der letzte Woche noch aus dem Bandbusklo getrunken hat. Jetzt heult Dino still in ein versifftes Handtuch.
Manchmal riecht man einen Streit, bevor er passiert. Noch bevor das erste böse Wort oder die unbedachte Beleidigung gefallen ist, spürt man schon, dass das Umfeld sich lädt. Strom beginnt unsichtbar zu zucken und obwohl man bewusst und besonders sorgsam auf die eigenen Worte achtet, ist es unausweichlich.
So war es auch mit Kai gewesen. Ein verdammter Racheengel hetzt beide aufeinander auf. Sam rückt schulterschüttelnd und unwohl in der Eckbank hin und her. Er verwurstet Dinos wahnsinnige Ideen und die Rhythmik-Theorien in eine weitere Blödsinnigkeit. Der Streitmoment, in dem alles hängen bleibt. Eine Hölle, die keinen Diskurs mehr zulässt und jedes Argument falsch verstehen lässt. Kein Schritt, den man noch weiterkommen könnte. Und man weiß es irgendwie, vom ersten unbedachten Wort an.
Das war immer Streit, der sich selbst wollte, und nicht wusste wohin mit sich selbst. Wenn man nicht ausdrücken kann, was man meint, dann weicht man auf das aus, was greifbar liegt. Nicht unbedingt die Wahrheit, aber praktisch und sich anbietend. Auch ein Dazwischen. Nicht Fisch, nicht Fleisch, die Schwebe, die Scheiße, die überallhin kippen könnte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen steht Sam vor Todestrauer über irgendwelche Lappalien. So soll ein Frontman sein, so emotional fragil, dass einem das Kotzen kommt.
Sam war sehr glücklich mit ihm, aber auch sehr unglücklich. Beides wollte er irgendwie auch. Das Drama? Und vielleicht kommt da auch der Fetisch dazu, der Wunsch in diesem undefiniertem Vorgewitter zu schweben, bis dann nie was passiert. Und vielleicht funktioniert dieses „Leben im Moment“ nur, wenn man todtraurig ist, wenn ein momentaner Schmerz fast das Herz zerreißt. Wie, wenn ein Lied, das endet. Glück und Freude sind veräußerlicht, genießt man meist mit anderen und lenkt ab. Das Hier und Jetzt ist die pure Einsamkeit.
Sam begradigt seine Augenbrauen zum Ansatz einer Erkenntnis. Dino sagt nichts mehr, er ist eingeschlafen mit der Bierdose in der Hand und nassen Wangen. Was dieser cholerisch-depressive Idiot nicht weiß, ist, dass er in Sam gerade eine folgenschwere Gedankenlawine losgetreten hat. Dieser arrogante Idiot, Prophet und Suchthaufen. Sam kann nicht aufhören Verbindungen zu ziehen. Sam knabbert Dinos Grasbrocken wie Biernüsse. Mit der anderen Hand öffnet er ein Dosenbier und hat auch das brav aufgereihte Ketamin schon im Visier. Trotz der Abstinenz der letzten Zeit, kann Sam auf den Exzess nicht verzichten, auf das unerwartete Verlangen den Kopf auszuschalten. Das war immer verschieden, und immer wieder etwas anderes, das ihn verbrauchte. Aber es muss sein, das eine Ding, das ihn kaputt macht. Vielleicht ist es die Angst davor, ewig zu leben, oder eine Trotzreaktion: „Wenn ich schon sterben muss, dann nach den eigenen Richtlinien und von mir selbst bestimmt. Wir halten das Leben nicht aus und feiern deshalb diese Rauschromantik, dieses herrlich taube Gefühl.“ Vielleicht will Sam aber auch einfach nicht mehr an Paradoxen, Streit, Rhythmus, Kai und das Dazwischen denken.
„Ich habe eine Idee, für ein Musik-Video.“ In die Leere menschlicher Aufmerksamkeit betet Sam seine Vision herunter ohne den starren Blick von Dinos Loch im Socken zu nehmen. „Wir spielen unsere letzte Nummer, die Nummer, die wir immer schon als letzte gespielt haben. Und das ist auch gut so. Live stehen wir auf einer vor Pyro brennenden Bühne. Und anstatt mit dem Schlussschlussakkord den tosenden Applaus losbrechen zu lassen, lassen wir ihn ausklingen in die Stille. Die Zeit scheint still zu stehen oder … oder vergeht vielleicht nur ganz langsam, Superslow-Motion wie im Musikvideo letztes Jahr. Nein, kein Slo-Mo. Nur die Schwebe, im Moment. In die gefrorenen Gesichter und Körper unserer stummen Zuschauern. Minuten vergehen und auch wir rühren uns nicht. Kein Klatschen, das Publikum applaudiert nicht. Der Zustand des Wartens. Das Warten auf das, dass etwas passiert — aber es passiert nichts. Alles ist hängengeblieben. Das hätte doch was, irgendwie …„
Der Band-Bus vibriert auf Autobahnrillen und untermalt wie ein Soundtrack von Hans Zimmer die Stille und das Ausbleiben irgendeiner Reaktion. In völliger Bereitschaft, sich nun mit all den Drogen zuzudröhnen, schläft Sam ein.
Ein Soundcheck sollte immer schlecht sein. Dann wird der Auftritt nämlich besser. Ein übernatürliches Naturgesetz von Live-Musikern, eines von vielen. Dino ist schwer verkatert.
Später, nach dem Keta, dem Gras, dem Philosophieren und dem Power Nap, schleppte er sich tatsächlich noch vor seinen Laptop und quälte sich bis 5 Uhr früh durch einen Online-Poker-Marathon, bei dem er zwei Flaschen Weißwein trank. Sam und Mister 80s sind — seit der Tonmischer ein unlösbar scheinendes Problem mit einer der Monitorboxen entdeckt hat — vertieft in das hypothetisches Szenario einer Zombie-Apokalypse. Sam reserviert sich die Rolle als Koch und Messernahkampfprofi. Der Saitenmeister hingegen neigt mehr zur Anti-Zombie-Wacheinheit mit Pfeil und Bogen. Dino bliebe wohl als einziger Wächter des geistigen Guts der Menschheit übrig, scherzt Sam. Der schlechte Drummer schaut blöd in’s Nichts.
Der Tontechniker schreit vom Mischpult am anderen Ende des Raums aus, neben der Eingangs-Doppeltür, seine unverständlichen Ansagen. Die Band beginnt wie gewohnt einfach ihr Soundcheck-Lied zu spielen. Laut und krachend am Anfang, dann leise und mit anderen Gitarrenpedal-Einstellungen und zum Schluss geht Sam sein gesangliches Register durch. „Halt, Danke!“ Der Tontechniker lässt seine halbbrennende Zigarette dermaßen debil aus dem Mundwinkel hängen, dass man ihm sie mit einer lehrreichen Ohrfeige wegschlagen möchte.
Eine Gruppe von Mädchen und Jungs, Freunde der Barleute, stehen in einer kleinen uninteressierten Traube bei den Toiletten. Hitzig wird diskutiert, wohin man heute Abend hingehen sollte, wenn es hier doch immer so scheiße wäre. Sam wiederholt seinen stimmlichen Testteil des Soundcheck-Lieds und fühlt die warmen, tauben Wellen der vorigen Nacht durch seine Stirn strahlen. Er liebt es, er liebt diesen Moment, in dem er merkt, dass er es liebt. Er will die Schwebe, DAS Dazwischen. Letzter Akkord.
Als das letzte Knistern des letzten musikalischen Atoms aushallt, öffnet Sam die Augen. Er genießt die Stille, die ihn vorerst nicht verwundert, da noch kein zahlendes Publikum im Raum steht und applaudieren könnte.
Was ist das? Niemand bewegt sich.
Sam dreht sich um und sieht, dass seine Kollegen alle still stehen. Aber sie warten nicht auf etwas. Sie atmen auch nicht. Mitten in ihren Bewegungen, perfekt balancierend, scheinen alle auf und vor der Bühne dieses eine alte Kinderspiel zu spielen. Das eine, in dem man zähl und sich umdreht, und die anderen müssen perfekt in ihrer Annäherung stehenbleiben — sonst fliegen sie raus.
„Das ist echt!“ fasst Sam erstaunlich pragmatisch zusammen. Wie in einem Foto ist der Augenblick gefroren. Die Filmrolle des Lebens hat nur ein einziges Bild 25mal in der Sekunde. Ist Sam der einzige, der noch „läuft„
Nach einer halben Stunde panischer Stille, Unglaubens und seiner völligen Reaktionslosigkeit, nimmt Sam ihn an, seinen Traum. Es ist kein Koma, kein Schlaganfall, kein Stromschlag und die Wiederbelebung eines Notfalls reisst ihn auch nicht raus aus seinem Schock.
Sam versucht die Implikationen zu verstehen und bekommt Kopfschmerzen. Was bedeutet sein Zustand, wahrnehmungspsychlogisch und existenzphilosophisch? Ist das Leben wirklich eine Simulation und seine Lebensvisualisierung hat einen technischen Hänger? Wie Dino meinte. Es fühlt sich auch nicht an wie eine psychologische Episode.
Sam verlässt die Bühne. Er überlegt in einem Moment des kompletten Enthumanisieren, mit der hübschen Brünetten Sex zu haben — die mit den dem Hohlkreuz, das ihren Hintern so akzentuiert und den großen Busen hervorhebt. Sam berührt sie und sieht ihre grün-blaugrauen Augen, die erstarrt sind und tot. Er bringt es nicht fertig. Noch nicht.
Er geht zum Tontechniker und schnippt ihm die Zigarette aus der Unterlippe. Der dumme Gesichtsausdruck bringt Sam zum Lachen. Dass der Typ in alle Ewigkeit so aussehen würden, erheitert ihn. Er drückt die Doppeltüren auf und tritt in strahlenden Sonnenschein.
Das ist also das Zwielicht der Zeit. Sam atmet flach und hat einen katatonischen Blick aufgesetzt. Er akzeptiert das Inakzeptable, das Surreale. Die Hauptstraße ist relativ unbefahren, vielleicht vier Autos stehen still auf in ihren Fahrmanövern pausiert. Leute machen Schaufensterpuppen-Posen auf dem Gehsteig. So beginnt sie also, die Suche nach dem göttlichen Reset-Knopf und einem ordentlichen Stück Fleisch.
Geister
Das ist die Geschichte, wie ich verlassen wurde und ihr gekommen seid.
Ich war gerade zu Besuch bei ihr, aber an diesem Abend ließ sie mich alleine, da sie auf eine Abschlussfeier ihrer Seminarklasse musste, die sie geleitet hatte. Ich saß seit Stunden auf dem steinernen Treppenaufgang der Haustür, um mich nicht auf den Randstein herablassen zu müssen. Da unten befand sich mein Zigarettenstummel-Mosaik. Ich malte mir ein Desaster aus, das, wie ich im Nachhinein mit lähmender Klarheit und Fassungslosigkeit realisiere, tatsächlich so abgelaufen ist. Ich sage mal ganz verallgemeinernd: Fernbeziehungen sollte man besser fern bleiben.
Vom Schneeregen waren meine Schuhe durchnässt. Ich machte davon ein Foto mit meiner Handykamera um die zähe Zeit zu vertreiben. Es fühlte sich an, als ob ich ein Kind wäre, das auf die Eltern wartet, die niemals kommen würden. Mit dem Telefonspielzeug könnte ich wenigstens etwas online pokern. Kalt, Zigaretten rauchen, Big Blind. Warum ich lieber vor dem Haus in der feuchtesten Kälte der Welt auf sie warten wollte, ist nicht eindeutig zu erklären. Ihre beengend kleine Einzimmerwohnung generierte pures Unwohlsein.
Außerdem wollte ich, dass das Erste was sie sieht, wenn sie viel zu spät nach Hause kommt, meine gefrorene Leiche mit dem starr-eisverkrusteten und verurteilenden Gesichtsausdruck sei. Sie hatte mir versichert, am frühen Abend von der Feier zurück zu sein, doch es war schon kurz vor zwölf.
Auf meine Avancen in Richtung Nachmittagssex hatte sie sehr ruppig reagiert. Sie könne auch nicht immer Lust haben. Das war mir sehr peinlich gewesen, aber interpretierte ich als Frustration und Stress. Aber es ging dabei viel mehr um ihre Lust auf mich.
Ich war mit einer psychisch kranken Frau zusammen. Ich kann es nicht empfehlen. Besonders, wenn es eine Große Liebe ist. Die Bitch war und ist tief verwurzelt, es bräuchte fast Chemotherapie für mein Gedächtnis. Alles rausätzen. Toxisch bin ich manchmal. Ich will beleidigend werden, verletzend, sie persönlich verletzen, so wie ich es gespürt hatte. Sie verletzte mich damals auch mit Absicht, wie sie es mir sogar später bestätigen sollte. Um mich dazu zu bringen, Schluss zu machen. Was ihr an Argumentationsgabe, Mitleid und echter Empathie fehlte, ersetzte sie durch pure Verachtung und nicht-physischer Brutalität.
Ich erinnerte mich an eine Geschichte über ihren Ex-Verlobten: „Der hat sich mal das Kiefer gebrochen. Davor hatte er mich saufrech belogen. Die ganze Südamerikareise war eine Ausrede. Will gar nicht wissen, was er getrieben hat. Dafür hat er ein paar Zähne verloren. Ich habe ihn nicht im Krankenhaus besucht.“ Sie sagte zwar nicht, dass es ihm recht geschehen wäre, aber es klang so. Ich hatte mich ein wenig gefürchtet, aber sagte nichts.
Sie begab sich aktiv in Situationen, in denen sie passiv und übertrieben reagieren konnte. Ihr soziopathisches Verhalten ausschließlich auf die Diagnose der Borderline Persönlichkeitsstörung festzunageln, von der sie mir nie erzählt hatte, wäre zu einfach. Dann könnte ich es ja nicht mehr zu meinem persönlichen Drama machen. Menschen sind doch nicht bloß eine Diagnose.
Meine Hände zitterten vor Kälte und Vorahnung. Ich fluchte kopfschüttelnd und die Zigarettenstummel wurde zum Turm zu Babel. Sie hatte mich schon öfter grausam und herzlos behandelt, aber das war neu. Ich schrieb ihr Textnachrichten und bekam keine Antwort. Nur zwei Nachrichten online, die mich in furchtbar kurzen Nichtsätzen um eine halbe Stunde vertrösteten. Das war vor drei Stunden gewesen. Was hatte ich ihr getan? Warum war ich ihr Gegenspieler geworden, eine Zumutung, ein Einrichtungsgegenstand im Keller?
Ich fletschte die Zähne alle fünf Minuten um auch meinem Zahnfleisch die Kälte spüren zu lassen. Ich begann die Straße auf- und abzugehen. Ich war komplett verunsichert. Die Möglichkeit, dass sie vielleicht gerade in dem Moment, an dem ich unten an der Ecke der Straße angelangt war, heimkommen sollte, ließ mich immer wieder schnell zum verhassten Hauseingang zurückkehren.
Dabei überflog ich mental das Transkript unserer letzten Gespräche, immer und immer wieder. Hatte ihre Distanzierung überhaupt auf einen konkreten Grund? Sie hielt mir öfter Dinge vor, die nicht in der Realität verankert waren. Sie sagte mir dann, was ich gerade denke, über sie und unsere Beziehung, was ich „in Wirklichkeit“ wolle oder sein wolle. Und ich durfte nicht mehr hinein, hinter die Tore ihrer Sturheit. Wenn man probiert, eine Person, die man liebt, davon zu überzeugen, dass ihre Wahrnehmung verdreht sei, fickt es das eigene Gehirn extrem. Irgendwann glaubt man die Dinge, die Vorhaltungen, die Hirngespinste. Ich frage mich seitdem, ob auch psychische Krankheit ansteckend sein kann.
Vielleicht hatte ich auch einfach Angst, sie zu verlieren und ließ mir mehr gefallen, als gesund war für uns beide. Ich sei zu einfältig, ich sei zu entspannt, zu unverlässlich, untreu, wenn betrunken, ich würde nur herumliegen und andere Frauen wollen. Wie sich herausstellte, hat sie viel projiziert auf mich. Das waren in Realität Dinge, die sie beschäftigten und charakterisierten. Sie nahm Anti-Depressiva und schaute den ganzen Tag im Halbschlaf Kindersendungen. Sie reagierte völlig toxisch auf Alkohol. Sie wollte jemand anderen.
Sie hatte die letzten Tage eine leichte Mittelohrentzündung. In der kleinen Einzimmer-Studentenwohnung, eigentlich nur ein Schlafzimmer mit Waschbecken, in Kombination mit Fieber, wurde sie fast manisch. Sie bekam nicht mehr richtig Luft und keinen freien Kopf mehr. Ein Schritt und ich war direkt da. Wie im Gefängnis.Das war eigentlich nachvollziehbar, dass man da den Zellengenossen loswerden möchte. Das kenne ich von mir selbst, aber in Bezug auf nervige Arbeitskollegen oder Menschen in einer scheiß Warteschlange — nicht auf Partner.
Mittlerweile war mir ihr Rücken vertrauter als ihr Gesicht. Etwas zu sehnig beziehungsweise knochig, wie ich insgeheim fand. Ich glaubte ihr, dass sie ihre Essstörungen hinter sich gebracht hatte, aber vielleicht war das auch gelogen. Über diese Dinge durfte man auf keinen Fall mit ihr sprechen, da ansonsten unvorhersehbarer und unvorstellbarer Hass losgetreten wird. Hauptsache sie fühlt sich bald wohler, dachte ich mir immer blauäugig.
Tat sie manchmal absichtlich das Gegenteil von dem, um was ich sie bat und das ich mir von ihr wünschte, oder bin ich paranoid? Die Bitte, dass sie doch lieber nicht halbkrank zu dieser Feier gehe, einen ordentlichen Batzen Mut erfordert. Den hatte ich nicht. Das Reh im Scheinwerferlicht. Ich bin feig, ihr habt recht. Ein wenig warm hielt mich die Erinnerung an ihr unerwartetes Liebesbekenntnis, bevor sie ging — ein glühendes Stück Asche auf dem winterlich eisigen Boden.
Ich hob meine Zigarettenschachtel zum zweiten Mal auf, zerknüllte sie zum dritten Mal, da sie, zum dritten Mal sicher gestellt, immer noch keinen versteckten Inhalt preisgab. Die Beziehung mit ihr hatte mich zum Kettenraucher gemacht. Ihr dafür die Schuld zu geben, ist dämlich, aber in dem Moment konnte ich nichts Normales denken. Ihre grundlosen Eifersüchteleien hatten mich nervlich zerrüttet. Wenn meine Handynachrichten zu vage formuliert waren, nannte sie das „Verheimlichungen„. Ich entwickelte grundlos ein schlechtes Gewissen und krankhafte Nervosität. So wurde aus meinem harmlosen Gelegenheitsrauchen eine echte Sucht. Ich raffte mich auf, um an der Ecke ein neues Päckchen zu kaufen.
Ein besonders kinderunfreundlicher Zigarettenautomat verlangte, dass ich auf Zehenspitzen meine dutzenden Zehn-Cent-Münzen in den Schlitz fingere. Jede zweite fiel mir aus den kalten Händen und ich dachte mir, während ich am Lokalparkett der „Blauen Lagune“ im Dreck nach meinem Geld suchte, das nun ein passender Moment wäre, völlig den Verstand zu verlieren.
Sie wusste, dass ich am nächsten Tag abreise und wir uns länger nicht sehen würden. Wie blöd war ich eigentlich? Gebrochen, aber mit neuem Tabakvorrat trottete ich zurück in die Wartezone. Jede weitere Viertelstunde, die verging, riss mir ein Stück Stolz aus der Seele, wie ein Löwe es bei seinem Antilopen-Frühstück. Sie wollte mich zu Tode quälen, bis nichts mehr von mir übrig wäre. Dann wäre sie mich endlich los.
Da hörte ich etwas durch die dunklen Straßen hallen, das könnte gut und gern ihr vollherziges Lachen sein. Das war der erste Stich, denn niemand lacht so alleine. Eine Männerstimme fügte dem irgendwas kichernd an. Sie hatten Spaß und sie hatten Spaß gehabt. Das stank voraus, bevor ich überhaupt jemanden sah. Ich wurde eine hockende Statue, starrend. Sie und ein Typ gingen Hand in Hand in meine Richtung. Sie hielten Händchen. Wie zwei Verliebte, zwei, die sich gerade gefunden hatten, zwei, die den Pfad ihrer langen Liebe entgegen schlenderten. Ich sagte kein Wort und wollte alles sehen. Ich wollte sehen, wie sie sich küssen, wie er sie berührte. Wie tatenlos ich bleiben würde. Ob ich sterben würde?
Keine hatte mir jemals zuvor gesagt, dass sie mich liebt, keine. Und ich hatte es ihr wirklich geglaubt.
Klarerweise hatten die beiden was miteinander gehabt, bevor sie völlig sorglos in Richtung ihres Wohnhauses streunten. Sie war besoffen. Sie wären noch in mein Zigarettenquellenlokal weitergegangen, um weiter zu trinken. Verdammt, sie hätte mich einfach wie ein Stück Scheiße links liegen gelassen. Ihr Typ sah mich als erster da sitzen, den einsamen leblosen Wasserspeier. Er hatte eine Ahnung und ließ ihre Hand los, während sie noch sorglos plapperte. Irgendwas davon, dass ich jetzt da oben im Pyjama herumsitzen würde, oder? Alles war wahr geworden, die Angst, die Befürchtung, der Betrug und die Ironie. Die ständig Eifersüchtige beschiss mich live vor meinen Augen. Ich brannte.
Nun fiel auch ihr Blick auf mich und sie brachte erst einmal nur ein maues „Hallo“ hervor. Dann fragte sie etwas lallend und lethargisch ob ich schon lange hier sitzen würde. Ich legte dem Wortlosen nahe, doch bitte zu verschwinden, da ich vielleicht alleine mit meiner Freundin (?) sprechen möchte. Ich schrie ihm irgendetwas nach, so in die Richtung, dass er sich wohl auf eine gute Note verlassen könne bei diesem Einsatz bei der Prüferin. Verzweifelt versicherte er mir daraufhin rückwärts abziehend, dass er kein Student sie. „Das ist nur so ein Arschloch vom Chor,“ verteidigte sie sich und schlug vor noch was trinken zu gehen. Das sage sie, wirklich. Ich hatte einen ganz anderen Vorschlag, nämlich mir auf folgende Frage eine Antwort zu gewähren: „Ist es aus? Willst du, dass wir schlussmachen?“ Ich bekam ein „Nein“ von ihr und Entschuldigungen. Wieder glaubte ich ihr.
Wir trennten uns nicht, sondern hatten Sex. Den traurigsten, unbeschreiblichen, für uns beide demütigendsten Akt einer kaputten Liebe. Sie sagte, dass sie das nicht wollte und heulte: „Ich habe so Angst, dass das das letzte Mal ist.“ War es nicht. Ich verzeihte ihr und fühlte eine Trauer wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Es hätte jeder sein können, an dem Abend, erklärte oder besser log sie. Es war tatsächlich ihre Absicht gewesen, mich an dem Abend zu verletzen. Sie meinte, dass sie fies zu mir sein wollte, bevor ich vielleicht fies zu ihr sein könne. Schnell ein Opfer werden, wenn sie es weinend Freunden davon erzählt. Ist das Borderline? Ohne diesen Abend würde es euch nicht geben. Aber passt auf, das war noch nicht alles.
Ich erzählte niemanden davon, aus Angst, dass man mir sagen würde, ich solle die Frau verlassen. Was natürlich stimmte. Und es war mir peinlich. Ich hatte keinen Funken Selbstwertgefühl mehr. Sie fuhr paar Wochen später auf eine Chorwoche nach Istanbul. Dort betrog sie mich wieder mit demselben Typen und entschied sich mit ihm eine Beziehung weiterzuführen. Darüber wurde ich via Whatsapp informiert, beziehungsweise musste ich, wie eine persönliche Folter, Stück für Stück, ihr aus der Nase ziehen. Die Geständnisse, eines nach dem anderen. Sie wollte mich erst auf ein Telefonat später bei ihrer Rückkehr vertrösten, weil „alles gerade ein bisschen schwierig ist„. Ich fragte sie, ob sie miteinander Sex hatten?! In drei Nachrichten, erst eine Lüge „wir haben nicht miteinander geschlafen„, dann das dazugehörige Geständnis „ja, OK, doch“ und ihre darauffolgende Überzeugung, dass sie „wenigstens ehrlich sei, auch wenn es hart klinge„, fasste sie eine mir völlig rätselhafte Entfremdung und Ende dieser Liebe zusammen.
Bevor sie in die Türkei geflogen war, hatte sie mir noch einen Brief geschickt, in dem sie mir ihre tiefste Liebe gestand. Wirklich. Und jetzt sagte sie mir, dass ich mich nicht so anstellen solle, sie habe sich einfach für einen anderen Mann entschieden. Das müsse man doch akzeptieren können. Punkt.
Ich war verzweifelt und löcherte sie mit Fragen, warum die Widersprüche, warum nicht schon damals das Aus, warum die Lügen, warum die Verheimlichungen? Sie hatte darauf nur Vorwürfe übrig, wirre unzusammenhängende Beschimpfungen und der Vorwurf, dass ich nicht ständig ihr Vorwürfe machen solle, weil sie abblocken und nicht mit mir darüber reden wolle. Ich fand nicht, dass meine Fragen, warum sie mich betrogen habe, warum sie mir Liebe gesteht, bevor sie mich verlässt und so weiter, Vorwürfe waren.
Sie meinte, ich habe sie belogen mit einer Aussicht auf einen Job. Das stimmte nicht, ich ging ein zwei Wochen später zu dem Vorstellungsgespräch und musste den Job aus „persönlichen Gründen“ ausschlagen. Sie meinte, ich würde nicht zu ihr passen. Sie habe ein ganz anderes Wertesystem, ich erkannte nichts wieder. Sie sprach sich quasi frei von mir, die Geheimnisse, unsere Gemeinsamkeiten wurden gelöscht. Als wolle sie, unsere Beziehung zueinander auf das Level einer flüchtigen Bekanntschaft runterschrauben, zwei, die sich auf der Straße wiedererkennen und zunicken. Die Hingabe, die Intimität und auch ihre vorwurfsvollen Sorgen um mich — die hatte es wirklich gegeben und zwar überwältigend emotional — , davon war nichts übrig. Ob das alles ehrlich gewesen sei, ich konnte mir nicht mehr sicher sein. Plötzlich war sie und präsentierte sich als eine komplett andere Person, nicht mehr die, die ich kennen- und lieben gelernt hatte.
Das Wort „Persönlichkeitsstörung“ machte auf einmal Sinn, nachdem eine Freundin von ihr, mir davon erzählte. Alles schien falsch gewesen zu sein,oder bin ich anders geworden?
„Das darf man aber nicht. Das ist mir zu traurig!“ hatte sie gerne mit verstellter Kinderstimme gesagt, in Situationen, die sie plakativ und dramatisch erscheinen lassen wollte oder einfach nur, um cute zu sein: Die Katze spielte mit ihrem Ärmel, ich kitzelte sie am Nacken, ein Kind im Film weinte, nachdem es geschimpft wurde. Als und wie sie unsere Beziehung gegen die Wand fahren ließ, hätten diese Sätze gut gepasst, aber anlässlich dazu hörte ich sie nicht. Seit den schmerzhaften, angriffigen Telefonaten und dem zerrüttenden Nachrichtenverkehr sah ich sie nie wieder in Person. Zusätzlich zum gebrochenen Herzen, hatte ich auch noch eine nette Familie und eine wirklich schöne Freundschaft weniger.
…
Es fing damit an, dass meine Zimmerpflanzen starben. Ich verlor zehn Kilo in zwei Wochen. Die Metamorphose meines gefolterten Geists wurde somit körperlich erkennbar. Ich versuchte, Sport als Depressionsbekämpfung einzusetzen. Später begann ich sogar damit, Essen wieder auszukotzen und ließ es Spuckefäden regnen. Bulimie, war ich nicht schon zu alt für so etwas? Sie hatte meinen kleinen Bauch immer gemocht, ihn „Antigruselberg“ genannt und sich an ihn gekuschelt. Der musste weg. Und vielleicht ist das tatsächlich der einzige Weg glücklich zu, sich mit der Brechstange oberflächlich attraktiv zu machen, immer eine aufgesetzte Sympathiefassade aufsetzen, ständig flirten, aber echte Zuneigung sofort zu killen und wegzukotzen. Denn ab da wird es kompliziert zu steuern. Ego aufbauen, Bestätigung bekommen, aber für nichts mehr Verantwortung übernehmen.
Monate vergingen und ich hatte mich komplett verändert. Ich hatte unnötigen, betrunkenen Sex, viel davon. Meine Angst vor Beziehungen, die in der Zeit mit ihr fast völlig gewichen war, kehrte mit voller Intensität zurück. Mit genug Zeit ohne Menschen, konnte ich auch an Drachen, Vampire und die pure Bosheit in allen glauben. Meine Einsamkeit wurde akut und chronisch und Meine Lebensweise mehr als unattraktiv.
Ich erinnere mich, als ich auf dem Weg in die Stadt war. Ein Versuch mit der Welt zu kommunizieren. Wohin es ging, weiß ich nicht mehr. Ich fuhr im Untergrundzug und dann Straßenbahn. Da waren diese beiden Pärchen. Das eine wahrscheinlich schon getrennt und sie mit einem Ausdruck voller Hass und dabei Small Talk stammelnd.
Und dann setzten sich diese Jugendlichen im einem völlig leeren Wagon direkt auf die Plätze vor mir. Er bettelte erbärmlich um jede kleine Aufmerksamkeit von ihr. Bussi, Bussi, eine Belagerung, die sie herzlich kalt ließ und nur noch mehr zur Abwehr trieb. Wie ein Fliege am Pferdearsch, die man immer wieder mal mit dem Schwanz wegscheuchen musste. Immer mehr erschien mir das Bild der beiden wie eine Karikatur meiner Beziehung mit der Verlorenen. War ich auch so gewesen — nicht so — aber eben allgemein aufdringlich und needy? Ich war ihr Problem gewesen, das abgetrieben werden musste. Ich wurde ein Symbol dafür, wie sie nicht sein wollte. Sicherlich lachten sie und er, das Chor-Arschloch, das neue Paar, das endlich über die schwere Hürde meiner Existenz hinweggekommen war, gerade über mich.
Sie ist nicht interessiert und quengelte herum mit den Händen in ihrer Handtasche kramend. Sie habe was vergessen. Nein, doch nicht. Ihre Stimme nervte, weil sie nerven wollte. Manchmal ist das die letzte Instanz, wenn man anders nicht kommunizieren kann und will. Er wollte nur küssen. Sie sah zu ihm rüber und er starrte grinsend. Wie in einer schlechtgespielten Komödie quiekte sie „Was?“ Er sagte aber nichts. Überfordert in seiner totalen Hingabe, die Denken abschaltet, summte er das bedrohliche Thema von „Der Weiße Hai„. Dabei näherte er sich der blöd Schauenden, um ihr plötzlich raubtierisch einen Kuss zu klauen.
Ich versuchte weiterzulesen und Minuten vergingen. Die beiden begannen zu streiten. Aus dem Nichts beschimpfte sie ihn wild, er sei ein Arschloch, das Letzte. Sie halte es nicht mehr aus, wie sauer er sie manchmal mache. Der Beleidigungsregen ließ seine Augen erstrahlen und aus seinem dümmlichen Lächeln wurde ein Grinsen. Er sagte mit voller Überzeugung: „Du liebst mich! Ich habe vorher noch nie gemerkt, wie gerne du mich eigentlich hast, so wie jetzt gerade.“ Darauf wusste sie keine Antwort mehr und verblieb stumm. Ein schrecklich paradoxer und schöner Moment, der mich fast zu Tränen der Verzweiflung rührte.
Aber nicht ganz, denn dann schweifte ich ab in Rachefantasien: Ich treffe auf meine Liebe mit ihrem neuen Vorschüler und nicke wortlos zum Gruß, nur um ihm plötzlich mit der konzentrierten Wucht meines ganzen aufgestauten Leids ins schiefe Gesicht zu schlagen. Einerseits musste ich dann immer lachen, weil ich weiß, dass ich so etwas nie machen würde und diese Situation sich nie so ergeben würde. Aber die Vorstellung entspannte mich.
Ich schrieb auf irgendeine Klowand: „Könnt ihr verdammten Huren bitte aufhören mir das Herz zu brechen!? Es ist ohnehin nur noch Kies und Staub davon übrig! Mein Feuerzeug entzündet die Gasflamme vorne am Flammenwerfer. Hölle soll den Raum erfüllen und alle schlucken.“
Vielleicht wäre das ein guter Prolog für ein Theaterstück, dachte ich mir. Offensichtlich war ich bereits gestört. Da entschloss ich mich meine Geschichten niederzuschreiben, zu vertonen oder einfach zu erzählen. Immer dann wenn ihr schlaft und alles ruhig ist, werkle ich daran herum. Wie ein Geist.
Onanieren wurde auch zu anstrengend und meist brachte ich nicht zu Ende was ich dahingehend angefangen hatte. Sex ist auch irgendwie schrecklich geworden. Ich begann, mein riesiges, beinahe quadratisches Doppelbett nicht mehr auszufüllen. Ich breitete mich nicht mehr darin aus, sondern kauerte jedes Mal, wenn ich aufwachte, auf der rechten Randseite der Matratze. So als ob ich für irgendjemanden den Platz freihalten würde. Wer oder was könnte es sein? Oder ist es tiefsitzender Hilfeschrei der vereinsamten Seele. Die Regression ins Kindesalter, wie man noch bei den Eltern schlief und um ja nicht zurück ins eigene Bett getragen zu werden, man sich klein und unscheinbar machte.
Da gab es mal ein Mädchen, das mir erzählte: „Ich dachte den ganzen Tag an einen Typen und wünschte mir regelrecht, dass er um die nächste Ecke kommen würde. Und tatsächlich, wem knalle ich direkt an der Straßenecke in die Arme, genau ihm. Er meinte, er habe erstmals einen Umweg genommen, er wüsste auch nicht so genau warum. Das ist Schicksal!“ Und so macht sich jeder immer andere Erklärungen für die tagtäglichen Miniwunder, die wir uns daraus basteln. Wenn man etwas genug will, passiert es auch.
Wünschte sie sich einen Grund, mich nicht mehr zu lieben? Schaffte sie es, mich für sie kaputt zu wünschen? Vielleicht war es die gleiche Geschichte, wie die des Mädchens und dem Mann an der Ecke, nur eben genau umgekehrt. So sagt man sich dann: Das Schicksal wollte, dass wir einander nicht haben. Wir passen nicht zusammen, die Interessen sind nicht gleich. Das ist doch Bullshit!
Sie gibt es wahrscheinlich gar nicht in der Form, wie ich sie mir in den Himmel preise. Ich musste in den Strudel dieses untergehenden Schiffes geraten und wäre fast daran gestorben. Wieso werden Beziehungen zum Wettkampf , in dem man um Dominanz und Macht ringt, wer am längsten dem anderen vorspielen kann emotional investiert zu sein, obwohl alles schon kaputt ist. Wer lügt besser? Ich will nicht mehr, aber zeig es nicht um nicht zu verletzen. Ein Tischtennisspiel des Schmerzes.
Bevor ich jede Hoffnung verlor, fuhr mir ein letztes Mal durch den Kopf. Vielleicht liebt sie mich noch, irgendwie. So wie ich sie? Ich könnte zur ihr rausfahren und versuchen sie zurück zu erobern.
Aber sie will mich nicht . Das wurde mir mit Fatalität klar. Ich wurde verrückt. Ich träumte nächtlich davon, wie sie und er Sex haben. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Erinnert ihr euch noch? Das war der Startschuss für das Rennen, steil abwärts in das Nichts.
Jetzt bin ich allein und sehe niemanden mehr. Andere Leute sind nur emotionale Projektionen meines Verlusts und der Einsamkeit. Ich will auch nicht mehr, keine Connections mehr. Das Klicken fehlte. Ich sah etwas Gutes vor mir, aber konnte es nicht mehr greifen. Dann zog ich mich für immer zurück. Meine mittelschwere Depression durchschritt eine Evolution und wurde zur mich plättenden Stahlpresse. Kleinste Bewegungen auszuführen, wurde zur Qual. Ich schrie schrill und resignierend auf, als ob ich eine Bitte des Teufels nachgeben würde: „Ich will nie wieder alleine sein, nie, nie wieder!“ Ein Gefühl von Wärme stieg in mir hoch bis in meine Haarspitzen.
Und dann wart ihr da, ihr lieben Stimmen.
Dutzende, hunderte. Meine Kumpanen, meine Gesellschaft, ihr werdet mich nie alleine lassen und ich kann euch alles erzählen.
Ausgleich
Das ist ein betrunkener Sicherheitsmann namens Hugo. Er trägt Neonweste und schief sitzendendem Helm. Offensichtlich ein Freund von Obstbränden, das verrät sein hochrotes Gesicht im völligen Ruhezustand. Vor ihm sind zirka 30.000 Fußballfans, die über ihn hinwegsehen, schreien und ihre eigenen Gesichter halten, dass sie nicht davonfliegen. Hugo macht einen Ausfallschritt, den ein Mensch, der einfach nur dasteht, eigentlich nicht machen müssen sollte. Der Medronho in seinem Flachmann ist Geschichte.
Hugo versucht die Leute mit abfälligen Handbewegungen zu beruhigen und setzt sich durch wie Spucke im reissenden Amazonas. Das zweite Tor der Gelben hat aber auch wirklich wehgetan. Auch ihm. Hugo kümmert sich einen Scheiß um Fußball, aber die Roten sind die Mannschaft seiner Stadt. Man bleibt schließlich auch nicht teilnahmslos, wenn die Cousine, die man vielleicht dreimal auf Familienfeiern getroffen hat, plötzlich von einer Klippe zu Tode stürzt.
Die Luft scheint draußen aus dem ganzen Spiel. Einseitiges Bellen und sich windende Menschen in der Fankurve sind ein Indikator. Hugo dreht sich nie um. Eine der wenigen Dinge, bei denen er Integrität beweist. Aber er sieht das auch so. Die Gelben werden gewinnen. Er erkennt mittlerweile am Publikum, an ihren Gesichtszügen und Gestik, was am Spielfeld passiert. Nach 423 Spielen, die er als Sicherheitsmann betreut hat, kann er förmlich an der Atmosphäre im Stadion erkennen, welche Farbe Massimos beschissene Stehfrisur heute hat.
Manchmal schaut er dann das Spiel im Pay-TV nach, um zu checken, was das eine Stirnrunzeln und mysteriöse „Uh“ seiner Meile denn zu bedeuten hatte.
„Die Luft ist draußen“ so wie aus dem linken Lungenflügel von Trainer der Roten. Der Teamchef hatte eine Operation hinter sich und das cholerische, sinnlose Schreien würde ihm nun auch nicht mehr viel bringen. Ein Tor Unterschied ist für die Roten unüberwindbar wie ein Burggraben. Es ist eigenartig, aber sobald die hinten sind, verliert jeder der Spieler sein Herz in den verschwitzten Shorts. Für diese Regel gab es noch nie eine Ausnahme — bis heute.
Einer hat noch Hoffnung, immer. Die halslose Erscheinung des Trainers mit den dicken roten Backen kaschiert fast, dass er nahe dem Sauerstoffmangel gleich umkippen könnte. Die allerkürzeste Kurzatmigkeit seiner kaputten Lunge zeigt immer mehr. Der Chef der Roten wird leicht blau mit leichtem Stich Lila. Hugo richtet seinen Blick zurück in die aggressiv-konzentrierte Kussmünder formende Zuschauermenge.
Hugo spürte seinen Sonnenbrand im Nacken und versuchte wie eine Schildkröte in seine Weste zu kriechen. Dass er „Krebs„geschimpft wurde, selbst von seinen Großeltern, störte ihn wenig, aber Schmerzen hielt er gar nicht aus.
Heute wiegt das Fleischmeer vor Hugos Augen besonders ungehalten. „Ihr wisst doch, dass wir scheiße sind,“ murmelt er mit kurzzeitig zusammengekniffenen Augen in seinen Kragen. 3:4 wird sicher nicht mehr ändern, das lässt auch der Ärger der roten Fanmeile erahnen.
Hugos patentierte Handbewegung bahnt sich an. Sie soll wie jedes Mal mit der leicht rheumatischen T-Rex-Haltung — bedingt durch seinen Medronhorausch — den 1000 Schreihälsen vor ihm signalisieren, doch wieder bisschen ruhiger zu sein. Dieser Move hatte noch nie Resultate erzielt und es ist auch keine Erwartung oder Motivation hinter der sich nun leicht erhebenden Hand. Für Hugo ist das nur eine passive Tradition, an der er nur sehr entfernt beteiligt ist, so wie der Halbzeitpfiff.
Die Hand bleibt abgewinkelt am leicht erhobenen Unterarm hängen, was andere schon als „schwul“ bezeichnet haben. Es ist wohl eher ein neurologisches Problem, das vom Saufen herrührt. Hugo spitzt die Lippen und stößt auf.
Plötzlich Stille.
Warum zum Teufel sind die bunt bemalten Fans, gerade noch geifernd und jaulend, jetzt erstarrt? Eben hat die da noch die Mutter des Schiris aufgrund seiner Abseits-Blindheit mit Geschlechtskrankheiten verwunschen. Die Gäste sowie die lokale Besucher ihres Heimspiels. Einen Blick über die Schulter muss Hugo jetzt wagen, aber nur eine Sekunde. Kurz blitzt ein Spielfeld auf, das eher einem Schachbrett ähnelte in Punkto Dynamik und Bewegung.
Die Stille und die erstarrten Fans lassen Hugos Augenbrauen zu einer perplexen, haarigen Raupe zusammenschrumpeln. Hat die unmotivierte Handbewegung nicht ur die am Zaun rüttelnden Fans zurecht gewiesen, sondern das ganze Stadion?!
Noch nie sind Jubel und der Applaus mit einem Schlag zu Ende gewesen, als ob jemand die Regeln des Spiels neu schreiben würde und alle warten auf die nächste Ansage. Ist jemand gestorben? Ist irgendein Terrorist unterwegs? Es ist anscheinend aus jedem Winkel des Platzes ersichtlich gewesen, was eben passiert ist.
Hugos Funkgerät-Ohrenstöpsel ist still. Die Stadionanlage lässt ein verwirrtes Stottern ausmachen. Die Leute fangen an zu tuscheln, was auch sehr gruselig anschwillt. Hugo fragt über seinen Funk nach Infos. Er soll warten. Gut.
Etwas von einem eigentümlichen Fehler und dass in Kürze diese groteske Begebenheit geklärt werden wird. Was reden die? Sowas hat es doch noch nie gegeben, und eine Technik-Replay-Entscheidung hat noch nie ein ganzes Stadion zum flüstern gebracht!
Aus. Hugo will das jetzt verstehen. Er dreht sich um und spürt den Obstschnaps mit und in ihm um die eigene Achse schwappen. Ali Aliggte zurückhaltend im Kreis und obwohl er gerade einen Freistoß in ein entscheidendes Tor verwandelt hatte, den Präzedenz-Ausgleich.
Alle seine roten Teamkollegen gehen auf Abstand, meiden Augenkontakt und starren keuchend, stehend, hockend, einer sogar liegend auf die Linienrichter. Keine Umarmungen, obwohl jetzt Gleichstand war. 4:4. Wo ist der Spielerhaufen des Triumphs? Die gegnerischen Spieler sitzen fassungslos auf dem Grün im Strafraum und schütteln teils die Köpfe, während der der lungenlose Trainer, Tormann wie Libero mit verzweifelten Gesichtern auf den Schiedsrichter einreden. Nicht typisch laut, spuckend und mit vorgeschobenen Kinns, sondern mehr wie in einem Gespräch mit ihrem Anwalt — in allen ihren Augen strahlt Angst.
Der Unparteiische hört nicht hin. Aus Neugier und von seinen Verpflichtungen dem Spiel gegenüber enthoben schaut ihr über sich. Die Anzeigetafeln sind noch schwarz und flackern. Auch Hugo hat nun kein Problem mehr, dem ebenso auf die Screens starrenden Publikum, den Rücken so überdeutlich zugedreht zu haben. Es gibt schließlich Grenzen der Integrität. Ein verdammtes Wunder vor den Augen von Zehntausenden, zum Beispiel.
In dieser Grabesstille, des noch vor Minuten dröhnend, wummernden Stadions, würde jeder kleine Pfiff unangebracht erscheinen. Heilig still wie in der Weihnachtsmesse, glaubt Hugo in Ruhe sogar die Screens auf helle Übertragung umzuschalten. Was brauchen die so lange mit dem Replay? Das geht doch normalerweise viel schneller, beziehungsweise werden solche eigentlich fast nie gezeigt. Oder sind sie nicht sicher, ob sie es zeigen sollen?
Etwas muss das ganze Stadion zum verstummen gebracht haben, das war klar — deshalb konnte sich niemand denken, sich getäuscht zu haben. Wenn auch der neben dir mit offenem Mund auf eine erklärende Antwort hofft, ist was im Busch. Das ist absurd. Hugo hat es nicht gesehen. Auch einige seiner Kollegen nicht. Sie zucken sich gegenseitig mit den Schultern zu.
Die Stimmung ist derart unheimlich, dass auch der Torschütze langsam seinen Trott verlangsamt und sich verwirrt umsieht. Er wird von tausenden Augen gemustert wie eine Marienerscheinung. Das Eigenartige, er blickt sogar in gewisser Weise schuldbewusst drein.
Nun bewerkstelligt die Technik nach einigen Problemen und offensichtlicher Nervosität im Regieraum doch noch das Replay abzuspielen. Oh Mann. Die 10.000 Besucher des Stadions und der halbe Kontinent sehen abermals den Moment, der Naturgesetze ignoriert und vor allem Physik — neben den Verteidigern — tatenlos links liegen lässt.
Der Freistoß 28 Meter vor dem Tor. Ali visiert kurz an, läuft langsam die ein paar Schritte vor und zieht kräftig durch. Erst schneist sich der Ball zehn Meter Richtung rechte obere Torecke, wie von Tormann und der im Dreieck gleichzeitig springenden Abwehr erwartet. Nur zwei Spieler Barcelonas scheinen eine entfernte Chance auf einen Kopfball zu erkennen, doch sprinten sie zu spät weg. Der Ball verliert an Höhe und kurz nachdem er am ersten gegnerischen Spieler vorbei gezogen ist und dem Abwehrgiganten direkt an die Brust zu steuern scheint, bricht er ab. Das Leder entscheidet sich anders!
Tatsächlich biegt der Ball vor dem zweiten Verteidiger ohne Berührung einfach in einem beinahe rechten Winkel rechts ab, zieht mit einer sich wieder erhöhenden Geschwindigkeit eine weite Linkskurve um den hintersten Spieler. Dann schwebt der UFO-Ball kurz zwischen den leichenblassen Gelben, beschleunigt noch einmal aus dem Nichts und ohne Berührung in Richtung Tornetz. Der ohnehin verwirrte Torhüter zuckt nur und muss machtlos zusehen, wie der besessene — und dabei so geschickte Ball — in der linken unteren Ecke seines Netzes wuchtig drehend zum Halten kommt. Jetzt bekreuzigen sich auch die letzten Skeptiker.
Der Schiedsrichter schüttelt den Kopf, das Tor wird nicht anerkannt. Wenn Lautstärke ein Kippschalter ist, dann hat ihn gerade jemand ordentlich gekickt. Das Stadion ertrinkt in Kreischen und Massenpanik. Hugo hat noch nie etwas dermaßen Lautes gehört. Das jüngste Gericht. Er streckt die Handflächen vor und schaut ungläubig dabei zu, wie der stabile Stahlzaun in Gefahr läuft, durch das Rütteln und der völlig hysterischen Menschenlast verbogen zu werden. Ausnahmezustand, das ist also der passende Umstand zu dem Begriff, auf den ihn die Vorbesprechungen und monatlich aufgefrischten Sicherheitsseminare vorbereiten hätten sollen. Aber bevor der Damm bricht, brechen Scharen von maskierten Spezialeinheiten ins Publikum, flankieren und überrollen sie. Wo kommen die so schnell her?!
Hugo wagt einen kurzen Blick aufs Spielfeld, das bereits von der roten Fanmeile, weiter unten klar durchbrochen, gestürmt wird. Der Schiri wird gejagt von hunderten Roten. Es geht nicht mehr um den Ausgleich, die Tatsache, das es den Roten nie gelingt einen Rückstand aufzuholen oder diese völlig unerwartete Entscheidung, es geht um den Weltuntergang. Der Mann hat ein Wunder entweiht. Oder er erkennt Satan nicht als neuen Herrscher an. Was auch immer. Hugo bekommt einen Schuh an den Kopf und sieht wie sich das Rot der hunderten Mannschaftstrikots mit einem anderen, dunkleren Rot vermischt. Er flieht.
„Gol stregata„, „Das verwunschene Tor“ und schlimmere Namen hört Hugo im Stadion, im Bus und Supermarkt. Die „Unholy Reds“ sind jetzt international bekannt. Online gehen die pixeligen Handyvideos der anderen Kameraperspektiven viral.
Auch das Interview mit Schützen Ali ist legendär. Der geleckte Macho stottert wie eine Kalashnikov, dass er den „scheiß Ball einfach reinmachen wollte„. Er weint bitterlich und seine Erklärungen, mitten im Live-Fernsehen, durchzogen von blasphemischen Flüchen, die Mamas überall und Gott gar nicht gefallen, sorgen sicherlich für den unverzüglichen Ausschluss aus dem Kader.
Nach diesem Tag geht er nie wieder, auch nur in die Nähe, eines Fußballs, sondern arbeitet in einem Kloster als Koch arbeiten bis zu seinem Selbstmord.
Das Terminal hat eine „2“ über der automatischen Schiebetür, groß genug um eine überraschend großen Prozentsatz der Reisegruppe zu erschlagen. Hugo, kratzte sich Schorfbrösel vom Hals.
Der Flughafen ist voll von den ambivalenten ausartenden Neuigkeiten des Spiels gestern. „Das Wunder“ oder „Dein Wille geschehe“ sowie „der Teufel ist gelandet“ küren die Titelblätter. Kultur und Börsenblätter geben ihren thematischen und rücksichtslosen Senf dazu. Pfarrblätter sehen diesen Moment als Vorboten schwachsinnigster Bibel-Outros.
Die Welt weigerte sich für einen Moment in der dämlichen Menschengeschichte zu drehen. König Fußball wird zur Walpurgisnacht Fußball. Die Bilder und Interpretationen, die weite Teile des Kontinents zum Zusammenbruch führen könnten, ist aber Mystizismus oder Wunderdeuterei völlig fern. Fakt ist, die Flugbahn ist klar und kann in keiner sinnvollen Art und Weise erklärt werden. Es macht zu 100% Sicherheit keinen Sinn.
Auf Zeitungen sind voller Berichte von Aufständen, Plünderungen, Ausnahmezuständen und besonders dem blutigen Lynch-Mord am Schiedsrichter. Alles sehr detailiert. Hugo verzieht das Gesicht. Und es zwickt das Gewissen, denn eigentlich besagt sein Lohnzettel „Sicherheitspersonal„. Tja, da konnte wohl keiner mehr helfen. Von Fußballfans zerstückelt. Das will auch keiner wirklich auf dem Grabstein stehen haben.
Wenn man bedenkt, dass das Spiel von der UEFA als komplett ungültig eingestuft wurde, da das Spiel wegen der Ausschreitungen abgebrochen wurde, wird das Gemetzel doppelt sinnlos und tragisch-ironisch.
Ein Endergebnis, das zwar nicht offiziell ist, aber vom zerteilten Schiri so gepfiffen, steht als Überschrift auf fast allen Zeitungen „4:3„. Wie das Fernsehformat bis in die 2000er, denkt sich Hugo. Das Endresultat, das nun ein Land zu Grunde richten droht.
Hugo ist wütend. Sein Hass ist wirr und zielt auf nichts ab, aber wird stärker. Die Mitmenschen sind alle verkommen und gehässige Arschlöcher. Auch die beiden deutschen Mädchen vorhin im Bus, von denen sich eine sehr provokativ und promiskuitiv auf einen anderen Platz setzten, ihm den Rücken zugewandt und jauchzend hüpfend belagerten sie ihre Freundin. Hugo fühlt sich ausgeschlossen. Es gelten doch jetzt offensichtlich neue Regeln, warum ist alles noch wie vorher?! Hugo trinkt noch einen großen Schluck.
Was Menschen im Wahn einem Unschuldigen antaten, das war nicht neu. Alte Regeln eigentlich. Aber er will, wie aus Gram, nun auch zum Märtyrer werden — keiner bestimmten Religion zugehörig. Er war ja schließlich dort dabei, beim Wunder. Wieso ist er immer noch der arme blöde Arsch?
Hugo, der Mann der Security mit der grellen Weste, hat jetzt keinen Glauben mehr an das Konzept von Sicherheit. Was soll das auch heißen? Er hat aus irgendeinem Grund auch aufgehört zu trinken. Sein Land hat er verlassen. Dort, auf seinem geliebten Geburtsort, beginnt das Ende. Und der Ursprung des Ganzen ist eine Lächerlichkeit, bedeutungslos wie Wellen im Wasser nach dem Einschlag eines Steins. Alles droht zu kippen und er will so weit weg wie möglich. Vielleicht kommen die Wellen dann nie bei ihm an.
Die Aktienkurse krachen ins Bodenlose. Brände werden gelegt und fressen die Städte. Das Stadion ist kaputt. Überall marschieren Demos oder Aufstände durch die Straßen, durchmischt, von fundamentalistischen Christen, radikalisierten Islamisten, rechten Hooligans bis hin zur armen Unterschicht, die hier eine Chance wittern, die scheiß Reichen aufzuhängen. Jetzt nach diesem übernatürlichen Fingerzeig, dass sich die Zeiten ändern werden. Ali wollte gewinnen.
Die Roten haben verloren.
Darwin
Die großäugige Schönheit, die ihn stark an Eryka Badhu erinnerte, teilte eine Mango erst einmal der Länge nach in zwei längliche Teile. Bereits da hatte Aaron den Mund offen wie ein Fisch am Mond. Ihr bauchfreies T-Shirt legte die Sicht auf ein Feld von Schweißtröpfchen über dem Bauchnabel frei, das von einem einzeln kleinen rinnenden Ausreißer durchzogen wurde. Aaron begeisterte zudem die Messerfertigkeit und arrogante Routine der Hotel-eigenen Obstkellnerin im leeren Speisesaal.
Er beobachtete fasziniert, wie sie geschickt den Mangokern entfernte, samt dem weißen Zeug darauf, das wie Schimmelpilz aussieht. Der giftige — den Aussagen der ziemlich attraktiven Mango-Professionistin nach — Kernteil verschwand unter der Ablage mit dem weißen Tischtuch darüber, höchstwahrscheinlich in einer unromantischen Biotonne. Da kroch sicherlich schon unbemerkt einiges Getier mitten in dem französischen Nobelhotels. Solche Gedanken drangen selten bis in Aarons Wahrnehmungsbereich, da er auf dieser Welt nur zwei Dinge liebte: junge Frauen und gutes Essen. Bei jener Traumkombination beider Laster, in Form von der Mango-Lady, auch noch direkt in greifbarer Nähe, liefen ihm diverse Gewässer im Mund zusammen. Er war ein Schwein, ein dummes Schwein. Aber nicht zwingend vorsätzlich, denn unreflektiert war er natürlich auch.
Die fingerfertige Schälerin bearbeitete die gehälfteten und ausgeweideten Fruchtfleischschalen nun mit einem kleineren Messer. Sie schnitt eine Art Raster wie das eines Maschendrahtzauns ins saftig-gelbe Innere der Mangohälften. Abgesehen davon, dass es die erste Mango in Aarons jungen Lebens war, hatte er keine Ahnung was sie da anstellte. So ziemlich jedes augenscheinliche Können stellte eine Offenbarung für ihn dar. Wenn es dann noch irgendwie mit Essen zu tun hatte, war er beinahe überfordert. Sein erstes Käsefondue hatte ihn sprach- und einige Minuten tatenlos werden lassen. Eine ungarische Innereien-Suppe, bei deren Zubereitung er zusehen durfte, hatte ihn zum Sinnieren über Gott inspiriert. Und eine Platte Peccorino-Käse, bei der ihm geraten wurde, ein kleinwenig Honig auf sein Stück zu dippen, führte zu außerkörperlichen Zuständen des verwirrten Wohlgefallens. „Du bist nicht der Hellste, Aaron.“ Das hatte er schon oft gehört. Sogar die Oma hatte ihm dieses Mantra jedes Mal beim Bettgehen mitgegeben. Liebevoll und prägend. Es war aufgrund alldem nicht verwunderlich, dass, als die Schälerin die gitterförmig angeschnittene Frucht von Innen nach Außen stülpte, Aarons Kinn am Boden aufschlug. Die grüne Schale war wie ein gelbgezackter Igel geworden, mit dicken köstlichen Stacheln, bereit zum Verzehr. Die attraktive Schälerin überantwortete Aaron die zum Essen optimierte Mango und machte sich sofort an die Arbeit an der nächsten.
Aaron schmatzte die feine Frucht extra laut, wie als Annäherungsversuch und Angebot für leidenschaftlichen Oralsex. Dabei starrte er die „Hotelfruchtbeauftragte“ erwartungsvoll an. Die 29-jährige, zweifache Mutter jobbte im Hotel halbtags. Obwohl sie Aaron weder attraktiv noch anderweitig interessant fand, verschwand sie mit ihm nach dem Frühstück in einem Abstellkämmerchen und hatte innerhalb von 10 Sekunden seinen Penis im Mund. Sie konnte sich das später, als sie nachhause und mit ihrem langjährigen Partner beim Abendessen saß, auch nicht erklären. Sie fühlte sich kurzzeitig sehr mitgenommen, wie im Schock nach einem sexuellem Übergriff, hatte es aber erstaunlicherweise am nächsten Tag bereits wieder vergessen. Wie ein komplett unrealistischer Traum war alles wieder wie weggeblasen. Ha.
Aarons Leiche sah furchtbar aus. Sein Kopf war in drei extrem aufgeschwollene Michelin-Männchen-artige Teile gegliedert. Nicht einmal seine Mutter könne ihn identifizieren, scherzte eine Putzfrau, die gut unterhalten von dem Todesfall nicht gehen wollte. Sie hatte ihn schließlich auch gefunden. Aarons Kopf-Hals-Bereich sah aus wie ein Wespennest in einem Comicheft, aus dem an der Spitze Haare zu Berge standen. Eine Mischung aus grün und blau beherrschte den Hautteint und ließ selbst einen alteingesessenen Sanitäter würgen.
Sein verdrehter Körper lag am Balkon des Hotels. Der Idiot war nun friedlich und das einzige, was die angenehme Stimmung des Luxushotelzimmers störte, war der Geruch von Erbrochenem in der Luft. Einer der Polizeibeamten meinte, dass der Geruch von der halb gegessenen, halb verfaulten Papaya in der Obstschüssel stamme. Die riechen nämlich nach Kotze, murmelte er träge mit einer bis an den Filter abgebrannten Zigarette im Mund.
Aaron dürfte erst seit wenigen Stunden tot sein, da im Hotelzimmer der Fernseher, mit der Zeitschaltung für Off-Betrieb, noch immer lief. Kurz nach seinem Verdauungsfellatio — die Erinnerung daran hatte er mit ins Grab genommen — war Aaron einer tödlichen allergischen Reaktion zum Opfer gefallen. Spätere Untersuchungen und die Obduktion schlossen Papayas als Allergieauslöser aus. Schalentiere waren Schuld gewesen, wahrscheinlich Hummer. Aber Aaron, der von Kollegen immer wieder „Schwanz im Glück“ genannt worden war, hatte in seinem Leben noch nie Hummer gegessen. Ein Mysterium, von dem die Beamten nicht wussten und auch keine Möglichkeit hatten, es jemand zu erfahren. Komisch war jedoch auch, dass trotz der definitiven allergischen Reaktion darauf, kein Stück Schalentier in seinem Körper zu finden war. Eine Mango war in seinem Magen, aber sonst nichts außer Reste des Abendessens tags zuvor. Wen interessiert das schon?! Dinge, die man nicht erklären kann, sind schneller vergessen als Empörung über Celebritys. Keiner streitet lange über das Ungewisse — außer vielleicht Religionen. Aber da sind sich die Leute auf ihren jeweiligen Fronten auch immer ziemlich sicher, die allgemein-gültige Erklärung zu haben. Wahrheit gibt es ja nicht, nur Meinungen, weshalb bei Absurdität geschwiegen wird. Alle bleiben bei dem, was sie kennen und was wirklich wichtig ist: Egoismus, Ficken und das letzte Wort. Das funktioniert und ist nie von Dauer.
Aaron bekam immer alles, was er wollte. Das ist keine Übertreibung sondern eine verdammte Ungerechtigkeit. Die Blöden haben das Glück, heißt es doch. Die Blöden ist bei diesem Spruch vielleicht durch „Arschlöcher “ ersetzbar. Die kriegen bekommen auch oft alles und nur selten, was sie eigentlich verdient hätten. Aaron war aber per se kein Arschloch, sondern nur im Endeffekt. So wie ständiger Erfolg von Leuten irgendwann eine Abneigung bei anderen hervorruft, so war das auch bei Aaron. Die ignorante und unbemühte Leichtigkeit seines Glücks brachte die Leute zum Kotzen. Er lebte in seiner Blase und registrierte weder Neid, Hass und Abscheu der anderen, obwohl es ihm tagtäglich ins Gesicht donnerte. Ein Arschloch, das nicht weiß, dass es eines ist. Das trifft es wohl am besten.
Es erschien mehr als irritierend. Aarons Erfolg in wirklich allen Lebensbereichen resultierte nämlich nicht daraus, dass er so zielstrebig oder fleißig gewesen wäre. Es schien eher wie bei einem privilegierten, letztgeborenem Kind abzulaufen, und ihm wurde jeder kleine Wunsch von den Augen abgelesen und sofort erfüllt. In Wirklichkeit stammte er er aus uninteressanten Verhältnissen des sozialen Mittelstands. Seine Eltern, die nicht gerne über ihn sprachen, hatten ihn nicht einmal wirklich aufgezogen, sondern einfach gewähren lassen. Sie mochten ihn nicht. Wie der anstrengend betrunkene Raufbold, den man um vier Uhr morgens ignoriert, um Konfrontation zu vermeiden, pflügte er sich seinen Weg durch die Kindheit und Pubertät, ohne Gegenwehr. Er fraß und nahm sich alles. Er forderte dümmlich grinsend Dinge ein und niemand schlug sie ihm ab. Er wurde nie dick und nie gescheiter.
Aaron war der Typ, dem man in der Schule Kugelschreiber lieh, weil er nie irgendwas zum Schreiben dabei hatte. Dann kaute er ekelhaft darauf herum und gab nie irgendetwas zurück. Niemand wollte jemals etwas von ihm und alle gaben ihm alles, was er wollte. Man konnte ihm auch nicht böse sein. Leute wussten, nachdem sie auf Aaron trafen, Eigentum und Geliebte an ihn verloren, oft nicht mehr genau, warum sie überhaupt hassten. Was war das für ein Mensch? War es Zauber oder Tricks?
Aarons Vater distanzierte sich sein ganzes Leben von seinem Sohn, bis auf die finanzielle Unterstützung. Jede Form von Geld schaufelte er Aaron in den Rachen, bot ihm ein Fundament aus Privilegien, die er selbst nicht hatte. Er sorgte brav um Aarons Wohl — mit großem Abstand und ohne einen Funken Zuneigung für den Nachwuchs. Der Vater hatte tatsächlich Angst vor Aaron. Er wusch seine Hände in Unschuld, warf Geld in die Richtung des Sohns und erkaufte sich damit die Erlaubnis, sich nicht für ihn zu interessieren. Dem Sohn Selbständigkeit zu zeigen, hielt er für völlig unnötig. Er wusste, Aaron würde es niemals an etwas fehlen, egal was er tun oder nicht tun würde. Eine leitende Hand wäre wohl abgebissen worden. Aaron würde auch nie einen aufrechten, moralischen Kompass entwickeln, geschweige denn bereit sein, einen solchen anzunehmen. Das alles hatte der Vater oft und ernst angemerkt. Er half seinem Sprössling auch nie mit einem Job aus, vermittelte nicht auf bessere Schulen, förderte ihn in keiner Weise — bis auf den Geldrückhalt. Letzteres führte dazu, dass die Mutter den Vater verließ, als Aaron mit 17 in die Welt hinauszog. Der Vater achtete manisch und neurotisch genau darauf, dass Aarons Konto immer prall gefüllt war. Dabei verlor der Vater auch bald sein Wohnung, Arbeit und letztlich das Leben, als er beim Versuch, in einer Tankstelle Geld zu stehlen, erschossen wurde. Der Vater hatte immer ernst von seinem Sohn gesprochen, nie mit Liebe. Warum er bis zum Tode, dessen Lebensunterhalt auszahlte, wusste niemand zu beantworten.
Was will ein naiver Soziopath wie Aaron vom Leben, neben Sex und guten Essen? Nicht viel. Aaron liebäugelte mit Ruhm, vielleicht in Form einer Tätigkeit, die das Ego streichelt und einen dabei bekannt macht — so etwas wie Star-Schauspieler. Und nach dem Tod des Vaters, hatte Aaron seine dümmliche Version des Verlangens nach Führung, Macht und Einfluss, nach einer geldproduzierenden Chef-Position. Beides flog diesem Blatt im Wind einfach zu. Mit Anfang 20 besaß Aaron bereits — über leicht kriminelle Umwege an ihn geratene — Anteile an einer ominösen Firma, die als Geldwaschmaschine mit mehrstöckigen Bürogebäude fungierte. Keiner, nicht einmal Aaron wusste was sie eigentlich taten. Aber das war OK, weil Aaron eher wenig und wenn, dann resultatorientiert dachte. Konzepte gesellschaftlicher oder sozialer Verantwortung waren ihm sowieso fremd. Aaron war letztlich nicht böse. Das war nicht sein Problem. Er war Egomane und auch grausam, aber immer mit dem breitesten Lächeln der Ausgeglichenheit. Er hatte lediglich zwei Ebenen der Wahrnehmung auf Außeneinwirkungen: „Was bedeutet das für mich? Und was kann ich von dieser Person, die nicht ich bin, wollen?“
Und wenn Aaron gerade kriechende Mitarbeiter mit Unwissenheit und Inkompetenz terrorisierte, frönte er einer Teilzeitkarriere als Theaterschauspieler. Ein offensichtlich als verrückt zu diagnostizierender Intendant „entdeckte“ Aaron nach einer Vorstellung in der Kellerbar des Theaters. Der charakterlose Aaron, ein geschenktes Kartenabo eines unterwürfigen Assistenten aus der Arbeit einlösend, dachte sich beim Thespisabend bereits, dass jenes affektiertes Brabbeln auf den Bretter doch sicher lustig wäre, selber einmal auszuprobieren.
Er war der schlechteste Schauspieler aller Zeiten, seine Darbietungen hatten nicht den Anflug von Körper- oder Sprachgefühl. Selbst dem antikulturellsten Eliten-Hasser trieb Aarons Spiel übelriechende Tränen in die Augen. Er war gestelzt und zu locker zur gleichen Zeit, Sätze wurden falsch betont — in einer Art und Weis, die unmöglich zu sein schienen. Das Ensemble ergriff die Flucht und der Regisseur beging Selbstmord. Aaron fühlte sich als Anarcho-Künstler und war zufrieden. Auf zum nächsten Abenteuer.
Jenes Leben der Sonderklasse passierte Aaron einfach und für ihn war das keineswegs etwas Außergewöhnliches. Er verstand die hasserfüllten Blicke des Neids nicht, sie waren Teil des Ganzens, schon immer. Er bekam mehr Morddrohungen per Post als Reklame. Er konnte Leute bis zur Manie zum Lachen bringen und seinen Feinden brachte er Pech. Das klingt jetzt esoterisch oder irre, aber es war die Wahrheit. Er hatte eine Affäre mit der Frau eines Arbeitskollegen und als er das Interesse verlor, zeitgleich wie auch die verwirrte Gespielin selbst. Sie kehrte zurück zu ihrem Mann. Aarons Kollege entschied sich tatsächlich, ihr alles zu verzeihen und sie zogen glücklich ins Ausland.
Aaron hörte aus dritter Hand, dass die Frau nun glücklicher denn je sei. Das kränkte Aaron und er wusste nicht warum. Ihn hatte noch nie etwas gestört. Vielleicht war es die Vorstellung einer ihm unbekannten Freude. Der Typ, dessen Frau er für Monate gefickt hatte, litt dann aus heiterem Himmel an psychosomatischer Impotenz. Vom selben Tag an, als Aaron seinen kindlichen neidischen Gram auf den Mann konzentrierte, kam bei dem kein Ständer mehr zu Stande. Keiner dachte natürlich an Aarons dämonischen Einfluss und eine Überseekastration, warum auch? Tausende Kilometer entfernt hatte jemand Erektionsstörungen — wo ist die Verbindung? Nur die Frau, die noch blasse Erinnerungen aus ihrer kurzen Beziehung zu dem unheimlichen Aaron hatte, vermutete manchmal etwas.
Wenn Aaron nicht gerade im Vorbeigehen menschliche Existenzen zerstörte, brachte er sich innerhalb weniger Woche Instrumente bei und ein Monat verbrachte er sogar als Bratschist in einem anerkannten Orchester.
Nach einer intensiven Woche voller Weed, Easy Rider und Trials, einem Videospiel über Motocross, entschied sich Aaron einfach, professionell Dirtbike zu fahren. Eine völlig hirnrissige Idee, aber ohne Erfahrung und Übung gewann er drei Wochen später den dritten Platz eines Rennens und zog den Hass einer ganzen Extremsport-Community auf sich. Aber Ablehnung und böse Blicke prallten an Aaron ab wie Gewehrsalven auf Supermans Steißbein.
Aarons Charakter war wie eine Lava-Lampe. Wenn man kurz wo anders hinsah und dann zurück, war diese Person plötzlich komplett anders konstruiert. Als ob er in Serien, Filmen und Videospielen, etwas aufschnappte, das er sein wollte und es dann plötzlich in sein Wesen aufnehmen konnte. Ein Mensch, bestehend aus Stereotypen, Vorurteilen und Punchlines, wirkte dementsprechend lachhaft auf andere. Aber wenn Aaron jemanden mochte beziehungsweise die Anerkennung und Freundschaft einer Person suchte, bekam er sie. Manche seiner engsten Freunde wissen heute nichts mehr aus den Zeiten, die sie mit Aaron verbrachten. Es ist alles wie ein Nebel aus unfreiwilligen Emotionen. Einer von Aarons besten Freunden bezeichnete ihn nach als „Frankensteins Mongo“. Vor einigen Jahren hatten die beiden zeitgleich an ihrer Freundschaft die Lust verloren.
Aarons Firma hatte einen prominenten Praktikanten, Assistenten und späteren CEO, der ganz zufällig auch Aarons Bruder war. Der hieß Archil und war liebenswerter als eine Kaugummi-kauende Südstaatenkellnerin und doppelt so tüchtig. Er glich die Aura des Abscheus und der Verachtung, die Aaron unbewusst um sich kultivierte, komplett aus. Als liebenswerter Blutsverwandter hielt er als einziger das creepy Halblächeln seines Bruders aus, den alle fürchteten wie einen seelenlosen Nazi-Roboter.
Man konnte die Beziehung der beiden nicht als herzlich bezeichnen, da Aaron eben anders funktionierte. Aaron verlangte von seinem Assistenten und Bruder unvorhersehbare Dinge. Da war diese asiatische Frau, die Aaron eben in einem Online Pop-Up gesehen hatte, und darauf bestand zu treffen. Solche Wünsche fielen ständig: „Ich will dieses Mountain Bike.“ „Ich brauche einen Ginseng-Einlauf.“ „Ich bestehe auf weniger Schweiß auf meinem Hemd.“ Unsere unfaire beschissene Welt bog sich nach seinem Willen und Träumen. Unbeschreiblich wie ein adretter, gut gekleideter Schwachkopf so viel Unheil verbreiten konnte. Durch Interesse, Neugierde oder tollpatschige Übernahme eines Gesprächs wurden manchmal ganze Leben, Freundschaften, körperliche Eigenschaften verändert. Wie ein unheiliger Gott entkam er jeder sozialen Interaktion, die er nicht mochte. Keiner merkte wirklich, dass da anormale, übernatürliche Scheiße ablief, oder keiner traute sich was zu sagen, bis auf Archil.
Aaron bearbeitete einen seiner Mitarbeiter, den er wie Spielzeug an der unsichtbaren Leine zog, mit eigenartigen Angebereien. Archil konnte nicht mehr mitansehen, wie sein kleiner Bruder, eine Person mit der gebündelten Faszination seiner Lebensgeschichten und naiver Überlegenheit quälte. Der Mitarbeiter grinste ständig und nickte. Innerlich zerfrass ihn etwas und er fühlte sich dem Selbstmord nahe. Das Schlimmste war, dass Aaron nicht lügen musste, um anzugeben.
Archil blieb lange stumm und erschrak dann bei seinem plötzlichen Einwurf: „Immer das zu bekommen, was man will, ist ungesund.“
„Willst du sagen, ich bin gierig? Finde ich nicht.“ ging Aaron direkt auf seinen Bruder ein. Der arme Bürosklave wand sich aus dem Schussfeld. Archil ging nicht ein auf diese Fangfrage:
„Ich habe bemerkt, dass du dich entmenschlichst und dass dich dein endloses Glück vielleicht unglücklich macht.“
„Fick dich, Archil.“
„Die Tatsache, dass deine Träume immer in Erfüllung gehen, erzeugt doch ein Ungleichgewicht. Auf was kannst du denn noch hoffen?“ Aaron überlegte ein wenig. „Es gibt so vieles, was ich noch nicht kenne. Was ich noch nicht habe…Was ist gerade, Ostern, oder? Glaubst du irgendjemand, ein Volk der fernen Zukunft oder so, wird den zweiten Weltkrieg feiern wie Christen Ostern? So mit geschmückten Eiern, Festessen und Kalbsgulasch. Familien kommen zusammen und schlagen sich den Bauch voll. Da sind schließlich viel mehr Juden gestorben als nur der eine damals.“
Für Archil war es manchmal verflucht schwierig diesen in seiner Einfältigkeit komplexen Bruder zu verstehen. Waren seine Worte überlegt oder verdreht? Er musste an den Vater denken, der sich in Bezug auf Aaron mehr als nur einmal ähnlich wirr geäußert hatte.
„Ich habe nie einen tot gewünscht, nie, keinen … nicht einmal mich selbst“ flüsterte Aaron leise. Aaron schnieft ein wenig und spielt kindlich mit einem Tischbeschwerer.
Archils Ängste pochten in ihm. Dann lehnte er sich vor verstellte seine Buchhalterstimme und klang plötzlich wie ein Märchenonkel.
„Ein Freund von mir in der Schule konnte was Tolles. Der konnte seinen Schluckauf, sollte er gerade einen haben, durch pure Willenskraft und Körperspannung wegmachen. Er verkrampfte sich dabei, beulte den Rücken aus, stöhnte durch die Zähne bis er blau wurde, krümmte sich immer mehr und dann plötzlich… der Schluckauf war weg. Wobei, ich habe das nur einmal miterlebt. Und da hat es nicht funktionierte. Fast wäre er erstickt. Das liegt wohl am Vorführeffekt, vor Leuten klappt sowas nie. Ich glaube ihm aber, dass er das konnte. Manche können das… Ich wünschte ich könnte auf diese Art oder irgendeine andere meine schlechte Laune bekämpfen, Anspannung lösen, Verzweiflung verschwinden lassen. Das wär doch cool.“
Aaron verzog das Gesicht und starrte idiotisch ins Nichts: „Ich möchte nicht ersticken, echt nicht, das ist mein absolutes Horrorszenario. Und schon gar nicht, weil man die Luft anhält wegen einem Schluckauf.“
Archil gluckste auf: „Ja, das wäre dann ein Anwärter für die Darwin Awards?“
„Die was?“
„Die dümmsten Tode der Welt. Leute, die als Gag an elektrische Zäune pissen oder über fahrende Autos springen versuchen, die bekommen nach ihrem komplett voraussehbaren Ableben einen Darwin Award, weil sie sich selber aus dem evolutionären Spiel und menschlichen Gen-Pool genommen haben. Gemein, oder!“ Aaron hingegen schlitzte seine Augen und legte den Kopf leicht verwirrt in den Nacken.
„Das verstehe ich nicht, warum haben die für so etwas Awards? Da kann man doch gar nichts gewinnen.“
Archil grinste und schüttelte den Kopf. sein Bruder machte ihm Sorgen. Archil hatte einem Typen in der U-Bahn einmal dabei zugesehen, wie der vor einem Info-Plakat in der U-Bahn stand und plötzlich interessiert ein Notizheft hervorholte. Er hatte sich die Nummer oder Adresse einer Frauen-Selbsthilfegruppe von dem Plakat abgeschrieben. In dem Gesicht des creepy Typen hatte Archil keine Spur einer Gefühlsregung gefunden, nur den Ausdruck von reinem Kalkül. Genau in so einem Licht sah Archil seinen Bruder Aaron manchmal, und immer öfter.
„Es ist doch eigentlich egal, was ich mache, was ich will, wen ich verletze, wie ich lebe, ich bin doch einfach nur ein weiteres Arschloch, das irgendwann stirbt, wie alle anderen, nichts zurücklässt als Erleichterung und bisschen Verachtung. Wenn man mit dem Finger von der fremden Schokotorte kostet, dann kann man auch gleich eine ganze Handvoll nehmen. Das schlechte Gewissen, die Schuld wird irgendwann mit mir tot sein.“
„Lass mich raten, du willst nicht sterben?“ Archil nippte am alten Whiskey, den der Bruder eingeschenkt hatte, und verzog reflexartig den Mund zu einem ätherischen Grinsen. Aaron blickte voller Angst ins Nichts.
„Es geht leider nicht darum, was ich nicht will.“
Natürlich wusste niemand, warum Aaron Jahre später auf dem Hotel-Balkon einfach tot umkippte. Die Beamten wussten es nicht, die Putzfrau nicht und die Mangoschälerin wusste sowieso gar nichts mehr von ihm. Er hatte ihr die Erinngerung erspart. Das war Aaron zum Ende hin immer wichtiger geworden. Archil hatte er lange nicht mehr gesehen, er wollte reisen und hatte nicht mehr aufgehört damit. In Frankreich, in diesem Hotel, immer noch auf Urlaub, kam er zur Ruhe. Die Polizeiakte wurde geschlossen, der Mann sei erstickt, allergische Reaktion, exotische Früchte, passt schon. Aber genau wusste es eben niemand. Ansonsten hätte Aaron wohl einen Darwin Award dafür abgestaubt. Sofern es logisch und nachvollziehbar für die Juroren zu rekonstruieren wäre, was unmöglich ist.
Hätten die Polizeibeamten etwas genauer das Hotelzimmer untersucht, vor allem das Hotel-Fernsehprogramm, wären sie auf einen eigenartigen Zufall gestoßen. Zum Zeitpunkt des Todes, lief gerade eine Kochshow mit dem Schwerpunkt Krustentiere — und die Folge handelte ausschließlich von Hummerrezepten. Aaron, der sein Leben lang alles aus Fortunas Füllhorn vorgesetzt bekommen hatte, war gestorben aufgrund einer akuten und schwerallergischen Reaktion auf solche Schalentiere. Er hatte davor noch nie Hummer probiert und die Obduktion wies auch keine Nahrungsmittelreste, im Mund- oder Rachenbereich nach — geschweige denn einen Fetzen an Hummerfleisch.
Aaron bekam alles, was er wollte — aber über Dinge, die er nicht wollte, hatte er keine Macht. Die leckere Ironie ergibt sich aus Aarons allerletztem bestimmten Gedanke, kurz vor seinem Ableben: „Ich will wissen, wie Hummer schmeckt.“